Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1898

Max Viola

Großmutters Dorf

Alljährlich im Sommer, wenn die nervenzerstörende Städtegluth allzu schmerzlich auf mir zu lasten begann, fuhr ich in ein armseliges, weltvergessenes Dorf, um meine Großmutter, welche nicht mehr fern von ihrem hundertsten Lebensjahr stand, zu besuchen. Sie hatte eine so herzliche Freude, wenn ich kam, und nur einen Vorwurf hörte ich von der fast Hundertjährigen: daß ich alt werde, gar so alt. Ja, wer so jung hätte bleiben können wie die Großmutter, die in lebhaften Farben den Herzog von Reichstadt schilderte, den sie bei ihrem letzten Aufenthalt in Wien gesehen, und die mir erzählte, was für ein schönes Taffetkleid sie von ihrem Vater erhalten hatte, als sie mit ihm im Jahre 1814 in Wien gewesen.

Und dann ging Großmutter an die Arbeit: räumte ihr Zimmer auf, welches sie seit achtzig Jahren bewohnte, fütterte die Hühner, reinigte das Gemüse, war bald in der Stube, bald im Geflügelhofe, überwachte die Cousine, daß trotz meines Aufenthaltes nicht zu viele Eier verschwendet werden, nörgelte hier, verbesserte dort, machte auch gelegentlich einen ganz kleinen, netten Skandal, wenn die Magd nicht genau nach ihrer Weisung handelte, und Mittags erschien sie nett und adrett in ihrem einfachen Kleide, mit der blühend weißen Haube bei Tische. Nirgends ein Fältchen, nirgends ein Stäubchen: ein gutes altes Großmütterchen aus der guten alten Zeit.

Großmutter hatte sich tapfer gehalten, allein ihr Heimathdorf ist inzwischen verfallen. Manches der kleinen Häuschen gleicht nur mehr einer Ruine. Ungehindert dringen Sonnenschein und Regen durch das Dach. Manches ist von seinen Bewohnern gänzlich verlassen worden. Und steht nun verwaist mitten im Dorfe.

Einst, vor vielen Jahren, war Großmutters Heimathsdorf eine reiche, blühende Ortschaft, die reichste und angesehendste unter den sieben Gemeinden, welche in unduldsamen Zeiten auf den Gütern der Fürsten Esterházy gegründet wurden. Handel und Verkehr standen in hoher Blüthe, an den Feiertagen wimmelte die „Gasse“ von reich und festlich gekleideten Leuten. Die Frauen, wenn sie Kopf an Kopf gereiht am Neujahrstage in der Synagoge saßen, glänzten von Gold und Seide, die Männer spendeten vor Thora hohe Summen zu wohlthätigen Zwecken.

Das ist längst vorbei, längst! Die Eisenbahnen haben den Verkehr abgelenkt, die einiges Vermögen zusammenraffen konnten, sind fortgezogen in große Städte, und blos die armen Teufel, welche der Hunger bannt, sind an der heimathlichen Scholle haften geblieben. Die kostbaren Plätze in der Synagoge, wo sich einst die reichen Handelsherren breit machten, sind werthlos geworden. Nichts erinnert mehr an Glanz und Reichthum, und nur in dem großen Friedhof am stillen Anger draußen herrscht ein beredtes Schweigen von einstiger Größe, von einstigem Ansehen. (…)

Und tiefer sinkt die Sonne, tiefer und tiefer. Die armen Mädchen kehren in ihre kleinen Häuser zurück, still ist die Promenade, still wird die Gasse. Die schwere Luft der Armuth und des Elends legt sich wieder breit und finster auf das Dorf meiner Großmutter. Die Prinzessin Sabbath ist verschwunden, der schöne Hut, der seine Schleier und die feine Bildung wandern in den Kasten zurück. Und der arme Jude, der heute in der Synagoge gestanden und stolz durch die Gasse gewandert ist, nun hängen seine Augen trüb an den schweren Packen, mit welchen er in aller Frühe ächzend und keuchend aus seinem Dorf hinauswandern muß. Und er seufzt und seufzt… „Ist ihm doch, als griffen eiskalt Hexenfinger in sein Herze, schon durchrieseln ihn die Schauer Hündischer Metamorphose.“