Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1911

Max Nordau

Die Moral ohne Gott

Einführende Worte zu Max Nordau hier

Das totgehetzte Hamletzitat muß wieder dienen: „Es ist etwas faul im Staate Dänemark.“ Jeder Tag bringt seinen Skandal. Wenn er ihrer nämlich nicht ein halb Dutzend auf einmal bringt. Die Polizei erhält Befehl, den Bauernfänger Rochette ins Kühle zu setzen. Doch ehe sie den Auftrag vollzieht, fixt jemand, der um ihn weiß, die Papiere des faulen Gründers an der Börse und streicht mehrere Millionen ein. Die beschlagnahmte Milliarde der geistlichen Orden versickert in den Taschen der gerichtlich bestellten Vermögensverwalter und der eine Gauner, der für die übrigen büßen muß, Duez, verantwortet sich damit, daß die Gerichte seine Geschäftsführung geprüft und mustergültig gefunden haben. Hamon bestiehlt das Ministerium des Aeußern um Hunderttausende, meint aber lächelnd und achselzuckend, er habe das Recht auf Unterschlagung gewissermaßen ersessen, da er es seit fünf Jahren übe.

Maimon erhält jeden Abend mit der Regelmäßigkeit eines pünktlich arbeitenden, wohlgeordneten Dienstes die geheimen Staatspapiere, die während des Tages im Auswärtigen Amt eingelaufen sind, und ist tief entrüstet, daß man ihn wegen seiner sympathischen Neugier strafrechtlich behelligt. Polydor, Balensi, Clementi verleihen großmütig Orden und machen keine Schwierigkeit, die Ministerialsekretäre zu nennen, die ihnen angeblich die Diplome geliefert haben. Aus den Zeitungen, die mit diesen und ähnlichen Geschichten gefüllt sind, quillt ein Verwesungsduft, der dem Leser den Atem verschlägt. Gouvernementale Naturen sind empört, daß man solche Ärgernisse an die Öffentlichkeit zerren läßt, statt sie weise und vorsorglich zu vertuschen, und erklären bekümmert: „Frankreich wird nicht regiert.“ Die Sozialisten reiben sich die Hände und frohlocken: „Da haben wir die Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft.“

Erst im Zukunftsstaate wird wieder die Tugend herrschen. Freilich klagt ein Bericht der Seinepräfektur, daß die Genossen an der Arbeiterbörse wie die Raben stehlen und alles einstecken, was nicht niet- und nagelfest ist, nicht nur die Schreibmaschinen ihrer Gewerkschaftsstuben, sondern auch die Überzieher und Eßkober der Kameraden; aber das werden sie sich wohl nach dem großen Kladderadatsch abgewöhnen. Die Rückwärtser knurren mit Grabesstimme: „Die Republik ist eine Diebshöhle und Mördergrube. Frankreich wird erst wieder Reinlichkeit kennen, wenn die Monarchie es mit dem großen Kehrbesen ausgefegt haben wird.“ Die moralisierenden Schriftsteller aber gehen der Erscheinung philosophisch oder doch mit Philosophiegebärden zu Leibe, fragen nach dem Grunde der Verderbnis und empfehlen unerschrocken Allheilmittel gegen sie.

Der Grund? Was braucht man da lang zu suchen? Er liegt auf der Hand. Die Kirche war der Schutzengel der Gesellschaft. Man hat ihn verfolgt. Man will ihn vollends verscheuchen. Die Republik hat dem Glauben den Krieg erklärt. Sie hat Gott aus der Schule verjagt. Sie hat den alten bewährten Katechismus durch das Handbuch der weltlichen Moral, von Paul Bert, Buisson und anderen, ersetzt. Die Früchte dieser neuen Erziehung sind die Gauner im Frack und mit den Kommandeurkreuzen, deren Großtaten die Skandalchronik der Presse nähren. Man wird sich nicht wundern, dieser Meinung im Munde und unter der Feder der Frommen und der Frömmler zu begegnen. „Dem Volke muß sein Glauben erhalten werden!“ psalmodieren sie allzeit und überall. Merkwürdig ist aber, daß sie auch von Schriftstellern geteilt wird, die sich als Freidenker bezeichnen.

Ich habe mich hier über das erbauliche Traktätlein in Dramenform „Der Tribun“ des Laienkirchenvaters Bourget verbreitet. Durch ein Wunder des heiligen Geistes geschah es, daß gleichzeitig mit dem gesinnungssüchtigen Vorkämpfer von Thron und Altar ein anderer Schriftsteller, politisch, sozial, philosophisch sein Gegenfüßler, der radikale Paul Hyacinthe-Loycon, genau das nämliche Drama schrieb und auf den Bahnen der gleichen Handlung vom gleichen Ausgangspunkt zum gleichen Schluß gelangte. „Der Apostel“, wie dieses im Odeon gespielte Seitenstück zum „Tribun“ heißt, verkündet dieselbe Weltanschauung wie dieser. Ein alter Sturmgeselle von 1848, streng rein und idealistisch, eine Vereinigung aller antik römischen und puritanischen Tugenden, wird in einem kritischen Augenblick seinem Widerstreben zum Trotz zum Minister ernannt, um die gefährdete Republik zu retten. Er hat sein Leben lang für die Aufklärung gekämpft.

etzt hat er die Macht, seine Grundsätze in Staatsgesetzen zu verkörpern, sein Volk durch die Schule vom Dogmenzwang zu befreien. Wie der Tribun hat der zur Regierung berufene Apostel einen einzigen Sohn, und wie jener muß er entdecken, daß der Erbe seines Blutes und seines Namens ein abgefeimter Gauner ist. Die Verteidigung des ertappten Verbrechers ist in beiden Fällen dieselbe, nur daß sie mit anderer Betonung vorgetragen wird. Der Sohn des Apostels, wie der des Tribuns, wirft dem Vater vor, daß seine Erziehung ihn zu dem gemacht hat, was er ist, nur läßt Bourget sein Lümpchen klagen und bereuen, während Loysons Lump mit sich ganz zufrieden ist und mit seiner Verworfenheit zynisch prahlt. Bei der Aussprache mit dem Vater macht der Sohn des schmerz- und zornbebenden Apostels sich über dessen „sittliche Bedenken, die nicht mehr von unserer Zeit sind“, lustig. „Alle Welt verkauft sich heute. Ich bin ein Sohn meines Jahrhunderts. Die Lappen der Urvätervorurteile zerreiße ich. Ich habe nur ein einziges Leben zu leben, ehe ich in das Loch purzle. Ich will es voll und ganz haben. Ich will alles genießen, was es der Mühe wert macht, gelebt zu haben.“ Ein Teil seiner Missetat besteht darin, daß der Verworfene mit seiner eigenen Schuld, der Annahme einer schmachvollen Bestechung aus der Hand der Klerikalen, das Andenken seines Sekretärs belastet, eines hochgesinnten, ideal sittenreinen Jünglings, der wegen unglücklicher Liebe freiwillig in den Tod gegangen ist. Der Apostel spricht ihm von den heiligen Mahnungen des Gewissens, dem geheiligten Andenken der Toten, der Verkündigung an dem Gestorbenene. Ein Sohn höhnt: „Kann das Nichts noch Rechte bewahren? Was sind das für Pfaffenworte, die Du in Deinem Wortschatz eines Gottesleugners noch mitschleifst? Fast möchte man meinen, daß Du noch immer an die Unsterblichkeit der Seele und an all die Ammenmärchen glaubst, die zu verscheuchen Du Dich seit vierzig Jahren anstrengst. All das ist doch zugleich mit Gott gestorben.“ „Schweig, Schuft!“ schreit der Vater außer sich; „Du weißt ganz gut, daß es einen sittlichen Trieb, ein Sittengesetz gibt.“ „Das ist alles Mumpitz,“ gibt der Sohn kalt lächelnd zurück.

Also: aus dem „Apostel“ des Freidenkers Paul Hyacinthe-Loycon geht dieselbe Lehre hervor wie aus dem „Tribun“ des Glaubenseiferers Paul Bourget. Die Lockerung der Sitten, die zu einer Lebensgefahr für die dritte Republik geworden ist, erklärt sich aus dem alle Volksklassen durchdringenden Materialismus. Der Typus der Ministersöhne, die ihre Stellung zu einträglichen Gaunereien benützen, vervielfältigt sich grauenerregend, weil zugleich mit dem Glauben die Gewissen erstorben sind, und die mit der weltlichen Moral genährte Jugend nur einen Lebenszweck kennt und gelten läßt: Genießen, genießen mit allen Sinnen und um jeden Preis. Es gibt nur einen Ausweg aus diesem Morast. Er führt zum Glauben zurück.

Loyson hat sich gegen diese Deutung seines Werkes verwahrt, aber es läßt keine andere zu. Vergebens weist er darauf hin, daß der Apostel selbst, obschon ein Gottesleugner, der sein Leben damit verbracht hat, die im Finstern spukenden Gespenster des Uebersinnlichen mit den Blitzlichtern der Aufklärung zu verscheuchen, ein Pflicht- und Gewissensmensch, lauter wie Gold, ein Stoiker bis zur Selbstaufopferung ist. Diese Gestalt verteidigt die Ungläubigen nicht gegen die Anklage der Ruchlosigkeit. Gewiß, die Welt hat Heilige gekannt, die mit ihrer ganzen Persönlichkeit im Diesseits standen und keine Jenseitsillusion nährten, einen Littré, einen Ludwig Büchner, einen Herbert Spencer, die noch lebenden Elysée Reclus und Kropotkin. Der Apostel von Loyson ist ein Mann dieses Schlags; er hat den Glauben verloren, doch mit ihm nicht die Sittlichkeit zugleich. Er hat den Glauben jedoch nur verlieren können, weil er ihn besessen hat. Er gehört dem alten Geschlecht an, das noch in der Religion wurzelte und erst allmählich zur Aufklärung hinüberwuchs. Seine Kindeslippen haben Gebete gesprochen. Fromme Ueberlieferungen waren die ersten Erzieher seines erwachenden Geistes. Die Vorstellung der Gotteskindschaft hat den Knaben verschüchtert, geweiht und erhoben. All diese strahlende Musik konnte der Verstand später überschatten; sie auslöschen konnte er nicht. Sie sank ins Unbewußte hinab und erhielt sich dort geheim und mächtig, die unsichtbare Kiellast, die ihn in allen Lebensstürmen aufrecht hielt und im Wogenaufruhe sein Kentern verhinderte. Seine moralische Würde legt Zeugnis ab für die unzerstörbare Kraft des Glaubens, nicht dafür, daß auch Unglaube edle Sittlichkeit zeitigen kann. Für die Beweisführung kommt erst die zweite Generation in Betracht, die Nachkommenschaft des Tribuns und des Apostels, die Jugend, die heute Fußball spielt, politisch strebert und auf amerikanische Erbinnen pürscht. Diese eleganten Söhnchen sind in der neuen Weltanschauung aufgewachsen. Ihre Kindeshändchen haben nicht gelernt, sich zu falten. Ihre Nüstern haben Peau d’Espagne viel früher geschnuppert als Weihrauchduft. Das Innere einer Kirche haben sie erst kennen gelernt, als sie Inventare aufnahmen und Reliquienkästchen mitnahmen, um sie an amerikanische Gammler zu verschachern. Sie erst sind die wirkliche Frucht der weltlichen erziehung und der Moral ohne Gott. Und sie denunziert Loyson ganz so als Ungeheuer wie Bourget.

Sie sind nicht die einzigen, die es tun. Die angstvolle Ueberzeugung, daß mit dem Glaubensfundament auch der Sittlichkeitsüberbau in Trümmer fällt, ist allgemein. Der Ruf nach einer neuen Grundlage der Moral ist ein Gemeinplatz. Vor Bourget und Loyson haben Francois de Curel im „Neuen Götzen“, Marie Lenéru-Dauriac in den „Befreiten“, um nur zwei Namen anzuführen, ihn von der Bühne herab in die Menge gerufen. Das macht Eindruck; und nicht nur auf die Ganz-Seichten. Geister, die sich aufgeklärt glauben, halten eine Ueberprüfung ihrer Weltanschauung für notwendig. Sie übersetzen die Plakatschrifttitel der Standardrubriken in den Zeitungen in das assyrische „Meine Tekel Upharsin“. Hamon und Chédanne, Maimon und Rouet, Clementi und Balensi scheinen ihnen von der Vorsehung bestellte Warner vor dem nahen Abgrund. Sie flüchten sich vielleicht noch nicht unmittelbar in den Schoß der Kirche, aber sie blicken scheu nach einem diskreten Seitenpfad aus, der sie auf einem Umweg möglichst unbemerkt zu diesem Ziele führt. Das erklärt den Erfolg des Pragmatismus von William James, diesem sophistischen Erneuerer des Hegelschen „Alles, was ist, ist vernünftig“, und der Institutionsphilosophie von Bergson, diesem füßelnden Ekstatiker mit dem ultramodernen Psychologenjargon. Jeder Heidenmissionär im gut geschnittenen Gehrock und mit wissenschaftlich tuender Sprache hat den Zulauf dieser uneingeständigen Glaubensdurstigen und die wirklichen Priester, die geweihten und tonsurierten, stehen im Winkel und reiben sich lächelnd die Hände. Sie empfinden Intuitionsphilosophie und Pragmatismus nicht als unlauten Wettbewerb. Im Gegenteil. Mit ihrer weiblickenden Klugheit erkennen sie in den William James und Bergson trotz eines leichten Anflugs von Ketzerei betriebsame Reiseonkel in ihrem transzendenten Heilsartikel, die ihnen neue weite Kundenkreise zuführen.

Und doch sind alle Voraussetzungen der bangen Propheten faslch und die Scheinlogik, mit der sie die Skandale des Tages aus der Moral ohne Gott und aus ihnen die Apologie des Glaubens ableiten, von trostloser Oberflächlichkeit. Die Anklagen gegen unsere Zeit, wie Bourget und Loyson sie zeternd erheben, haben Beispiele in allen Zeiten. Seit die Menschen angefangen haben, ihre Stimmungen schriftstellerisch zu veräußerlichen, haben sie immer über den Verfall der Sitten und die allgemeine Verderbtheit geklagt und für sie die Abkehr von den frommen Ueberlieferungen der Altvordern verantwortlich gemacht. Wir haben da nur einen besonderen Fall des Gumploviczschen „Akrochronismus“ und „Akrotopismus“, jener geistigen Sehtäuschung, infolge deren man die eigene Zeit und den eigenen Ort als Gipfelwerte in Zeit und Raum wahrnimmt, die alles an Bedeutung übertreffen, was man irgendwann und irgendwo beobachtet hat. Trotz Hamons, Chédannes usw., trotz der etwas erkünstelten Bestürzung und Aufregung der Politiker, die mir dem Müll des Gesellschaftslebens ihren Parteiacker düngen, ist die Gegenwart nicht verderbter als irgendeine frühere Zeit, in Frankreich so wenig wie anderwärts. Die Kriminalität kann dies mit der ihren Ziffern eigenen Genauigkeit beweisen. Die übereifrige Berichterstattung einer Nebenerscheinung des hochentwickelten modernen Zeitungswesens und des Wettbewerbes der Blätter, weckt durch maßlose Aufbauschung einzelner Fälle die früher wenig beachtet worden oder gänzlich unbekannt geblieben wären, allein den Schein einer allgemeineren und tieferen Sittenlosigkeit.

„All das ist zugleich mit Gott gestorben,“ läßt Loyson sein feines Aufklärungsfrüchtchen vom Gewissen, von der Achtung vor dem Andenken der Toten, von der Ehre sagen. Nun ja. Die Wohlgesinnten haben immer Gottesfurcht und gute Sitte miteinander gesellt, jene als die Quelle bisher angesprochen. Doch das Leben spottet grausam dieser absichtsvollen Legende. Portugal ist noch eines der glaubensstarken Länder Europas. Die portugiesische Monarchie ist aber unter der Wucht von Skandalen zusammengebrochen, neben denen die der gottlosen dritten Republik federleicht wiegen. Wenn die Gottesfurcht überall schwindet, im Gebiete des Islam behält sie ihre ganze Macht über die Gemüter. Der Thron Abdul Hamids aber ist im bodenlosen Sumpfe der Verderbnis versunken. Das sind Gegenwartserscheinungen, die jeder Zeitungsleser ohne gelehrte Forschung nachprüfen kann. Und nun erst die Vergangenheit! Wie lange ist es her, daß die Räuber und Mörder Kalabriens und Andalusiens, ehe sie ihre Verbrechen begingen, vor einem Altar der heiligen jungfrau niederknieten und um glückliches Gelingen beteten? Vielleicht tun sie es heute noch. Und wann waren die Verbrechen häufiger und gräßlicher als im glaubensstarken Mittelalter? Die Verwegenen, die, um ihren Heißhunger nach Sinnenluft, nach Macht und Reichtum sättigen zu können, ihre Seele dem Teufel verschrieben, waren sicherlich keine Materialisten, sondern Gläubige. Das hat sie nicht tugendhafter gemacht. Andererseits weiß man, daß die Japaner in ihrer ungeheuern Mehrheit ein Volk ohne übersinnliche Religion sind. Sie glauben an kein Jenseits, wo Lohn und Strafe ewig sind. Sie wünschen keine Unsterblichkeit der Seele, sondern im Gegenteil, soweit sie noch äußerlich Buddhisten sind, die Vernichtung der Persönlichkeit als äußerstes Glück. Sie haben höchstens den kleinen Aberglauben der Salonfreidenker, die nicht zu dreizehn bei Tische sitzen wollen, am Freitag Reisen vermeiden und angstbleich werden, wenn sie das Salz verschütten. Und dieses Volk ohne Gottesfurcht ist des erhabensten Idealismus fähig; seine Moral ohne Gott gibt ihm Heldentaten der Aufopferung ein, die Blutzeugen und Heilige ehren würde.

Der große Irrtum der dramatischen und anderen Bußprediger, die über den Zusammenbruch der Offenbarungsmoral jammern und händeringend nach einer neuen Grundlage der Sittlichkeit rufen, ist, daß sie die Moral für eine Funktion des Verstandes halten und sich vorstellen, man übe das Gute und meide das Böse nach einer wohlgesetzten Theorie in drei Punkten, aus einleuchtenden Gründen, die die Vernunft vorrechnet, und nachdem man sich kühl kritisch befragt hat, ob man Handeln und Unterlassen dialektisch rechtfertigen könne. Das ist aber nicht der seelische Hergang. Loysons Apostel hat ganz recht: es gibt einen Sittlichkeitstrieb, der tiefer wurzelt als in der Verstandessphäre. Er ist elementar, er wächst aus dem Grundgefühl des Menschen, wie jedes Lebewesens, dem Selbsterhaltungsdrang, heraus; erst ist eine scheinbar paradoxale Form der Selbstflucht; er hält die rein selbstischen Strebungen des Individuums zum Wohl und Heil des Individuums nieder; er verteidigt dessen Dauerinteressen gegen seine augenblicklichen Appetite und Kaprizen. Die Sittlichkeit ist automatisch aus dem Zusammenleben des Menschen mit seiensgleichen entstanden. Sie ist ein unvermeidbares Erzeugnis der Gesellschaft. Sie ist die systematische Rücksicht auf den Nebenmenschen, aus Sympathie mit wahrgenommenem fremden Ungemach und heilsamer Furcht vor Vergeltung gewoben.  Sie haben sich im laufe einer vieltausendjährigen Entwicklung verfeinert, aber dies sind die ersten schlichten, meinethalben groben Elemente der Sittlichkeit. Die Moral in Aktion, war vor jeder Moraltheorie da.

Diese ist erst hinzugetreten, als die Menschen längst moralisch handelten. Sie entsprach dem kausalen Denken, das immer nach Ursachen fragt und sie wohlgemut erfindet, wenn sie es nicht findet. Sie befriedigte das Bedürfnis des Bewusstseins, sich die vom Unterbewußtsein angeregten und geleiteten Handlungen rationell oder mindestens verbal zu erklären. So hat man der Moral wie einem erstbesten protzigen Emporkömmling Ahnen aus der Theologie angedichtet, aber das hat ihre Macht nicht erhöht, als man an ihre allervornehmste himmlische Abstammung glaubte, wie es diese Macht nicht vermindert, daß man ihr plebejische Herkunft aus der Gesellschaft, das heißt aus der Menge und ihren Notwendigkeiten, erkannt hat.

Die Moral ohne Gott wird ebenso haltbar sein wie die mit Gott, solange die Gesellschaft sich wird behaupten und gegen die rücksichtslos selbstischen Appetite ihrer Mitglieder verteidigen wollen. Verliert die Gesellschaft die Kraft und Fähigkeit der Selbstbehauptung, dann allerdings ist es mit der Moral, sie sei theologisch oder rationalistisch begründet, zu Ende, aber die Strafe der Immoralität des Einzelnen sind dann die unerträglichen Übel, die ihm aus der durch den Zerfall der Gesellschaft sich ergebenden Anarchie erwachsen. Der Sohn des „Apostels“ wird am Schlusse des Stückes ins Gefängnis geworfen. So erfährt er am eigenen Leibe, daß es die von ihm geleugnete Moral gibt. Der Gendarm führt im Namen der Gesellschaft diesen Beweis. Und ohne Gendarmen ist auch die theologische Moral unwirksam. Denn was ist der Teufel, der den Sünder mit ewigem Höllenfeuer bedroht, anderes als der Gendarm der geoffenbarten Moral.