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Aus dem Pester Lloyd von 1911

Max Nordau

Superlativismus

Der Rezensent der Apokalypse - Zivilisationskritik nennt sich das Fach, dass praktisch um ihn herum geschaffen wurde, weil er aller Fächer Rahmen sprengte. Gemeint hat er mit seinen Texten in jedem Falle auch die Literaturwissenschaft, die es nicht unterlassen konnte, Max Nordau (geb. als Maximilian Simon Südfeld in Pest 1849, gestorben  923 in Paris) den Hut des "großen Kritikers des fin de siécle" aufzusetzen, wo er doch viel in Paris lebte. Der Begriff Jahrhundertwende war für einen solchen Kapazunder einfach zu schnöde.

Die latente Sprachverrohung im deutschen Feuilleton wird dem Publikum in "Superlativismus" durch einen Exkurs in die Psychoanalyse eingeleitet und arbeitet sich dann, wie an einer rhetorischen Doppelhelix, zur allgemeinen Kultur- und Zivilisationskritik empor, schonte nichts und niemanden und ging so gründlich und logisch vor wie ein Mathematiker beim Lösen einer Gleichung, bei der am anderen Ende auf jeden Fall eine Null herauskommen mußte. Den Hang zur vollständigen Entkleidung seiner Objekte teilte er mit Karl Kraus, der barsche Humor identifiziert ihn und die sprachliche Kraft, als handelte es sich bei jedem Text um eine Rezension der Apokalypse selbst.

Nordau, praktisch der Testamentsvollstrecker Theodor Herzls, machte - was heute tragisch-kurios erscheint - häufig vom Begriff der Entartung Gebrauch. Er meinte damit aber eben nicht die Herabwürdigung des Andersartigen sondern mehr die Beobachtung, dass am Apfelbaum des Lebens oft menschliche Birnen wuchsen, die nach Himbeeren dufteten. Dem heutigen Leser werden beim Lesen dieses Textes unvermeidlich, und nun, da es angesprochen, noch unvermeidlicher, die heutigen Ausdünstungen von PR-Textern, Ausstellungskuratoren, Eventmanagern, Politikern oder TV-Experten und sonstiger allgegenwärtiger Sprachverhunzer, Schönfärber und Klugscheisser - eben Superlativisten - einfallen, die Nordau 1911 mit diesem Text schon einmal für alle Zeiten durchrezensiert hat und aus deren Produkten unser Berufsstand tagtäglich versucht, Gehalt zu sezieren, zu restaurieren und zu klassifizieren, um das Ergebnis anschließend in menschliche Sprache zu übersetzen. Die zugegebene Mäßigkeit des Gelingens ist Beleg für den katastrophalen Zustand des Ausgangsmaterials. m.s.

Das Wort bedarf keiner Erklärung. Es ist durchsichtig. Es bedeutet die Sucht, jeden Eindruck, jedes Gefühl, jedes Werturteil, ganz besonders dieses, in die allerstärksten Ausdrücke zu fassen, die die Sprache darbietet oder die man eigens erfindet, weil man den vorhandenen Wortschatz als zu dürftig verschmäht.

Zwei Menschengattungen ist der Hang zur Maßlosigkeit natürlich: den Irrsinnigen und den Marktschreiern. Geisteskranke, die an einem systematisierten Delirium und an manischer Erregung leiden, haben sehr wenige, doch sehr starke Empfindungen und ihr Bewußtsein ist von einer sehr kleinen Anzahl Vorstellungen erfüllt, oft nur von einer einzigen, um die der ganze Denkvorgang in stürmischem Wirbel verläuft, wie die Wasser eines reißenden Stromes um einen in seiner Mitte aufragende Felsenklippe tosen und schäumen. Diese Kranken sind ohne Zusammenhang mit der Wirklichkeit und ohne Verständnis für sie; ihre heftigen Innengefühle machen sie gegen Eindrücke von außen unempfindlich; ihre Zwangsvorstellungen verdrängen alle anderen Gedanken und überschatten das ganze Weltbild. Der Sinn für Verhältnismäßigkeit und die Fähigkeit der Vergleichung objektiver Erscheinungen miteinander und mit deren subjektiver Abspiegelung in ihrem Geiste ist ihnen verloren gegangen. Ihr Bewußtseinsinhalt an Gefühlen und Bildern hat für sie die Bedeutung des Absoluten und wenn sie sich ihrer Dränge und inneren Gesichte sprachlich entäußern, so scheint ihnen keine Bezeichnung, kein Affektwort wuchtig genug, um der beispiellosen Bedeutsamkeit ihrer Vorstellungen gerecht zu werden. Nietzsches Schriften, besonders die aus späterer Zeit, der vierte und letzte Teil von "Also sprach Zarathustra", "Der Antichrist" usw., sind gute Proben dieser sich überschlagenden, stets die höchsten Tonlagen erkletternden Redeweise der Verrückten mit akuter oder chronischer Manie.

Bei den Marktschreiern liegt der Fall ungleich einfacher. Bei ihnen ist die äußerste Übertreibung keine innere, sondern eine äußere Notwendigkeit, kein organischer Zwang, sondern zweckstrebige vernünftige Absicht. Sie schwellen ihre Stimme gewaltig, um den Lärm der Kirmes zu übertönen, um die Aufmerksamkeit gebieterisch auf sich zu lenken, um die Hörer zu verwirren, zu betäuben, zu hypnotisieren und durch Lähmung ihres Urteilsvermögens ihrer Suggestion zu unterwefen.

Die natürlichen Superlativisten, die Irrsinnigen und die Marktschreier, dienen vielen Nachahmern zum Vorbild, die ihr schrilles und groteskes Ausrufergeschäft nicht aus triebhaftem Drang, sondern kühl methodisch anwenden, weil ihnen die Manier eindrucksvoll, schön, wirksam und namentlich hochmodern scheint. Von der Geschäftsreklame sei hier abgesehen.Sie ist die höher entwickelte Form des Marktschreiertums. Die Reklame ist zu einer Wissenschaft und Kunst ausgebildet worden. Sie ist ein Zweig der angewandten Psychologie. Ihre tüchtigsten Spezialisten machen eigentlich vom Superlativismus nur noch einen sehr beschränkten Gebrauch. Er scheint ihnen die Kindheit ihrer Kunst, über die sie hoch hinausgewachsen sind. Sie wissen, daß der ungewohnte Eindruck die Aufmerksamkeit ebenso sicher weckt wie der massige und sie bemühen sich mehr eigenartig und neu als ungeheuerlich zu sein. Das eigentliche Gebiet, wo die Nachahmung des Superlativismus in seinen beiden natürlichen Formen, der irrsinnigen und er marktschreierischen, nahezu unumschränkt herrscht, ist die zeitgenössische deutsche Kritik. Ich sage ausdrücklich: die deutsche; denn der methodisch geübte Superlativismus ist eine spezifische Erscheinung des deutschen Geisteslebens der Gegenwart und außerhlab des deutschen Geisteslebens trifft man ihn nur vereinzelt an als eine Geckerei schriftstellerischer Zierbengel, die sich durch Nachäffung einer ausländischen Mode interessant machen wollen.

Der Nachwuchs, der in den letzten fünfzig Jahren in die Reihen der Literaturbeflissenen eingerückt ist, hat augenscheinlich nicht gelernt, einer Erscheinung ruhig gegenüberzutreten, sie kaltblütig ins Auge zu fassen, sie messend und wägend zu prüfen, sie vergleichend neben andere zu halten, sie in eine höhere Gesamtheit einzuordnen und ihr in dieser den ihr zukommenden Platz anzuweisen. Er ist scheinbar immer bis zum Siedepunkt erhitzt. Man sieht ihn nicht anders als dampfend, brodelnd, überkochend. Er tut immer, als wäre er ins Ekstase. Er gebärdet sich dauern wie außer sich. Man lese die landläufigen Kritiken, Studien, Essays, die von den Menschen und Dingen der Gegenwart, namentlich von den ästhetischen, als den schönen Künsten, der Musik, dem Theater, dem Schrifttum handeln. Sie sind durchweg Musterbeispiele des Superlativismus. Der Aufschrei, die Hyperbel, ist ihr einziges rhetorisches Effektmittel.

Die Sprache taumelt in einem unregelmäßigen, hastigen Rhythmus dahin, den man beschönigend dionysisch nennt, weil er in der Tat einigermaßen an das Torkeln Betrunkener erinnert, die über ihre eigenen Beine stolpernd rasche Zickzacke beschreiben. Sie suchen den Eindruck zu machen, als wären sie in hohem Fieber, mit rollenden Augen und fliegenden Pulsen geschrieben. Sie wollen von dem Verfasser die Vorstellung erwecken, als sei er der Phytia ähnlich, die, vom Gotte besessen, auf ihrem ehernen Dreifuß hockend, von den aus der Unterwelt aufquillenden heiligen Dämpfen umqualmt, sich in Krämpfen windend, mit schäumendem Munde unzusammenhängende, mit übermenschlichem Geheimnis vollgeladene Worte hervorstößt. Die Sätze sind abgerissen und fragmentarisch. Sie stottern und stammeln. Es fehlt ihnen ein wesentlicher Redeteil, Subjekt und Prädikat. Die Wortfolge wird auf den Kopf gestellt; was nach dem Gebote der Login an den Schluß gehört, wird an den Anfang gestellt, und umgekehrt. Der Text ist über und über mit Ausrufungszeichen verhagelt. und neben diesen wimmelt es von Gedankenstrichen und Punktreihen. Es ist die Interpunktion der leidenschaftlichen Aufregung. Auf den ersten Blick soll der Leser erkennen: hier stockte dem Verfasser der Atem; hier versagte ihm, da er von der unerträglichen Fülle der Geschichte überwältigt war, gänzlich das Wort und er konnte nur Punkte hinsetzen, die, von tiefstem Sinne schwer, das Unaussprechliche wenigstens ahnen lassen.

Ich will nur einige Beispiele anführen. In der Besprechung eines erbärmlichen Dutzendromans, den nie zehn Leser öffnen werden, heißt es: "Dieses Buch schaut uns mit Ewigkeitsaugen an... Tiefstes hat es uns zu sagen... Und Feinstes..."Über ein karikaturales Bildwerk: "Entrissen ist es dem Stein - geformt ist es mit göttlichen Schöpferhänden! - - - Überrieselt ist es von allen Gedankenströmen der Zeit ..." Über ein Bändchen angeblicher Verse, deren sinnloser Galimathias meist öde, gelegentlich aber auch von köstlicher unfreiwilliger Komik ist: "Eine neue Stimme ist dieses schmale Buch..." (Nebenbei bemerkt: das Buch ist nicht schmäler als alle anderen; es hat genau dieselbe Breite wie jeder Band des üblichen Oktavformates; doch die Anwendung bekannter Wörter in einem gänzlich falschen Sinne ist gleichfalls eine der Eigentümlichkeiten dieses Modestils; schmal soll hier dünn bedeuten.) "Eine neue Stimme ist dieses schmale Buch... eine kosmische Stimme. Eine absolute... Worte gewinnt hier das Unendliche. Seine Geheimnisse offenbaren diese Gedichte. Oder verschleiern sie. Lassen sie ahnen..."

Man wäre zu glauben versucht, daß diese einander zum Verwechseln ähnlichen Anführungen einem einzigen Verfasser entlehnt sind. Das ist nicht der Fall. Sie sind den Aufsätzen verschiedener Urheber entnommen. Ihre Ähnlichkeit ist ein Familienzug. Das ist eben die Sprache, derer sich heute der kritische Essay allgemein bedient. Ich unterlasse es, Namen zu nennen, weil ich hier nicht polemisieren oder Zensuren austeilen, sondern eine Zeiterscheinung schildern will. Die Schriftsteller, die den Modejargon handhaben, suchen einander in der tollen Verstiegenheit zu überbieten. Da Werk, die Person, das künstlerische Ereignis, über die sie schreiben, sinken zur Bedeutungslosigkeit hinab. Sie sind kaum ein Anlaß, meist nur ein Vorwand. Die Superlative sind Selbstzweck. Die Orakelei um der Orakelei willen.

Worauf es ankommt, das ist, eine Unerhörtheit zu erfinden. Alles hat den Ehrgeiz, orphische Urworte zu prägen, ob es sich nun um das Gastspiel einer Chansonettensängerin in einem Sommertheater oder um eine neue Damenhutform handelt. Diese Schreibweise geht auf eine einzige gemeinsame Quelle zurück: auf Nietzsche. Wie im voraufgegangenen Menschenalter jeder Dichterling sich auf den kleinen Heine hinausspielte, so posiert im gegenwärtigen jeder Zeilenspinner für den kleinen Nietzsche. Um in den Literaturcafés als berechtigt anerkannt zu werden und für voll zu gelten, muß er irrsinnig tun. Seine Aufsätze müssen den Anschein erwecken, als wären sie zwischen zwei Aufenthalten in der Abteilung der Aufgeregten geschrieben.

Weshalb der Superlativismus die natürliche, in dem einen Fall aus inneren organischen, in dem anderen aus äußeren praktischen Gründen gebotene Ausdrucksweise der Verrückten und der Marktschreier ist, haben wir gesehen. Ich will jetzt versuchen, den psychologischen Wurzeln der Übertreibungssucht derjenigen nachzugraben, die weder das eine noch das andere sind, jedoch die Art der einen und der anderen nachahmen.

Die Maßlosigkeit der Werturteile, die Übertreibung der Behauptungen, die allzu grelle Färbung der Eindrücke ist im geistigen Ausdruck der Gedanken und Gefühle dasselbe wie in der physischen Veräußerlichung der Bewußtseinszustände das Sprechen mit überlauter, schreiender Stimme, das heftige Gestikulieren mit frenetischen Zappelbewegungen und das gewaltsame Verzerren der Miene. All diese Züge sind in erster Reihe ein schlüssiger Beweis schlechter Erziehung. Sie lassen auf den ersten Blick Mangel an Kinderstube, die Gewohnheit des Verkehrs in den niedrigsten Kreisen und bei aller scheinbaren Arroganz eine äußerst geringschätzige Selbstwertung, mit einem Worte Pöbelhaftigkeit erkennen. (...)

Superlativismus ist also der Gegensatz zur Vornehmheit. Er setzt bei dem, der ihn gewohnheitsmäßig anwendet, fehlende oder schwache Inhibition und ungezogen Rechthaberei voraus, die sich mit Gewaltmitteln des Überschreiens, Betäubens und Einschüchterns durchzusetzen sucht. er schließ ferner eine tiefe Verachtung der Zuhörerschaft in sich, an die er sich wendet. Der (...) Superlativismus ist endlich ein unbewußtes Bekenntniss, daß man sich unzuständig und geringgeschätzt weiß. Wer sich seiner Kompetenz und Autorität bewußt ist, der hat es nicht nötig, dick aufzutragen. Er ist sicher, daß man jedem seiner Worte die Beachtung schenkt, auf die es Anspruch hat, und daß man ihm glaubt, was er sagt, ohne daß er es zu wiederholen, hinauszuschreien, zu unterstreichen und in Fraktur vorzutragen braucht. (...) Herrschaft der Pöbelhaftigkeit, Bekenntnis der Unzuständigkeit und des vollständigen Mangels an Autorität, niedrigste Einschätzung des Erziehungs- und Bildungsgrades der Leser, das ist die Bedeutung des Superlativismus, der in der heutigen deutschen Essayliteratur der allgemeine Ton ist.

Weitere Texte im PL:

1867 („Ein Altarbild”, Nov., schriftstellerisches Debüt!)

1908 („Das schreckliche Jahr”, 26. Jan.) („Der häusliche Herd”, 22. Mär.) („Die Marsbewohner und wir”, 19. Apr.) („Die Antike im Tingeltangel”, 29. Mai) („Die englische Malerei”, 27. Jun.) („Die Ehrfurchtsbeule”, 26. Jul.) („Die weiße Stadt”, 20. Aug.) („Das Paris der Romantik”, 20. Sep.) („Der Lebensroman der Romandichterin”, 1. Nov.) („Die lebenden Toten”, 15. Nov.) („Der Artikel 213”, 25. Dez.)

1909 („Psychologie der Grausamkeit”, 23. Jan.) („Catulle Mendés”, 14. Feb.) („Entdeckungsreisende”, 21. Mär.) („Das Neue und das Alte”, 11. Apr.) („Hundert schöne Frauen”, 20. Mai) („Jean de Lamarck”, 27. Jun.) („Aus der Ruhmesküche”, 25. Jul.) („Die Flugära”, 20. Aug.) („Steine von Venedig”, 26. Sep.) („Der ehrgeizige Milliardär”, 30. Okt.) („Nach der Freisprechung”, 21. Nov.) („Ein wenig Religionsgeschichte”, 25. Dez.)

1910 („Montmatre”, 25. Dez.)

1911 („Chinesische Malerei”, 29. Jan.) („Fortschrittsflegelei”, 26. Feb.) („Fraktätleindramatik”, 28. Mär.) („Halbtalente”, 16. Apr.) („Superlativismus”, 25. Jun.) („Aristokraten”, 30. Jul.) („Ein Besuch bei Böcklin”, 27. Aug.) („Der Einfühler”, 29. Okt.) („Der Terrorist – Eine Seelenanalyse”, 24. Sep.) („Das schwarz-grüne Bändchen”, 26. Nov.) („Prinzessinnen”, 24. Dez.)

1913 („Das Ewig-Weibliche”, 16. Feb.) („Kriegsstimmung”, eine Prognose, daß alle Zeichen in Europa erneut auf Krieg stehen!, 23. Feb.) („Kinokultur”, 23. Mär.)