Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1908

Paul Balogh

Die Entwicklung der Hauptstadt

Das Parlament hat in der kürzlich geschlossenen, neuneinhalb Monate währenden Session quantitativ viel gearbeitet, aber qualitativ nur Mittelmaß geleistet. In seinem Arbeitsprogramm zeigten sich häufig Schwankungen, sein Vorgehen war ein nervös hastendes. Es hat auch an halb komischen, bald ärgerlichen Böcken nicht gefehlt. Höchst bedauerlich bleibt jedoch, daß man auch den Gesetzentwurf über die Entwicklung der Hauptstadt zurückgelegt hat. Der Vorgang ist unliebsam nicht nur aus dem Gesichtspunkt der ernstlich berührten Lebensinteressen der Hauptstadt, sondern auch deshalb, weil durch ihn Gefühlsdissonanzen zwischen der Majorität des Abgeordnetenhauses und der hauptstädtischen Bürgerschaft vernehmbar geworden sind, über welche man nicht gleichmütig hinweg gehen kann.

Als der Ministerpräsident den Gesetzesentwurf unterbreitete, nahm die öffentliche Meinung diesen wie ein epochemachendes Ereignis in der neuren Geschichte der Hauptstadt Budapest auf. Die Erwerbung der Margaretheninsel, der Ausbau zweier Bade-Etablissements am Fuße des Blocksberges, die Regelung der Ofener Ringstraße, der Bau der Altofener Donaubrücke, die Ermäßigung des Beitrags der Hauptstadt zu den Kosten der Staatspolizei und die Regelung des Haushaltes der Hauptstadt verhießen zusammen eine imposante Aktion in der Hinsicht, daß die stillstehenden Räder im Getriebe Budapests wieder in Bewegung geraten, das öffentliche Vermögen sich mehre, der Verkehr sich neu belebe, die Gesundheitszustände verbessert, die Finanzen endlich ins Gleichgewicht gebracht werden. (…)

Mit Unrecht erklären heute diejenigen, die an der Verzögerung schuld sind, daß diese Verzögerung von drei Monaten nicht viel zu bedeuten hätte. (…) Mit Recht führen die Bürger der Ofener Seite wegen der Vernachlässigung Klage, die ihnen zuteil wird und die den Wert ihrer materiellen Güter, wie ihre Hoffnungen in Ungewißheit läßt. Namentlich die arme Arbeiterbevölkerung Altofens und der äußeren Leopoldstadt ist wegen der Verzögerung der Erledigung des Gesetzentwurfes über die Parlamentsmajorität erbittert, da die neue Brücke vielen tausend Familien den Broterwerb erleichtern, ihr schweres Los mildern könnte. Nun müssen sie erfahren, daß sich die Parlamentsmehrheit kaum um ihr Schicksal kümmert.

Überhaupt ist es ein Krankheitssymptom, wenn sich im Abgeordnetenhause der Hauptstadt feindselige Rivalitäten bemerkbar machen. (...) Die Gesetzgeber früherer Generationen wetteiferten darin, Budapest zu einem je reicheren und je glanzvolleren Exponenten der Nation zu machen. In diesen Dingen konnte es niemals irgendwelche Parteigegensätze geben, die allgemeine patriotische Auffassung solcher Fragen schloß a priori jeden Parteistandpunkt aus.

So muß auch die Zukunft werden. Budapest ist nicht nur für uns, sondern auch für die vergleichende fremde Kritik der Spiegel der Nation, der Gradmesser ihrer Kulturfähigkeit und ihrer Arbeitskraft. Wir haben vor dem Ausland erst Bedeutung, seit man dort draußen die Bedeutung Budapests kennt und fühlt. Unsere Hauptstadt ist der Leuchtturm, dessen Lichtstrahlen über die Wellen der Völkermillionen hinweg weithin sichtbar sind und der Welt mitteilen, daß Ungarn existiert, wächst und gedeiht.

Denn heute ist Budapest bereits in die Reihe der Weltstädte getreten, hat Rom und Madrid an Volkszahl überflügelt, näherte sich Moskau und Konstantinopel, bedrängt mit seiner Konkurrenz schon Wien und steht unter den Metropolen der Welt an achter Stelle. Die Entwicklung Budapests ist eine nationale Angelegenheit ersten Ranges und das patriotische Gefühl der ungarischen öffentlichen Meinung muß gegen alles empörenden Protest erheben, was diese Angelegenheit in die Wellenkreise des Parteigetriebes ziehen will.