Aus dem Archiv des Pester Lloyd

zurück zur Startseite

 

 

 

(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1907

Illés Pollák

Die Verstaatlichung der Leidenschaften

Richtiger wär's, von Trieben zu sprechen, denn diese sind's, welche die Leiden schaffen. Die Triebe aber sind die Erhaltungsbewegungen der Materie, ohne welche keine Lebensfunktionen möglich wären. Sie sind die Leidenschaften des Stoffes, welcher leben und sich erhalten will. Bis diese mächtigen Daseinsbewegungen im Menschen zum Ausdruck kamen, war eine lange Periode zu durchlaufen, an deren Wurzel allerlei, bislang noch wenig verstandenes Zeug hängt, das sich in der Anziehung und Abstoßung der kleinsten Stofftheilchen, der sogenannten Ionen manifestirt und von Positivem und Negativem träumt, wie unsere Zungen von Liebe und Haß, oder wir Alten von Ruhm, Reichthum und Armuth.

Es ist kein Unterschied unter ihnen, und ein Chemiker von Phantasie und Schauungsvermögen – leider gibt's solche nicht – könnte manches Drama erzählen voni den schweren Kämpfen da innen in der Retorte, wenn beispielsweise Ca von Ka sich lossagt, um sich mit Na zu verbinden, von den Erschütterungen, unter denen sich das liebliche Anion von dem Recken Kation loslöst, und der Auslösung von ebensolchen, als die neue Verbindung zu Stande kam. Ja, und von den merkwürdigen Veränderungen, welche dadurch im Charakter des früher etwa lammsfrommen und naiven Anion vorgingen, von dem Wechsel im Milieu und seinen Beziehungen, und von tausend Nöthen und Triumphen all dieses noch ganz und gar Anorganischen. Alles das hängt noch unverstanden an den Wurzeln des Lebensbaumes, während es im Menschen schon als Leidenschaft zur Strahlung kam, genau so unverstanden im Übrigen wie jenes.

Unverstanden, aber verstanden: der Mensch mußte ja halb bemerken, daß er ein armer Teufel ist, den man in eine Welt voll verrückter Kräfte gesetzt hatte, welche ihn hin- und herwarfen, wie eine komplizirte Maschine etwa so eine arme Fliege, der es widerfahren war, in ihre wahnwitzigen Energien zu gerathen. Wie er es anfing, sich da zurechtzufinden, es war wirklich ein Wunder, denn es hieß nicht blos, sich mit den eigenen inneren Erstaunlichkeiten auseinanderzusetzen, sondern auch mit den stets sprungbereiten Ueberraschungen der Außenwelt, deren oft sinnlosem Durcheinander er nicht die mindeste Raison abzugewinnen vermochte und welche von ihm trotzdem verständnisvolles Eingehen auf ihre Saltomortalen forderte.

So, wie er da stand mit seine eigenen, ihm selbst unverständlichen Wundern, mußte der Mensch seine Existenz einer Natur ablauschen, abschwatzen und abtrotzen, welche ihm ihr Innerstes mürrisch verschloß, obgleich sie es in der Hand hatte, ihren Kindern das Leben leichter und freudvoller zu gestalten. Aber unsere Erde ist eine grausame und, was man auch sage, hartherzige Mutter, die selber voller Reichthümer, ihre Kinder, scheint es, wie gewisse Mamas solange in kurzen Röckchen einhergehen läßt, als es ohne Ärgerniß angeht, woraus dann ein Verhältnis tiefer Unlust und geistiger Hinterhältigkeit zwischen Mutter und Tochter sich ergibt, wie wir solches im Menschenleben genugsam kennen.

Es ist ja gut. Die Evolutionisten behaupten, es habe so sein müssen. Ohne diese schweren Mißverständnisse und herben Kümmernisse wäre der Mensch niemals das geworden, was er geworden, aber es ist ja so leicht, einen Zustand aus seinen bekannten Prämissen zu erklären, daß ich die Probe aus das Rechenexempel gewiß nicht zu fordern wagte, von einer Schaar entmenschter und entheiligter Bergarbeiter mittelst einer algebraischen Gleichung zu bestimmen, daß und wann aus ihnen evolutionsweise Bankdirektoren hervorgehen werden. In meiner Einfalt könnte ich mir ganz lebhaft einen Zustand vorstellen, in welchem der Mensch die Schätze von Mutter Erde ohne ihre ewigen Rebusse und Rösselsprünge herausbrächte, oder doch zumindest ohne viel Studium die eigene Mutter verstehen könnte, mit ihren verborgenen Speisekammern, Liebesstürmen und sonstigen Leidenschaften, denn die hat sie, unsere Alte.

Das rumort noch in übermächtigen Wallungen in ihr und Stürme schwerer Gewitter sausen durch und über ihren alten Körper, welche nur in ihren Ausdehnungen heftiger sind, als die unser Blut durchrütteln. Die mächtige Kugel lebt ein großzügiges Leben voll ganz menschlicher Leiden und Freuden und sie thut ganz abscheulich kleinlich mit ihren Kindern. Ich kann mir das Alles anders denken, behaupte ich, denn ich kann mir ein schwesterliches Verhältnis zwischen Mutter und Tochter selbst in dem Falle vorstellen, wenn jene noch selber Wallungen und Ambitionen hat; aber die Evolutionisten dulden so etwas nicht. Das mußte so sein, behaupten sie. Stück um Stück mußten der Natur ihre Elemente abgenommen und unter die Verwaltung den Menschen gebeugt werden, Stück um Stück, in athemlosem Kampfe konnte aus dem Menschenthier der Mensch, und aus diesem die Menschheit hervorgehen, und diese, nicht der Mensch, sondern die Menschheit, ist die Erbin und Sachwalterin der Erdmächte.

Es lohnte die Mühe, einmal dem Kapitel der Besitzergreifung der Natur durch den Menschen näher zu treten. Man hat für diese grandiose Eroberung nur Applause, ohne ein Auge für ihre Tiefen und Schönheiten zu besitzen, ähnlich, wie wir zu den Philharmonikern unsern Sperrsitz nehmen, und diesem zuliebe in Verzückung aufgehen. Jeder Gebildete weiß heute, welche Wunder der Mensch in der Unterjochung der Natur vollbrachte, aber selbst die Wissenschaft registrirt sie blos, ohne in die Tiefen des schäumenden Kessels zu schauen, wo die Wunder kochen. Ohne diesen Blick aber bleiben die Wunder blos geistreiche Einfälle eines sich langweilenden Gottes, besten Falles eine statistische Rubrik, und der großartige Argonautenzug eine Expedition gleich anderen ähnlichen, welche wie Weizenhalme an den Rändern der Zivilisation, unter dem biblischen Schutze des Ochsen, so da drischt, emporwachsen. Mit diesem Blicke hingegen ist jeder Schritt, den das Menschenkind vorwärts thut, eine neue Lichterscheinung jenes kosmischen Äthers, welcher die Wellen bewegt und die Erscheinungen zeitigt; eine neue Wendung, der Elemente Herr zu werden.

Denn die Elemente hassen das Gebilde der Menschenhand, doch das Menschenkind hatte es erlernt, die feindlichen Gewalten an der Gurgel zu packen. Der Einzelne vermochte da freilich überaus wenig. Er kam kaum über den Höhlenbären hinaus. Ein Großes war es, als er der Natur einige Feuersteine von ihrer ungeheuren Energiemenge abbröckelte. Im Sonstigen finden wir ihn zumeist als unterthänigen Sklaven und Anbeter des stummen Ungeheuers. Nur wo er sich mit anderen zusammenfand, gelang es ihm, den Dämon ins Joch zu zwingen. Und wie sich das aufrechttrottende Höhlenthier so im Laufe schwer auszudenkender Zeiten im festen Auseinanderstemmen von Rücken und Rücken eine Urkraft nach der anderen zu Nutz- und Hausthier gebändigt hat, das nennt man Kulturgeschichte.

Eines springt dabei ins Auge. Es muß also doch nicht so weit her sein mit der Übermacht der Natur, wenn Mehrer Zusammenhalt sie bezwingt, wie die Meute den Eber, aber es würde Einem auch das Athmen verschlagen, wäre es anders. Die Bezwinglichkeit des schrecklichen Ungethüms bietet ja die einzige Möglichkeit des Daseins. Wäre die Natur wirklich ein Ungeheuer an Kraft und Übermacht, so wäre innerhalb ihrer Alles plattdrückenden Mutterbrust kein Athmen möglich. Daß es selbst den kleinsten Lebewesen möglich ist, ein Dasein voller Schönheiten, Reize und Anregungen zu leben, ja daß es möglich war, aus ihnen zu unseren Höhen empor zu klimmen, das beweist, daß diese finstere Macht mit sich reden lasse und Stück um Stück von ihren Energien abzugeben bereit ist, wo man ihr beizukommen versteht.

Und man verstand es. Manches holte sich der Einzelne, Held oder Genie, Manches mußte in schweren Waffenstürmen geholt werden. Manche fraßen aus der Hand und lebten mit dem Menschen in paradiesischer Eintracht. Von Anderen war es schon in frühen Anfängen klar, daß sie gebändigt werden mußten, wollte der Mensch zur Kultur emporschreiten und nicht einzeln unterlegen. Eine ganze Reihe von Urelementen mußte die Gesellschaft gleichlenkbaren Bestien in soziales Gewahrsam nehmen, wollte sie ihnen gegenüber bestehen.

Denn Vieles, was dem Menschen in seiner Einzelheit frommte, erwies sich der Gesammtheit schädlich, und so war diese gezwungen, dem Elemente Zügel und Binde anzulegen und es gebändigt vor ihre Wagen zu spannen.

Langsam wurden so der Mutter Erde ihre Schätze abgestohlen und zu Waffen des Widerstandes geschmiedet. Ich will jetzt nicht von den geheimen Schmuckschätzen sprechen, welche die alte Dame in sicheren Verstecken hielt, von Gold, Silber und Edelgestein; aber vom Eisen und den anderen schutz- und trutzhaften Metallen, aus denen dann Waffen wurden, das Mysterium des Raumes und der Zeit zu bezwingen und die Erde mitsammt ihrem Soutenirer, der Sonne, zu eigenem Vortheil zu bereden: so wie von den großartigen Speisekammern von Närmittel, welche alle aufgestöbert und enteignet wurden. Diese streife ich jedoch blos, denn sie haben kaum Bedeutung im Vergleiche mit den imponerabilen Mächten, welche die Menschheit sich botmäßig machte, wie die Freiheit, die Liebe, die Kausalität, die Ernährung und andere ähnliche. Über diese muß etwas mehr gesagt werden.

Die Freiheit, sollte man meinen, wäre ein Zustand und kein Trieb. Etwas Gegebenes, Vorhandenes, etwa gar Verleihbares, wie eine Kommunalsteuer, ein Titel oder das allgemeine Wahlrecht. Während sie doch in höchstem Grade etwas aus innen heraus Gewordenes, Getriebenes ist, eine Weiterentwicklung der an die Scholle gebundenen Pflanze, welche zum freien Lebewesen wurde und der Freizügigkeit als Elementes ihres Lebens wie eines Bissen Brotes bedarf. Die Freiheit des Menschen ist mithin seinen anderen großen Erhaltungskräften gleich, ein Lebenselement erster Güte, und ist ein Trieb, wie die Liebe oder der Hunger.

Dieses Element nun wurde sozialen Zwecken zuliebe geknebelt und gemaßregelt, um den Interessen der Menschheit, welcher die volle Ungebundenheit des Menschen nicht frommen mochte, zu dienen.

Weitere Texte im PL:

1909 („Die blonde Bestie – eine soziologische Vision”, 20. Nov.)
1919 („Die Herrschaft der Jugend”, Revolutionsabrechnung, 5. Okt.) („Melancholie eine Bergpredigt”. 19. Okt.) („Zur Bergpredigt” Entgegnung auf Káhns Gegenfeuilleton vom 22. Okt., 30. Okt.)
1926 („Dramen vor Gericht”, aus den Erinnerungen, 19. Dez.)