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(c) Pester Lloyd / 45 - 2016    POLITIK     08.11.2016

Machtkampf im rechten Lager: Verfassungsänderung in Ungarn vorerst gescheitert

Ungarns Premier Orbán musste am Dienstag - ziemlich konstaniert - eine schwere Schlappe im Parlament einstecken. Seine geplante Verfassungsänderung, eine "überparteiliche Frage der nationalen Sicherheit" zur Abwehr angeblicher Massenansiedlungspläne von Flüchtlingen seitens der EU, scheiterte an der erforderlichen qualifizierten Zweidrittelmehrheit. Die neonazistische Jobbik verweigerte die Gefolgschaft und schraubt den Preis für ihre Zustimmung nach oben. Das Orbán-Lager ist entsetzt. UPDATE: War die Niederlage ein Orbán-Coup zur Einleitung von vorgezogenen Neuwahlen?

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Die Regierungsfraktion aus Fidesz-KDNP hat nach einigen Nachwahlen keine 2/3-Mehrheit mehr, es hätte also zwei Stimmen aus dem Oppositionslager bedurft. Diese sollten ursprünglich von der neonazistischen Jobbik kommen, die bei anderen Gelegenheiten bereits mit der Regierung gestimmt hatte. Diesmal forderte Jobbik jedoch ultimativ die Abschaffung eines Gesetzes, mit dem Ungarn EU-Visa gegen den Kauf von Staatsanleihen vergibt (über Off-Shore-Firmen, hier mehr dazu). Fidesz hatte zunächst angekündigt, dies aufgeben zu wollen, freilich nicht, weil man sich von Jobbik erpressen lasse, sondern weil es zur Finanzierung der Staatsschulden nicht mehr nötig sei.

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Gestern kündigte Fidesz-Fraktionschef Kósa überraschend an, die Abstimmung darüber aber nicht, wie von Jobbik gefordert, vor der Abstimmung zur Verfassungsänderung vorzunehmen, sondern zu einem späteren Zeitpunkt. Man habe keinen Grund, die Agenda zu ändern, so Kósa. Wirtschaftsminister Varga deutete sogar an, gar nicht auf das Schema verzichten zu wollen oder es maximal von Staatsanleihen auf allgemeine Investitionen abzuändern.

Daher entzog Jobbik, das sich verschaukelt vorkam, der Vorlage die Unterstützung, es fehlten dann genau die zwei Stimmen. Nur drei Abgeordnete der Opposition stimmten mit Nein (der Chef der Liberalen und zwei Unabhängige), die 65 anderen ließen die Abstimmungsgeräte unberührt (siehe Foto). Anschließend kam es zu Tumulten im Plenarsaal, Fidesz-Politiker beschimpften Jobbik und die anderen Oppositionsparteien unflätigst als Vaterlandsverräter, denen "die Sicherheit der ungarischen Mädchen" sowie die Meinung von 3,3 Millionen Ungarn (jene die im Referendum für die Regierungsvorlage stimmten) am Allerwertesten vorbeigehe etc.

Die Abstimmungsniederlage ist ein weiterer, wenn auch nur symbolischer Autoritätsverlust für Viktor Orbán, nachdem er sich und seinem Land bereits die wegen der zu geringen Wahlbeteiligung
ungültige Volksabstimmung schön bzw. gültig zu reden  versuchte. Jobbik hingegen lässt derzeit die Muskeln spielen, immerhin ist man die zweitstärkste politische Kraft im Lande und zeigt Ambitionen, Fidesz die Alleinherrschaft 2018 zu entreißen. Die letzten Umfrageergebnisse legen nahe, dass Jobbik dafür noch eine Schippe zulegen muss.

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Fidesz, dem die Stärke Jobbiks als Neutralisator von Proteststimmen (die so dem linken Lager entgingen) zunächst ganz dienlich war, folgte in den letzten zwei Jahren in vielen Politikfeldern den Forderungen Jobbiks, vor allem mit Law-and-Order-Gesetzen gegen Flüchtlinge (
ihre praktische Entrechtung), im Strafrecht, beim Zaunbau oder beim Aufbau einer Nationalgarde nach dem Vorbild der Horthy-Milizen sowie der Militarisierung der Gesellschaft bis in die Schulen, jedoch auch in der rhetorischen Martialik und im sich überbietenden Nationalismus zog man mit Jobbik gleich, ja überholte diese des öfteren bereits rechts. Das Ziel war, die Anhänger der Jobbik auf Fidesz-Seite zu ziehen, was aber nicht oder kaum gelang.

Jobbik verfolgt eine clevere Strategie, indem es sich nach außen verbürgerlicht und sanftere Töne anschlägt, was plötzlich die Orbán-Partei als radikaler dastehen lässt. Jobbik zielt auch auf die Korruptionsskandale in der Regierungspartei, vor allem den
Landraub, um den Nachweis des mangelnden Patriotismus bei Fidesz zu erbringen. Fidesz versucht derzeit verschiedentliche Verbindungen von Jobbik-Funktionären nach Moskau bis hinein in dortige Geheimdienstkreise nachzuweisen, um die Fremdsteuerung der Partei zu belegen.

 

Klar ist, dass Orbán seine Verfassungsänderung auf jeden Fall durchbringen will, auch wenn zunächst eine Trotzpause mit den üblichen rechthaberisch-patriotisch aufgemotzten Statements zu erwarten ist. Er muss das nun so anstellen, dass die Jobbik-Forderungen erfüllt werden, ohne dass es danach aussieht, er sei eingeknickt.

Jobbik deutete bereits an, bei einer erneuten Abstimmung für die Verfassungsänderung zu stimmen, sollten die Forderungen dann erfüllt sein. Eine zweite Option wäre, im Lager der heterogenen Linken bzw. der undefinierbaren und mitunter wankelmütigen "Grünen" von LMP nach Unterstützern zu suchen, auch hier müsste natürlich ein politischer Preis zu bezahlen sein, doch bekanntermaßen gibt es auf der Seite der Linken einige besonders billige Kandidaten...

Doch das war noch nicht alles. Andere Oppositionelle (von links bis ultrarechts) entrollten am Dienstag ein Transparent (siehe Foto oben, MTI), dass Orbán in die Nähe der Finanzierung von Terrorhelfern rückte. "Landesverrat ist es, Terroristen Geld zu geben". Dabei geht es um den schillernden Fall des von den USA als Terrorhelfer gesuchten Finanziers Pharaon, zu dem Sie
hier mehr lesen können. Jobbik will nun auch diesen “Fall geklärt” haben, stellt Orbán also eine weitere Bedingungen, die heikel zu erfüllen ist, denn ist die Familie des Großen Vorsitzenden mutmaßlich persönlich in den Deal verwickelt.

UPDATE: Zwei Ohrfeigen in einem Monat: Erste Reaktionen auf Orbáns Abstimmungsniederlage

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Fidesz-Fraktionschef Kósa erklärte kurz nach der gescheiterten Abstimmung, dass "Ungarn, bei seinen überlebenswichtigen Kämpfen nur auf Fidesz und KDNP zählen" könne. Jobbik und die Sozialisten würden das "Volk verraten" und "getäuscht". Die grün-konservative LMP verwahrt sich gegen Vorwürfe, "jene, die nicht in die Fidesz-Falle tapsen, würden das Land verraten". Man sei dagegen, weil man nicht einer Show zustimme, die keines der Probleme mit den Flüchtlingen löse. Die DK von Ex-Premier Gyurcsány freute sich, dass Orbán "binnen eines Monats zwei Ohrfeigen" bekommen habe. Er habe versucht "ohne die nötige Autorisierung die Verfassung zu ändern und ist damit gescheitert." Die Kleinpartei Együtt forderte Orbán auf, "sich nun endlich um die wirklichen Probleme des Landes zu kümmern", er solle "aufhören, das Land zu spalten und seine Hasskampagne fortzuführen und sich um die tragische Situtation im Bildungs- und Gesundheitssektor bemühen". Jobbik erneuerte sein Angebot, die Verfassungsänderung zu unterstützen, wenn Orbán bis dahin das Visa-gegen-Staatsanleihen-Schema kippt und die Sache mit den Pharaon-Deals aufklärt.

UPDATE: War die Niederlage ein Orbán-Coup zur Einleitung von vorgezogenen Neuwahlen?

Auf den Parlamentsgängen rumort es derweilen. Wie uns Insider berichten, kursiert die Theorie, dass Orbán bewusst riskiert hat, ja sich gewünscht hat, dass die Abstimmung scheitert, um den Weg in Richtung vorgezogener Neuwahlen zu bereiten und entsprechend begründen zu können. Es hieße dann, dass das Volk, dessen Wille von den dezeitigen Volksvertretern offensichtlich nicht adäquat vertreten werde, sich neu äußern solle. Das Ganze würde mit einer neuen existentiellen Überlebens-Kampagne verknüpft, nach dem Motto, nur mit Fidesz seid ihr auf der sicheren Seite etc... Orbán könnte die Gunst der Stunde nutzen, denn die Umfragen waren lange nicht mehr so gut wie derzeit, es würden ihn heute sogar mehr Menschen wählen als 2014 und 2010...

red.

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