Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1909

Ernst Goth

Endre Ady

Ernst Goth – Budapester Journalist, Literat, Dramatiker und Übersetzer. Von 1909 bis 1922 Mitglied der Feuilletonredaktion des Pester Lloyd. Übertrug u.a. Werke Franz Molnárs ins Deutsche, schrieb das Libretto zu Dohnányis Oper „Der Tenor“. Freund von Thomas Mann, Kurt Tucholsky und Endre Ady (1877-1919), dessen Nachruf er im Pester Lloyd neben zahlreichen Rezensionen, Kritiken und Fachartikeln veröffentlichte. Goth gilt neben Béla Balázs als einer der ersten Theoretiker der Filmkunst („Montur und Filmzauber“, 1912; „Kinodramen und Kinomimen“, 1913). Im Pester Lloyd schrieb er einen aufsatz anlässliche Thomas Mann erstem Besuch in Budapest, 1913.

In Ungarn gibt es nun wieder eine literarische Bewegung. Hinter den Männern, die man noch gestern die „junge Garde” nannte, ist eine neue Jugend entstanden, die ungestüm und kampfbereit ihren Platz an der Sonne fordert, gegen alle Tradition Sturm läuft und ehrwürdige Autoritäten frech am grauen Bart zupft. Die braven Literaturgreise aber vergessen, dass auch sie einmal jung und frech gewesen, sehen in der lebens- und schaffensdurstigen Schar rohe Vandalen und in ihren Schriften das Sodom und Gomorha aller Literatur. Hüben und drüben setzt es spitze Worte und erbitterte Polemik und wer fähig ist, auch in der Gegenwart schon Geschichte zu sehen, der sieht bereits einen neuen Abschnitt in künftigen Literaturgeschichten, der von diesem Geplänkel erzählen wird. In diesem Abschnitte wird wiederholt der Name eines lyrischen Dichters genannt werden, der, wiewohl selbst mitnichten ein Kämpfer, doch die unmittelbare Veranlassung, den Ausgangspunkt der Fehde bildet. Dieser Dichter ist Endre Ady.

Man kennt ihn schon seit Jahren. Er lebte zumeist in Paris und sandte von dort journalistische, novellistische, namentlich aber lyrische Beiträge an das „Budapesti Napló“, dessen damaligem Chefredakteur Josef Vészi (damals Herausgeber von “Jung Ungarn” in Berlin, zuvor Pressechef des ung. Ministerpräsidenten, danach, ab 1911 bis 1937 Chefredakteur des PL, Anm.) es unvergessen bleibt, Adys Begabung als Erster erkannt und gefördert zu haben. Man las ihn, aber man ging an ihm vorbei. Nur manchmal erregte ein Wort, eine Wendung von bizarrer Kühnheit Aufmerksamkeit und natürlich auch Spott. In kurzen Abständen erschienen seine Gedichte auch in Buchform. Die Zahl jener wuchs, die ein Ohr für den neuen Ton hatten, der hier laut wurde. Die erregt und begierig hinter dieser eigentümlichen, durchaus neuen Verquickung von müder Dekadenz und ungebärdig wildem Ungarntum, von Innigkeit und Brutalität das Ringen einer starken selbstherrlichen Dichterkraft witterten.

Als sein vorletzter Band „Vér és arany“ („Blut und Gold“) erschien, durfte man bereits von einer Ady-Gemeinde sprechen, die in ihm den Anbruch einer neuen ungarischen Lyrik feierte. Im Zeichen seiner Kunst, die nun vielen der poetische Ausdruck der nach Ungarn verpflanzten, an europäischen Kulturen gesättigten modernen Seele schien, sammelte sich ein junger Dichterkreis, der sich siegesbewusst als Männer des „Morgen“ („A holnaposok“) und alles Gestrige als wertlose Makulatur bezeichnete. Gereizt und ihrer Mission als „Hüter heiliger Traditionen“ eingedenk, erhoben sich nun die Männer des „Gestern“ gegen die Jünglinge des „Morgen“ und da ihnen Ady als der Urheber all dessen erschien, was sie Wahnwitz und Verschrobenheit nannten, so richtete sich ihre Gegenwehr gegen ihn, obgleich nicht er der Angreifer gewesen.

Doch als der Eigenwilligste und Begabteste musste er den verdienten Herren, die über gelehrten Nachprüfungen finnischer Wortstämme im Königsberger Fragment und ähnlichen Bemühungen grau und lebensfremd geworden waren, ein Dorn im Auge und namentlich ein Ärgernis im Ohre sein. Seine Sprache war nicht ihre Sprache und wurde rasch als „nicht ungarisch“ erklärt. Nichts war natürlicher. Denn niemand hat in diesem Lande je solches Ungarisch geschrieben, noch weniger in solchem Ungarisch gedichtet.

Das war nicht mehr der bekannte und abgegriffene Formenschatz verspäteter Petöfi- und Arany-Nachahmer, der für Freiheits-, Trink- und Liebeslieder so bequeme fertige Klischees bot. Das war eine Sprache, die sich ihre Elemente bald aus dem mythischen Urborn östlicher Urheimat, bald aus der Realistik des Alltags, aus der Skepsis und Frivolität des Kaffeehausgesprächs, aus der Trivialität der Vorstadt, dann wieder aus der erhabenen Feierlichkeit der Psalmen, namentlich aber aus der wortbildnerischen Kraft einer unendlich differenzierten, von Ekstasen und Schmerzen durchwühlten, modernen Psyche holte. Eine Sprache, die für Stimmungen und Träume, wie sie jeder höher geartete Mensch unserer Zeit quälend und stumm empfand, in Bildern und Wendungen den erlösenden Ausdruck fand, der oft im ersten Augenblick verblüffte und dessen suggestive Kraft im nächsten bezwingen musste.

Es lebt in Ady etwas von der prachtvollen sprachlichen Prägnanz Peter Altenbergs. Er hat Worte von unfehlbarer Treffsicherheit, Worte, vor denen sich Tiefen öffnen, Worte, die blitzartig in Dunkelheiten des Gefühls hineinleuchten. (Beispiele, die Not täten, drängen sich in die Feder. Doch lässt sich Wortkunst in fremder Sprache wiedergeben? Auch die sorgfältigst übersetzte Lyrik bleibt eine tote Kunstblume.) Dass bei so unbedenklicher Bereicherung der Sprache vieles bizarr, selbst grotesk wirkte und zum Widerspruch reizte, war sehr erklärlich. Umso erklärlicher, als Ady oftmals auch das Wort nicht rein begriffsmäßig, sondern musikalisch, als Stimmungsbehelf verwendet, wie Verlaine, Baudelaire, Mallarmé es taten. Aber in dieser Sprache entstanden dann Gedichte von einer Gefühlseindringlichkeit und einer Plastik, die für Momente auch die Gegner verstummen ließ. Und in solchen Momenten schienen sie sich – gewohnt, „Parallelen“ zu ziehen – auf adäquate Erscheinungen der Literaturgeschichte zu besinnen.

Die Sprache war am Ende doch bloß Form. Und wie hätte – so fragten sich wohl etliche – die Sprache Petöfis oder Aranys etwa auf Kölcsey gewirkt? Man ließ ein wuchtigeres Geschütz auffahren; schleuderte Ady den Vorwurf der Vaterlandslosigkeit entgegen. Er sei kein Ungar, hieß es, er verbreite „verderblichen” Kosmopolitismus, sein Denken und Fühlen habe hier keine Heimat. Ignotus (Kulturredakteur des PL) hat zu Weihnachten an dieser Stelle ausgeführt, wie sich hinter den Forderungen des poetischen Chauvinismus stets verkappte Rückständigkeit und die Unfähigkeit verbirgt, Entwicklungen zu sehen und zu begreifen. Auch der Begriff nationaler Volkstümlichkeit ist Wandlungen unterworfen. Und das Nationalempfinden Adys, des Sohnes einer friedlichen, kulturbeflissenen, von Weltproblemen erfüllten Zeit, in der Eilzugsverbindungen und Telegraphenleitungen auch den spezifisch ungarischen Gesichtskreis unendlich weiteten, kann nicht mehr dasselbe sein, wie jenes Petôfis, der nie über die Grenze gekommen war und den Säbel nie abgeschnallt hatte.

Adys Ungartum ist nur ungleich differenzierter, ungleich intellektueller, doch um nichts schwächer. Es ist das Ungartum eines aus höher gearteten westlichen Kulturen halb unwillig, aber einem unzähmbaren Drange folgend immer wieder Heimkehrenden, der dieses Land mit seiner Rückständigkeit, mit seinen schwärmerischen Zukunftswünschen, seiner sorglosen Gegenwart, seinem pathetischen Stolz auf versunkene Größe („Balladen, Balladen will man hier“ – ruft er einmal), seinem Leichtsinn und seiner Traurigkeit liebt, weil er mit dem Bewusstsein des Fluches, ein Enkel zu sein, hier wurzelt, weil hier um alte Dächer kostbare Jugenderinnerungen schweben.

Das Ungartum eines, der sich dann, heimgekehrt, doch immer wieder hinaus, nach dem Westen, nach Paris sehnt, nicht mit der Sehnsucht nach geistig wertvollerer Umgebung, sondern nur instinktmäßig, mit dem brennenden Verlangen nach dem Rausch der Fremde, der wunderbar erregenden Mystik des Unbekannten. In keinem der vielen Gedichte, die von dieser hilflosen Wurzelhaftigkeit und dieser Unruhe sprechen, tritt die ganze Eigenart dieses im Westen heimischen Urmagyaren mit so naiver Ehrlichkeit zu Tage, wie in jenem, das mit den Worten anhebt: „Páris az én Bakonyom“ („Paris ist mein Bakonyerwald“) Und in einem anderen, das auch seinen besten beigezählt werden muss („Az ös Kaján“), schildert er sein Ringen mit dem Dämon der tollen Leidenschaftlichkeit, des altungarisch wüsten Zechens, dem Dämon, der ihm den ewigen Fluch Ungarns bedeutet und der auch ihn immer wieder bezwingt und unter den Tisch trinkt. In einer anderen Vision besucht ihn Csokonai und er begrüßt ihn voll Freude, einen von seiner Art zu sehen, einen, der dies Land schmähen durfte und doch ein guter Ungar war. Dann wieder singt er von Ungarn: Salziger sind hier die Tränen, schmerzlicher die Schmerzen; der Messias dieses Landes, er wird ein tausendfacher Messias sein.

Und einmal fragt er, sich stolz gegen seine Kritiker wendend: Ich bin kein Ungar? Die herzhafte Vaterlandsliebe Petöfis und der heilige Zorn Berzsenyis blitzten ihm da aus den Augen. Doch im Bilde seines Schaffens geben Gedichte dieser Art nur den Hintergrund ab. Im Vordergrunde stehen die drei Gewalten, die sein ganzes Sein beherrschen und die den Mittelpunkt seiner Natur bilden, von dem aus er um den Sinn des Lebens ringt: Der Taumel, der Tod und Gott. Er sucht den Taumel, den Genuss, die Höhen des Selbstvergessens. Unter „dem Lebensbaum“ sieht er mit geballten Fäusten zu den roten Früchten empor, die er nicht erreicht, da er ewig im Staube liegen bleibt, er, dem tausend gastliche Gestade winken und der ewig am Ufer umherirrt, weil sattes, zum Genusse unfähiges Philistertum auf dem Golde sitzt, das ihm die Freiheit, die Schönheit, das Leben bedeuten könnte. („A mi urunk: a Pénz.“) Den Taumel findet er nur an den Lippen seiner Leda. Er liebt sie mit einer wilden, verzehrenden, ekstatischen Liebe und er vergleicht diese Liebe, die fast nur noch Erotik ist, mit einem Schiffe, das auf dem toten Meere seiner Seele dahin zieht – weiche Frauenarme sind seine Ruder – und das dort versinken wird. Manchmal ergeht sich sein Liebesverlangen in weiten Visionen. Er sieht den Palast, wo in tausend Gemächern dürstend all die Frauen ruhen, die er je begehrt – und er muss zähneklappernd und küsselos von dannen zeihen. Es gibt wenige Gedichte, in denen das polygam-männliche Empfinden so starke Wildkraft gewänne. Auf dem Gipfel des Genusses, inmitten jauchzender Ekstasen fühlt er dann die gespenstische Nähe des Todes. Diese Nachbarschaft von höchster Lebensfreude und Vernichtungsgrauen zieht sich als physiologisch eigenartiges Motiv durch die ganze moderne Dichtung.

Bei Schnitzler erscheint es am häufigsten und es wurzelt wohl in der ewig reflektierenden Skepsis des modernen Menschen, dem sich der Gedanke an die Vergänglichkeit, an das Seltsame, Zufällige, Unerklärliche des Daseins einem Schatten gleich auch auf die sonnigsten Stunden breitet. Und diese ewig gefühlte Nähe benimmt dem Tod in der Dichtung Adys alles Grauen. Er liebt ihn, er fühlt sich ihm verwandt („Én a Halál rokona vagyok“), er umschließt alles Sterbende, Müde, Welkende mit weicher Zärtlichkeit. Strebens- und lebensmüde zählt er sich dann oft selbst zu den Gezeichneten, deren Weg bald abwärts führt, und dann hat er Stunden einer weihevollen Gottergebenheit und einer Andacht, die von aller Kirchenfrömmigkeit ebenso weit entfernt ist, wie etwa die biblisch prophetischen Gottanrufungen des Zarathustradichters.

Namentlich sein jüngster Band („Az Illés szekerén“) bringt eine volle Garbe solcher Gesänge, voll brünstigen Flehens nach Ruhe, Frieden und Ergebenheit der Seele. Man ist, wenn man derart die Themen im Werke eines Lyrikers kennzeichnen will, in derselben Lage, als wolle man die Schönheit einer Sinfonie dadurch begreifbar machen, dass man einzelne ihrer Motive in Worten – in Worten, die nicht die kleinste Melodie vermitteln können – zu schildern versucht. Die Feinheiten, die geistvollen und stimmungsgewaltigen Reize der Instrumentation, hier der oft ergreifende Zauber von Adys Wortkunst, der Sinn, die Kraft, die Tiefe seines Wollens, die Weite seines Phantasiefluges – all das kann nur genannt und nicht auch erfasst, geformt, dargestellt werden, wo ein Anführen von Beispielen sich durch die fremde Sprache verbietet.

Aber allen, die für den künstlerischen Ausdruck unserer Tage Sinn und Liebe haben, sei die Lektüre dieses Dichters ans Herz gelegt, dessen Wert vom Literatengezänke, das sich um ihn erhob, nicht berührt wird. Er wird zurzeit in beiden Lagern falsch eingeschätzt. Jene, die in ihm eine Verirrung der Zeit sehen, irren ebenso wie die anderen, die ihm höchsten Ruhm und weite Volkstümlichkeit prophezeien. Volkstümlich wird Ady in seiner nervösen Zerrissenheit, seiner sprunghaften Nervosität, seinem Raffinement, seiner Ungebärdigkeit nie werden. Doch in seinen Liedern gewinnt manches Worte, was in leise gleitendem Traum, in vorbeiziehender Gefühlsdämmerung irgendeinmal durch die Seele aller empfindsamen Menschen von heute geschwebt ist. Und so wird sein Publikum stets ein kleines, aber es wird das Beste sein.

EGY JÖVÔ KÖLTŐ
Mikor majd a magyar kerteben
Elfogyott az ember: a rózsa,
Marad egy szent, szomorú legény
S annak lesz még sírnivalója.
Jövô legény, be irigyellek,
Aki nótáját akkor zengi,
Mikor a mi nagy Magyar átkunk
Nem sínyli, hallja senki, senki.

Endre Ady

EIN DICHTER,
DER ERST KOMMEN WIRD
Wenn im Garten Ungarns einst der Mensch
Schon ausgestorben ist: die Rose,
dann bleibt ein reiner, trauriger Geselle
und findet Gram genug in seinem Lose.
Ferner Dichter, wie beneid ich dich!
Du lässt erst dann dein Lied erklingen,
wenn dich der große Fluch der Ungarn nicht mehr
ereilt, und keiner, keiner hört dein Singen.
Nachgedichtet von Alfred Marnau
 

7. Februar 1909