Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1894

Adolf Silberstein

Das Recht auf Liebe

Adolf Silberstein (Pest 1845 - Budapest 1899) war Journalist und Kritiker, studierte in Leipzig und war ab 1870 Redakteur der Temesvarer Zeitung, von 1871 an veröffentlichte Silberstein Theaterkritiken im PL, war Mitglied der Petöfi-Gesellschaft und Literaturübersetzer, Werke: Egy pesti Don Juan ("Ein Pester Don Juan", als Ötvös Adolf herausgegeben, Bp., 1885, auf Deutsch 1887); Dramaturgische Arbeiten (Band I - II., Bp., 1894 - 95); Im Strome der Zeit (I - IV., Bp., 1894 - 95), Die Strategie der Liebe; Die Bibel der Natur, Dutzende Texte im PESTER LLOYD. u.a.: 1888 (Nationaltheater) (Lord Byron zum 100. Geburtstag) 1890 (Aus deutscher Burschenzeit, Erinnerungen)

Ein ganz seltsames Thema beschäftigt seit einiger Zeit die Physiologen, Hygieniker, Soziologen und Dichter. Es ist ein Kapitel aus dem Naturalismus, der die letzten zwei Jahrzehnte dominirt Im Grunde genommen ist es das alte Lied von der Allgewalt der Naturtriebe namentlich von dem schon durch seine Wonnen dämonisch anziehenden, durch seine Bestimmung hochwichtigen Triebe nach Liebe.

Der Laie hat eine Ahnung davon, welch kolossale und krasse Literatur die neuste Zeit in Beziehung auf die Bedeutung, Äußerungsweisen und Entartungen des Liebestriebes hervorgebracht hat. Krafft- Ebing´s und Manteganzza´s Werke, im welchen wahre Höllengemälde von dem Walten und den Verirrungen der Naturtriebe entrollt werden, sind der Gipfel in der Hochfluth ähnlicher, meist schlecht, erschreckend und anwidernd geschriebener Pamphlete.

Von den jüngst erschienenen zahlreichen Büchern dieser Sorte wollen wir nur zwei hervorheben. Das Buch Schröder´s ist eine ernste, lesenswerte Untersuchung über die Entstehung, Licht- und Schattenseiten unserer monogamen Familie. Die manchen Lücken unseres Familienrechtes, die vielen Mängel unseres Sittenkodex manche Übertriebenheiten unseres „Es schickt sich nicht !“ werden kundig beleuchtet. Ein lehrreiches, anregendes Buch für Gesetzgeber und Richter. Es lohnt sich, darauf bei einer anderen Gelegenheit zurückzukehren.

Viel weniger ernst, mehr effekthaschend und im Tone eines Kraftgenies spricht Starkenburg zu den deutschen Lesern. Er flöße einen Nothschrei von 130 Seiten aus, um auf die Gefahr hinzuweisen, in welcher das deutsche Volk durch seine Prüderie, durch seine Erschwerungen der Ehe, durch seine schlechte Erziehung der Kinder  und gewissenlosen Ziehmütter schwebe. Starkenburg zeichnet wahre Schauergemälde der Folgen, welche durch die Erschwerung der Verehelichung und durch die Hemmnisse des Liebestriebes in unserem Zeitalter hervorgerufen werden.

Starkenburg proklamirt das Recht auf Liebe, als die einzige Panacee, als den einzigen Weg zur Wiedergesundung des Volkslebens. Er fordert, daß die Schranken des Verkehrs zwischen Jünglingen und Mädchen niedriger gehalten, die Hindernisse der frühen Verehelichung beseitigt werden. Es wird zu wenig geliebt in unsere prüden Welt, die Menschen gelangen zu spät zur Ehe, die Männer treten entnervt, die Mädchen halbfrech vor den Altar. Durch die vielen Hindernisse und Geheimthuereien wird die Phantasie überreizt, die Nerven zerstört, andererseits bringt die freie, vom Staate geduldete Liebe das schleichende Gift, das Laster, den Irrsinn in die Gesellschaft. Der Liebestrieb muß in unserem prüden Zeitalter entweder unterdrückt, oder in die Kloake geleitet werden. Scylla und Charybdis, Entartung, Verderbniß hier wie dort.

Es läßt sich nicht leugnen, daß Starkenburg in Manchem Recht hat. Die Sprache der Zahlen, welche von dem rapid zunehmenden sittlichen Verfall berichten, ist eine deutliche und unabweisbare. Leider weiß Starkenburg nicht das geringste Mittel anzugeben, wie der Dekadenz Einhalt zu gebieten, wie den mannigfachen Exzessen, welche die Menschheit fortwährend dezimiren und herunterbringen, entgegenzutreten sei. Eine solche Rath- und Hilflosigkeit ist doch bedenklich. Sie erlaubt Rückschluß darauf, daß die geschilderten Übel doch vielleicht nicht so gefährlich, daß die Schatten vielleicht zu schwarz gemalt seien.

Und so ist es auch. Es heißt, auf diesem so dunkelm, heikeln Gebiete das Richtige vom Unrichtigen scheiden. Die monogame Familie ist nun einmal die Grundlage jeder Zivilisation gewesen, sie darf durch keine Sophismen und selbst nicht durch den Nothschrei der Elenden gelockert werden, denen hienieden seine Liebe von Weib und Kindern zutheil geworden. Etwas weniger Mitleid und Gemüthlichkeit würde den Blick klarer erhalten. Alle Menschen ohne Ausnahme glücklich machen können wir, trotz aller Fortschritte der Zivilisation, auch heute noch nicht. Wir anerkennen gern das Recht aller auf Liebe aber wenn der ökonomische Kampf Aller gegen Alle so ausgebildet, Existenzbedingung so erschwert, die Pflicht gegen den Staat so drückend, die Erhaltung der Familie eine so kostspielige ist, wie soll da Allen das Recht auf Liebe gewährleistet werden? Jeder Sieg kostet Kampf, jeder Kampf kostet Opfer, warum soll es nur im Kampf ums Brot Todte und Verwundete geben, warum nicht auch in dem Kampf um Liebe?

Wir geben zu, daß einerseits das unfreiwillige Cölibat vieler Männer, die gezwungene Ehelosigkeit wieder Mädchen verheerend in den Organismen wüthet. Die schrecklichen Folgen der freien Liebe andererseits, die Seuchen und die Übervölkerung mit elternlosen Kindern, das Walten des Würgeengels in den dichten Schaaren verlassener Säuglinge sind nicht zu leugnende Thatsachen, schwarze Blätter in dem goldenem Buche der Zivilisation.

Doch hieße es wahrlich, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben, wollte man nun, wie Starkenburg will und laut fordert, dem milden Naturtrieb eine Waffe öffnen, und Schamhaftigkeit, Anstand und Schicklichkeit aus dem Verkehr der besseren Stände verbannen. Es ist falsch und verderblich, gegen diese Blüthen unserer Versittlichung, gegen die zarten Hecken, welche das Familienleben vor rohen Angriffen schützen, loszuziehen. Das werden die Herren Naturalisten nie erreichen, daß wir ihnen noch die Hand dazu bieten sollen, ihren angebeteten Naturtrieb, der sich jetzt behaglich im Schweinestall wälzt, in die ängstlich gehüteten, zarten Blüthenbeete (?) ritterlichen Anstandes hineinstampfen zu lassen.

Die Solches verlangen, haben keine Ahnung von der Zartheit des Familienlebens, von dem verschönenden Flor, den Achtung und Schicklichkeit die Reinlichkeit des Thuns und Denkens über das häusliche Leben breiten. Sie vergessen, daß die monogame Ehe eine Errungenschaft ist, welche nicht eifersüchtig genug bewacht werden kann.

Gegen die Allmacht des Liebestriebes ist gewiß nichts einzuwenden. Er veredelt und erhält die Menschheit. Aber, wie jeder Trieb, kann auch er richtig geleitet werden oder entarten. Der Hunger ist gewiß kein geringerer Tyrann des Menschen, als die Liebe. Er verleitet zu Verbrechen, zu Maßlosigkeiten, bedroht den Organismus und erzeugt schließlich die soziale Frage. Folgt daraus, daß wir ihm nun blind gehorchen, alle Schranken von Mein und Dein niederreißen und die soziale Frage mit Messer und Schwert und mit Dynamitbomben lösen müssen?

Man muß ein wenig die Naturgeschichte des Triebes studiren. Da wird man ganz merkwürdige Dinge finden. Man wird ein Ab- und Zunehmen der Intensität, eine eigenthümliche Lenkbarkeit und Gewöhnung desselben, die Phasen der Sättigung und Übersättigung, des Ekels und der Ermattung, schließlich ein gewisses rhythmisches Gesetz in ihm entdecken. Endlich wird man sehen, daß oft durch das Stärken eines gesunden Triebes ein krankhafter Trieb ins Gleichgewicht gesetzt, zur Ruhe gebracht werden kann. Ja, ohne die Phänomenologie des Geistes, ohne die Gesetze der geistigen Statik und Dynamik zu trennen, werdet ihr über solche Fragen nie ins Reine kommen.

Die von den Naturalisten und namentlich von Starkenburg so heftig angegriffene Prüderie, als die Übertreibung der Gebote der Schamhaftigkeit, des Anstandes und der Schicklichkeit, ist immer noch das kleinere Übel. Handelt es sich doch darum, die Heiligkeit des Familienlebens zu schüzen, welches durchaus auf monogamer Grundlage ruht. Das Mädchen ist laut der jüdisch-christlichen Ehemoral Zeit seines ganzen Lebens nur für Einen bestimmt. Es muß darum ängstlich vor Allem beschützt werden, was dieser Eine, wenn auch vorläufig nur ideal gedacht, als Gefahr für seine späteren Rechte ansehen könnte. Die filigranartige Zartheit unserer Schicklichkeitsregeln ist darum tief in den Rechten des gegenwärtigen oder zukünftigen Gatten begründet und wer dies nicht versteht, der hat eben für die Verfeinerung der Rechtsbegriffe einer zivilisierten Gesellschaft gegenüber dem milden, alles Recht blind niedertretenden Triebe keinen Sinn.

Ja, wir finden unsere Gesellschaft eher noch zu lax gegenüber den sogenannten Naturrecht der Liebe. Wir finden das Mädchen – zur unauslöschlichen Schmach unserer Rechtspflege – vollständig schutzlos dem Verführer gegenüber. Nicht jedem Mädchen steht ein ritterlicher Vater oder Bruder zur Seite, und auch dann wäre selbstgeholte Sühne nur Faustrecht. Das Gericht schweigt zu dem brutalsten aller Verbrechen, zum Diebstahl und Verrath an der Mädchenunschuld oder macht dieses Verbrechen, welches die Grundlagen des Staates untergräbt, zu einer bloßen Entschädigungsfrage. Die einzigen Briten stehen in Bezug auf den Schutz weiblicher Ehre himmelhoch über uns Kontinentalen, sammt unserer achtlos darüber hinweghüpfenden Gerichten.

Starkenburg besitzt nicht den Muth, positive Vorschläge zur Sanirung vieler, wirklich vorhandener Übel zu machen Und die Sache liegt doch so nahe, sie liegt eben mitinbegriffen in der Lösung der sozialen Frage. Das Recht auf Liebe ist sehr leicht geltend zu machen, wo das Recht auf Brot gewährleistet wird. Aber durch Hinwegräumung der poetischen und rechtlichen so tiefbegründeten Schicklichkeitsschranken, wie es Starkenburg und der Naturalismus fordern, ist der guten Sache gewiß nicht gedient. Man nennt ja auch andere Dinge nicht immer beim richtigen Namen, warum immer die Mysterien der Natur vor das grelle Lampenlicht zerren, welches selbst dem Genuß lange nicht so günstig ist, wie das rosig dämmernde Halbdunkel? Das Geheimniß hat einen tiefen psychologischen Grund und ist nur bei den edelsten Völkern zu finden. Man wird doch nicht bis zur Natürlichkeit der Indianer und Neger herabsteigen wollen?

Im Grunde seiner Seele ist auch Starkenburg Freund der Ehe, und zwar der monogamen. Mit Vorliebe verweilt er bei den statistischen Beispielen, welche beweisen, daß die Ehe die Gesundheit des Leibes und Geistes konserviere und das Leben verlängere. Wenn dem so ist, dann wird unser naturalistischer Autor sehr bald dahin kommen, die Gebote der Schicklichkeit nicht mehr zu verbannen, sondern eher noch zu verschärfen. Denn nur die im Deuten, Sprechen und Handeln reine Frau kann uns wahrhaft beglücken und die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes gewährleisten.