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(c) Pester Lloyd / 49 - 2016    BILDUNG     07.12.2016

Durchgefallen: PISA stellt Ungarns Bildungspolitik ein miserables Zeugnis aus

Es ist nur wenige Tage her, da lobte die ungarische Regierung ihre Bildungspolitik, speziell jene der Pflichtschulen, über den grünen Klee. Es gäbe weder Probleme noch Mängel. Die aktuellen PISA-Ergebnisse sprechen von einem "dramatischen Negativtrend" in praktisch allen Leistungsbereichen ungarischer Schüler im Alter von 15 Jahren. Orbáns Politik versagt sogar unter den inhumanen Normen neoliberalen Funktionalitätsdenkens.

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Wappen, Kreuz und Frontalunterricht. Attribute des 19. Jahrhunderts in Ungarns Schulen des 21. Jahrhunderts.

Wie in praktisch allen Lebensbereichen, griff die von Premier Orbán geführte Fidesz-Regierung seit 2010 auch massiv in den Bildungssektor ein. Die strategische Wichtigkeit der möglichst frühen Lenkung der jungen Generation - sowohl als ideologische Zielstellung wie aus ökonomischer Notwendigkeit - erkannte man und handelte entsprechend - bzw. griff im Übereifer entsprechend daneben.

 

Die kommunal geführten Schulen wurden zwangsweise verstaatlicht, ein auf Kadavergehorsam ausgerichtetes "Karrieremodell" für die Lehrer, nach dem Motto "Gehorch oder geh!", wurde ebenso installiert wie ein völkisch-nationalistisch triefender Lehrplan mit ebensolchen Schulbüchern, samt Klerikalisierung und Militarisierung zum Standard erhoben. Bei den Lehrern herrscht ein Gefühl der Angst, Denunziationen, Obrigkeitshörigkeit bestimmen die Arbeitsatmosphäre. Die Lehrergewerkschaften sind praktisch ausgesperrt bzw. zerschlagen worden. Proteste erstickt man so im Keim.

Das organisatorisch völlig überforderte Schuldezernat KLIK ist und bleibt ein
finanzielles Fass ohne Boden, Regierungskommissare auf regionaler Ebene überwachen das System ideologischer Folgsamkeit akribisch, während Schulbücher zu spät erscheinen, es manchmal an einfachsten Lehrmaterialien mangelt und zigtausende Romakinder nicht nur systematisch (nur zu ihrem Besten,natürlich) von den "weißen Ungarn" abgesondert werden, sondern tagtäglich hungernd zur Schule erscheinen.

Fremdsprachen, lebensnahe, weltoffene Themen wurden Jahr um Jahr zurückgedrängt, dafür bombardiert man die Schüler über einen "nationalen Lehrplan" mit historisierendem Magyarenkitsch, Opfermythen und Revisionismus, lässt sie allungarische Hymnen singen, "nationales Brot" backen, Fahnenapelle abhalten wie unter Kádár, an Waffen trainieren. Die Formung einer billigen und durch ihre Limitierung lokal gebundenen "Workforce" hat Vorrang vor universeller Ausbildung.

Eine besondere Rolle kommt den Kirchen als Schulträger zu, als Teil der
Klerikalisierung der Gesellschaft. Der Anteil jener Pflichtschüler, die auf klerikal geführte Einrichtungen gehen, ist von 2001 bis 2011 langsam, aber stetig gewachsen, seitdem jedoch sprunghaft. Heute besuchen bereits 168.000 Grundschüler in Ungarn, jeder vierte, eine kirchlich getragene Einrichtung. Waren die kirchlichen Schulen früher vor allem mit der Förderung sozial schwacher Schüler befasst (Roma), formen sie heute zunehmend die Eliten und beteiligen sich so an der sozialen Fragmentierung im Bildungsbereich.

Die ständestaatliche Zielsetzung der Orbánschen Bildungspolitik setzt sich auch in der Hochschulpolitk fort,
was ein Thema für sich ist. Im Grunde sollen die Pflichtschulen, so kommunizerte es das Ministerium für "Humanressourcen" ganz offenherzig, die Schüler direkt von der Schulbank in die sogenannte "duale Ausbildung", also von Produktionsbetrieben mitbetriebene Berufsausbildungen liefern, um diese möglichst umstandslos an die Fließbänder zu schicken. Luftschlössern wie höhere, humanistische Studien, Horte liberalen Denkens also, macht man gezielt den Garaus. Selbst das Abitur gilt schon als unnötiger Luxus. Mehr dazu hier: Masterplan Volksverdummung? Studie entlarvt Orbáns "Bildungsreform für Ungarn" als ideologisches Gaunerstück

Die aktuelle PISA-Studie stellt dieser Politik nun ein eindeutiges Zeugnis aus, es lautet: Durchgefallen.

Ungarns Schüler von 15 Jahren, also kurz vor dem Einstieg ins Berufsleben oder die höhere Bildung sthend, fallen - verglichen mit 540.000 Altersgenossen in 71 anderen Ländern -  in allen gemessenen Bereichen: Mathematik, Naturwissenschaften, Lesefähigkeit und Problemlösungsfähigkeiten massiv zurück. Seit Jahren schon, jedoch verstärkt seit 2010. Vor allem der heftige Abfall zur Studie vor drei Jahren ist alarmierend sowie der Vergleich zu vergleichbaren Gesellschaften und Volkswirtschaften in der Region, der keinerlei Ausreden zulässt. Zwar verschlechterten sich auch die Schüler Rumäniens und der Slowakei, jedoch bei Weitem nicht so stark wie die Ungarns, das von Ländern wie Tschechien oder Polen, mit denen man sich eigentlich messen will, längst abgehängt wurde.

In den Naturwissenschaften büßten die ungarischen 15jährigen 17 Punkte gegenüber 2012 ein, von 494 auf 477, beim verstehenden Lesen fiel man von 488 auf 470 Punkte, lediglich in Mathematik konnte man den Wert von 477 Punkten halten, fiel aber auch dort im regionalen und europäischen Vergleich zurück, weil die meisten anderen Länder zulegen konnten. Rechnet man den regionalen Faktor mit ein, verlor Ungarn auch hier ein Äquivavlent von 4 Punkten. In allen Kategorien findet man sich im untersten Viertel der Statistik wieder auf dem Niveau Perus oder des Libanon.

In einer Art Gesamtwertung, die auch die Fähigkeit zu praxisnahen Problemlösungen einschließt, schlugen sich 10,3% der ungarischen Jugendlichen überdurchschnittlich, gegenüber 15,3% im OECD-Schnitt, am unteren Ende lag der bei 13%, in Ungarn war die unterdurchschnittliche Performance bei 18,5% gemessen worden, wobei die Mädchen etwas besser abschnitten als die Jungen.

Für naturwissenschaftliche Felder interessieren sich in Ungarn rund 18,3% der Schüler und schneiden darin entsprechend ab, ein Wert der nur von Slowaken und Niederländern unterschritten wird, im OECD-Schnitt liegt er bei 24,5%. Die ungarischen Mädchen bringen nur zu 10% das entsprechende Interesse für Naturwissenschaften auf, der Wert hat sich binnen 25 Jahren mehr als halbiert, Herd, Kinder und Kirche sind offenbar die Betätigungsfelder, die Orbán für "das schwache Geschlecht" vorgesehen hat.

Die Expertise der PISA-Auswertung betont vor allem die Beschränkung der Bildungschancen aufgrund der sozialen Herkunft. In Ungarn rückt das OECD- und EU-Ziel, allen Schülern, unabhängig von ihrem sozialen Status eine gleich gute Ausbildung und gleiche Aufstiegschancen zu ermöglichen immer ferner. Die Daten belegen, dass die sozialen Hintergründe eines Schülers sowohl seine Leistungen beeinflussen als auch seine Chancen für einen Ausbruch aus seinem Milieu über die Jahre immer geringer werden.

Das Fazit der Analysten: "Das ungarische Bildungssystem hat keine passenden Anworten auf die Herausforderungen im Bildungssektor innerhalb einer hochtechnisierten Wissensgesellschaft" zu bieten, im Gegenteil, die "Schüler sind weder für den heimischen und schon gar nicht für den internationalen Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig", heißt es da.

Das ist natürlich eine eingeschränkte, neoliberale Herangehensweise und leider weit entfernt vom humanistischen Denken, das einmal die universelle Bildung als essentielle Voraussetzung für die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen anstrebte. Doch selbst in dieser auf Normierung und Funktionalisierung reduzierten Weltsicht, die Orbáns Menschenbild eigentlich entgegenkommt, versagt die ungarische Politik kläglich.

 

PISA führt aus, dass jeder fünfte Schüler im OECD-Raum die Lehranstalten verlässt, ohne überhaupt eine Chance auf eine "stabile Position im Arbeitsmarkt zu haben", für 20% ist das Scheitern also eingeplant. In Ungarn liegt der Wert bei fast einem Drittel. Fakt ist, dass die ungarischen Schüler heute deutlich weniger von Naturwissenschaften und Mathematik verstehen als vor 10 oder 15 Jahren und der Anteil jener, die gar nicht mehr mitkommen stetig wächst, ebenso wie die Quote des funktionalen Analphabetismus. Fatal ist vor allem, dass so eine ganze Generation von ihren Altersgenossen in der EU abgehängt wird.

Für die ungarische Regierung ist das Ergebnis besonders peinlich, weil man sich bei der vorherigen Studie noch darauf herausredete, dass die Errungenschaften des "nationalen Curriculums" und der "Reformen" noch nicht mit von PISA berücksichtigt worden seien. Dem für die Pflichtschulen zuständigen Staatssekretär László Palkovics verschlug es dann auch erst einmal die Sprache angesichts der niederschmetternden Resultate und er lehnte etliche Medienanfragen ab. Dass man sich auch diese PISA-Studie im Regierungslager zurechtbiegen wird, ist klar, denn im Fach Agitation und Propaganda würden die Ungarn derzeit jedes Ranking haushoch anführen.

red.

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