Aus dem Archiv des Pester Lloyd

zurück zur Startseite

 

 

 

(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1909

Georges Clemenceau

Glauben oder Wissen

Laboratorium oder Beichtstuhl - Georges Benjamin Clemenceau (1841 - 1929) dürfte weder in Ungarn noch in Österreich gar zu viele Anhänger haben, sind sein Name und Walten doch zu sehr mit Trianon ud St. Germain verbunden, dass die Ungarn bei jeder Nennung zu pawlowschem Aufheulen veranlasst und dessen Heranziehung für alles gestrige und heutige Leid zum nationalen Fetisch geworden ist. Sein Beitrag zum Einfluss der Kirche auf das Bildungssystem ist heute so aktuell wie damals, nur der Widerstand gegen öffentlich geförderte Klosterschulen und Pfarrer als Religionslehrer (Frösche als Biolehrer?!) scheint geringer als damals zu sein.

Clemenceau war politisch wie publizistisch eine schrille Figur. Als Herausgeber der Zeitung L'Aurore und Le Travail und schrieb er sich in die Reihen der radikalen Arbeiterbewegungen. 1870, nach Exil in den USA, kehrt er nach Frankreich zurück und wird im selben Jahr Bürgermeister von Montmartre. 1871 erfolgt seine Wahl in die Nationalversammlung als Abgeordneter der Radikalsozialisten. Clemenceau wird 1902 Senator und 1906 Innenminister. In dieser Funktion setzt er 1906 das Militär gegen streikende Bergarbeiter ein. Während der Dreyfus-Affäre setzt er sich als Eigentümer und Herausgeber der Zeitschrift L'Aurore mit für den verleumdeten Offizier ein. Von 1906 bis 1909 ist Clemenceau Ministerpräsident Frankreichs. Trotz seines Antikolonialismus strebt er nach steigendem Einfluss Frankreichs im unabhängigen Marokko, was die Marokko-Krisen mit dem Deutschen Reich 1905-1906 und 1911 heraufbeschwört. Das Amt des Premierministers übernimmt le tigre - so mittlerweile sein Beiname - am 16. November 1917 erneut. Clemenceau, zu dieser Zeit auch als Kriegsminister verantwortlich, regiert mit harter Hand. Bei den Verhandlungen in Versailles tritt er als unversöhnlicher Gegner Deutschlands und seiner Verbündeten auf. m.s.

Der Konflikt zwischen Glauben und Wissen ist da, und niemand hat das Recht, sich ihm zu entziehen. Es ist ein sozialer Konflikt geworden, dem wir auf allen Kreuzwegen des öffentlichen und des privaten Lebens begegnen – nirgends schärfer, einschneidender als am häuslichen Herd, wenn die Zeit gekommen ist, wo die Pflicht jedem ehrlichen Bürger gebietet: seinen Nachkommen das geistige Erbe der Väter ungeschmälert und vermehrt durch die eigene Kultur zu übergeben.

Im Mittelalter lag die Erziehung in den Händen der Kirche; sie wurde nur im Bedarfsfall durch einige wenige praktische Kenntnisse erweitert. Das war begreiflich. Denn richtig oder falsch, zeitlich oder ewig – die ganze soziale Einrichtung war damals auf den Glauben gestimmt. Heute aber sind die damals so kleinen Anfänge der Erkenntnis riesengroß gewachsen. Sie haben das Gebiet des Unerforschbaren aufs äußerte verringert und eingeschränkt; sie sind geordnet worden und mächtig blüht die Wissenschaft durch die Ausschaltung des einzigen Wortes: g l a u b e n .

Uns Menschen von heute erscheinen die Glaubenssätze nur mehr im Lichte rührender Legenden aus einer Zeit, da der Mensch noch gezwungen war, provisorisch, durch Inspiration das große Rätsel seiner Bestimmung zu lösen. Der Fortschritt einer jahrhundertelangen Forschung erlaubt uns heute, dieses selbe Rätsel durch erwiesene Versuche zu erklären.

Um den Glauben als Stützpunkt haben sich allmählich kristallisiert: die Tradition, die Sitten, die sozialen Abstufungen, die Gesetze, die innere Einrichtung der Gesellschaft. Die Stütze ist gefallen; die Tradition, die Sitten, die Interessen der Allgemeinheit, das Gesetz müssen sich solange stützen und im Gleichgewicht erhalten, bis es gelungen ist, eine neue Doktrin zu finden, die der jetzigen Entwicklung unseres Geistes adäquat ist; welche einen neuen sozialen Kristallisationspunkt abgeben kann. Das ist das wichtigste Problem unserer Zeit.

Viele haben gefürchtet, daß wenn einmal der Glaube gefallen ist, eine plötzliche und revolutionäre Rekonstruktion der menschlichen Gesellschaft unausbleiblich wäre. Aber so eine gewaltige Umwälzung geht nicht von heute auf morgen vor sich; sie vollzieht sich vielmehr nur allmählich. Die Tradition, die Sitte, die sozialen Einrichtungen, das Gesetz – alles, was aus dem alten Glauben geboren und durch ihn gestützt wurde, stützt jetzt vice versa den Glauben durch Befolgung seiner äußeren Merkmale und verlangsamt dadurch seinen unvermeidlichen Zerfall.

Dieser sehr verwickelte Zustand der Geister von heute manifestiert sich gleichzeitig, sowohl im öffentlichen Leben als auch im privaten Leben jedes einzelnen. Vom öffentlichen Leben zu sprechen, ist überflüssig, da es jeder kennt; die oberen Zehntausend strengen sich auf äußerste an, die Menge zum Kult zu führen oder gar zu treiben.

Sie haben bis jetzt damit noch immer einen großen und sicheren Erfolg erzielt, weil sie von ihrer Gefolgschaft nicht verlangen, daß sie ernstlich glaube und den Glaubenslehren gemäß handle. Sie begnügen sich vielmehr damit, daß die Masse sich öffentlich zum Ritus bekenne, und sie erlauben ihr dafür viel zeitlichen Lohn einzuheimsen. Wer könnte sich wohl wundern, daß diese Art von Gläubigen sich beeilt, ihren Kindern einen Glauben einzuimpfen, der auch jenen soviel Vorteil verspricht? Wen könnte es überraschen, daß sie mit lauter Stimme die Mittel fordern, ihre Sprößlinge zu Ebenbildern ihres Selbst zu machen?

***

Die "höheren Klassen", welche den großen Vorteil haben, konsequent zu sein, verlangen die Einheitlichkeit der Erziehung. Darin muß ich ihnen beistimmen, so sehr auch ihre Art, Menschen zu bilden, von meinem ideal abweicht. Jede Erziehung, die diesen hohen Namen verdienen soll, muß einheitlich sein. Aber unser Bürgertum will immer lavieren: es hat eine "neutrale Erziehung" eingeführt, die weder Fisch noch Fleisch ist. Diese bejaht oder verneint - ganz nach Wahl des jeweiligen Lehrers - die wichtigsten Lebensfragen, und läßt die Kinder selbst die Antwort wählen auf Fragen, die nur nach einer Richtung hin beantwortet werden können.

Dank der sträflichen Nachgiebigkeit des Bürgertums kann jeder von uns abwechselnd und wie es ihm gerade paßt, gläubig oder Freidenker sein - er und seine Nachkommenschaft. Der Bourgeois selbst ist am Tage seiner Hochzeit Freidenker auf dem Standesamt, gläubig in der Kirche. Skeptisch, weder an Gott noch an den Teufel glaubend, hält er es dennoch für geraten - um nicht aufzufallen -, seinem Kind ein Mischmasch von Erziehung zu geben: möge es später s e l b s t entscheiden, welcher Lehrer im Recht war - der, welcher den Glauben, oder jener, der das Wissen zuhöchst stellte.

Wenn man so einen Vater fragt, welchen Zweck diese unaufhörlichen Widersprüche haben sollen, so ist seine Antwort: "Die wissenschaftliche Erziehung entspricht meinen Anschauungen, die religiöse dagegen soll verhindern, daß mein Kind sich isoliert, sich Feinde schafft." Recht hat der gute Mann, aber mit solchen Helden werden wir keinen Sieg erfechten. Vielleicht auch würde in vielen Fällen der mehr idealistisch angelegte Mann es wagen, das Risiko einer einheitlichen Erziehung zu tragen. aber die Mutter widersetzt sich. Im traditionellen Glauben aufgewachsen, dem Gebräuchlichen blind ergeben, kümmert sie sich wenig darum, was ihr Sohn später einmal glauben wird, wenn er nur heute den Ritus befolgt, "wie andrer Leute Kinder auch". Sie ist es in den meisten Fällen, welche die Utilitätsfrage aufwirft; der Vater gibt nach um des lieben Friedens willen. Auch scheut er die späteren Vorwürfe.

So sehen wir das Kind hin- und hergerissen, verwirrt, entmutigt, sich die praktische Philosophie konstruieren: alles zu tun, um nur möglichst leicht und schnell vorwärts zu kommen. Kommt dann noch ein guter Redner, der sich seines empfänglichen Gemütes bemächtigt, so sinkt es in den weitaus meisten Fällen bereitwillig in die weitgeöffneten Arme der Kirche.

Das ist unsere jetzige Situation. Ich wundere mich nicht darüber, ich konstatiere nur und analysiere ihre Gründe uns Ursachen. Laut und heftig aber muß ich protestieren gegen die subtile Unterscheidung der Lauen: es sei ein anderes, seine Kinder von Geistlichen erziehen zu lassen, und ein anderes, die Söhne in Staatsanstalten zu schicken, und ihnen nebenher die Ausübung ihrer religiösen Pflichten zu gestatten. Ich kann da unmöglich einen Unterschied finden. sollten die Mönche, die Nonnen anderes lehren als der Pfarrer des Sprengels? Wo bleibt der Vorteil, wenn der Schüler des staatlichen Gymnasiums sich mit dem Jesuitenzögling an e i n e m  Beichtstuhl trifft? Das heißt nur, sich oder anderen Sand in die Augen streuen, auf kosten des Wertvollsten, da wir besitzen - der Seele unserer Kinder.

Die Majorität unseres Bürgertums brüstet sich mit ihrer antiklerikalen Gesinnung. Sie weiß aber sehr geschickt mit beiden Teilen zu paktieren, indem sie ihre Nachkommenschaft gleichzeitig die Bewunderung der Wissenschaft und die Befolgung eines von ihnen angeblich so sehr gehaßten Kultes lehrt. Selbstverständlich kann es mir nicht einfallen, die persönliche Freiheit jedes einzelnen: zu glauben was er will und kann, beschränken zu wollen. Ich wende mich nur gegen alle Maulhelden, die sich für große Neuerer ausgeben und dabei doch auf beiden Achseln tragen, und die klüger täten, mit dem alten Wust von Vorurteilen bei sich und den Ihren aufzuräumen, bevor sie sich zu Bannerträgern der neuen Ideen aufwerfen.

***

Eine Gesellschaftsordnung geht unter, eine neue Ära beginnt. Wir befinden uns in einer Epoche des Überganges. In unseren Seelen bekriegen sich zwei Lebensauffassungen, die einander diametral entgegenstehen. Glauben oder Wissen! Und jeder ist gezwungen, Stellung zu nehmen. Unsere oberen Zehntausend versuchen vergeblich die Verschmelzung zweier Gegensätze. Die neue Ordnung der Dinge befördern, ihr wirksam nützen kann nur der, welcher den Mut hat, mit der Heuchelei zu brechen.

Die Veredlung der menschlichen Rasse kann nur allein durch die fortschreitende Kultur erfolgen, die uns befähigt, unter den vorhandenen Formeln die geeignetste zu wählen, um dereinst ein höheres, besseres Leben zu führen. Darum müssen wir weit weg weisen die Heuchelei, die da behauptet, Glauben und Wissen vermählen zu können; wir können nur durch das positive Wissen zu jener Einheit des Denkens und Fühlens gelangen, welche die Stärke der ersten Christen ausmachte. Sind wir einmal soweit gelangt, so ergibt sich die Einheitlichkeit der Erziehung, wie wir sie verlangen, von selbst, und unser Leben ist nicht länger ein Kompromiß zwischen Laboratorium und Beichtstuhl.

Die Nächstenliebe, die Wohltätigkeit, die Solidarität aller Menschen sind Mittel zu diesem hohen Zweck. Unser Ziel sei: die Leiden der Menschen tunlichst zu verringern. Man muß einen Stützpunkt für diese mächtigen Hebel suchen und finden; einen festeren Stützpunkt als den Kinderglauben an die ewige Seligkeit. Wir müssen versuchen, alles, was über unser Verhältnis zueinander und Weltganzen entdeckbar ist, von der Wissenschaft zu erfahren. Was kann es uns anfechten, daß der menschliche Geist auch seine Grenzen hat? Wissen, daß man nicht alles Wissen kann, ist schon weisem denn auf diesem Satz beruht alle Selbsterkenntnis. Wir sind schon soweit gekommen, eine ganze Folge von Ideen ist schon so weit gereist, daß jeder ehrliche Mensch sein Leben fortan einrichten kann, wie es für ihn u n d für seinen Nächsten am ersprießlichsten ist.

***
Die ersten Christen erlitten freiwillig den Märtyrertod im Zirkus; die Blutzeugen der Wissenschaft betraten freudig den Holzstoß. So viel wird von den heutigen Freidenkern gar nicht einmal verlangt. Möchten sie nur tun, wie sie denken; möchten sie und die Ihren nur wagen, den sozialen Vorurteilen zu trotzen; mehr braucht es nicht. So taten auch die ersten Christen, als sie den olympischen Göttern das Opfer verweigerten. Hätten die christlichen Blutzeugen und die Apostel auch n u r  geredet und auch  g e l i t t e n, nie wäre die katholische Kirche entstanden, niemals hätte sie solange allen Stürmen getrotzt.

Wir sind seit langer Zeit der Worte müde. Jetzt wollen wir Taten sehen. Jeder, der die Kraft hat, nach seinen Worten zu handeln, ist der inneren Befriedigung gewiß und steht hoch über Belohnung und Strafe. Sieg oder Untergang kann ihm gleich gelten. Die meisten freilich bleiben noch auf halbem Wege stehen. Sie selber empfinden ihre Schwachheit am schmerzlichsten. Darum kann ich nicht in den Ruf einstimmen: Steiniget sie! Viele, die am lautesten rufen, sind selbst nicht ohne Sünde. Ich halte es für besser und edler, den Schwachen zuzurufen: Fasset Mut!

(Autorisierte Übersetzung von G. Katz)