Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1913

Graf Julius Andrássy
Geheimer Rat, Minister a.D., Reichstagsabgeordneter

Ungarn und die auswärtige Politik seit 1867

Die Geschichte des „Pester Lloyd“ ist mit der auswärtigen Politik verwoben. Seit seiner Begründung hat er sich in der ganzen ungarischen Presse vielleicht am konsequentesten mit den Fragen der auswärtigen politik befaßt. Und da mein Vater es war, der seit dem Ausgleich den entscheidendsten Einfluß auf die auswärtige Politik der Monarchie und auf Ungarns Stellungnahme gegenüber Europa geübt hat, so standen mein Vater und der „Pester Lloyd“ in engster Verbindung miteinander. Diese Rücksicht bewegt mich dazu, an dem Gedenkfest des Blattes mit Vergnügen teilzunehmen, obgleich unsere politischen Wege dermalen auseinandergehen. Mag die Pietät für die Vergangenheit den Gegensatz der Gegenwart überwinden.

Die Epoche, die in der Geschichte Ungarns die Zeit von 1867 bis jetzt ausfüllt, ist sehr bedeutungsvoll. In diesem Zeitabschnitt geschah es das erste Mal, daß die ungarische auswärtige Politik und ungarische Staatsmänner als solche die dynastische Politik des Hauses Habsburg beeinflußten.

In der Vergangenheit waren die meisten inneren Krisen daraus hervorgegangen, daß es zwischen der auswärtigen Politik Ungarns und derjenigen der Dynastie keine Übereinstimmung gab. Heischten alle unseren Lebensinteressen, daß unser Herrscher sich mit seiner achtunggebietenden Macht nach dem Osten wandte, so verfing sich unsere Dynastie in dem Labyrinth der westlichen Probleme. Ferdinand I. hatten unsere Vorfahren deshalb gewählt, weil sie hofften, sein Bruder Karl V. würde für Mohács Vergeltung schaffen. Allein die weltgeschichtliche Bedeutung der anderweitigen Kämpfe Karls V. machten diese Hoffnung zunichte.

Dieser Enttäuschung entstammten die ersten Unstimmigkeiten, die ersten Konflikte zwischen Dynastie und Nation. Und das Verhängnis der Ungarn hat es gefügt, daß, als schließlich nach sekulären Versäumnissen die türkische Aggression das Haus Habsburg dennoch zur Aufnahme des Kampfes gegen die erobernde Macht des Ostens zwischen Donau und Theiß nötigte, auch diese auswärtige Politik, wiewohl sie dem ungarischen Interesse konform war, nicht mit Hilfe der Ungarn und nicht im Zusammenhange mit einer efriedigung der Ungarn ins Werk gesetzt wurde.

Auch blieb die Monarchie der aktiven Orientpolitik nicht lange treu. Trotz der siegreichen Laufbahn des Prinzen Eugen beherrschten die deutsche und die italienische Frage die Wiener Politik; mit dem Orient befaßte man sich nur ausnahmeweiße und nur dann, wenn Ereignisse, die dem Willen der Wiener Machthaber entrückt waren, das orientalische Problem in den Vordergrund gestellt hatten.

Erst der Ausgleich vom Jahre 1867 und der deutsch-französische Krieg 1870-71 stellten den endgültigen Einklang zwischen der auswärtigen Politik der Monarchie und den Interessen Ungarns her. Die Kriege der Jahre 1859 und 1866 hatten die Monarchie umgestaltet. Die Gebiete und die Machtstellungen waren verloren gegangen, die bis dahin naturgemäß eine aktive Politik im Westen bedungen hatten. So war das richtig erfaßte auslandspolitische Interesse der Monarchie mit den auslandspolitischen Interessen der Ungarn identisch geworden.

Meinem Vater fiel der geschichtliche Beruf zu, dieser neuen politischen Wendung der Dynastie und Ungarns die Richtung zu geben und diesen Einklang der Interessen in Wien sowohl wie in Budapest zur Geltung zu bringen. Die völlige Identität der Interessen der Dynastie mit denjenigen Ungarns gelangt in seiner Persönlichkeit wohl zum treffendsten Ausdruck. Er war ein Ungar durch und durch; vor dem Schreibtische Metternichs beseelte ihn dasselbe ungarische Gefühl, dasselbe ungarische Bewusstsein, das ihn bei Pákozd in den Kugelhagel des Schlachtengewühls geführt und das nachher das gegen ihn gefällte Todesurteil provoziert hatte. Gleichwohl dachte er in der Leitung der auswärtigen Politik der Monarchie keine Sekunde lang an ungarische Sonderinteressen, sondern er ließ sich immer von einer einzigen Rücksicht bestimmen, von der Rücksicht auf die gemeinsamen Interessen der Dynastie und der Monarchie. Er wußte, daß, wenn er die letzteren schützt, er dadurch auch den ungarischen Interessen am besten dient. Und er hatte darin vollständig recht. Die traditionelle und richtige ungarische Politik wurde in der Tat zur einzig möglichen Politik auch für die Monarchie.

Diese Politik beruhte auf zwei Grundgedanken. Der erste dieser Grundgedanken war der Verzicht auf die Expansion nach dem Westen und an Stele der letzteren die Begründung des innigen politischen Bündnisses mit den westlichen Nachbarn. Die erste Aufgabe meines Vaters als Ministerpräsidenten bestand darin, die Wiederaufnahme der früheren nach dem Westen hin offensiven Politik zu verhindern. Noch geraume Zeit nach Königgrätz behauptete sich der Revanchegedanke. Er war das Endziel der Beustschen Politik. Mein Vater warf den Einfluß Ungarns nach der entgegengesetzten Seite in die Wagschale, und nach mancherlei Schwierigkeiten führten die Erfolge der deutschen Waffen, die Tage von Wörth und Sedan den ungarischen Standpunkt zum Siege. Die Freundschaft mit den westlichen Nachbarn, die restlose und endgültige Versöhnung, ja Freundschaft mit dem neuen Deutschland und dem neuen Italien wurde zum unabänderlichen und unveräußerlichen Gute unserer auswärtigen Politik. Vielleicht den größten historischen Ruhm unseres Herrschers werden die beispiellose Objektivität und das Pflichtgefühl bilden, die sein inneres Wesen vollständig umgestaltet und es ermöglicht haben, da0 er nach mannhaftem Kampf die ererbten säkulären Gegensätze im Interesse seiner Völker zu einer treuen, vorbehaltlosen, zuverlässigen Freundschaft gewandelt hat. Als mein Vater das Ministerium des Aeußern übernahm, war der Revanchegedanke bereits begraben, aber wir befanden uns infolge der verfehlten Politik noch in schwieriger Lage. Die Monarchie war von einem hochgradigen Mißtrauen umringt; die uns benachbarten beiden Großmächte Deutschland und Rußland waren einander verbündet, und wir waren aus diesem Bündnis ausgeschlossen, eine Kombination, die für uns die möglich ungünstigste war. Die Beustsche Politik und die Erinnerung an den Krimkrieg hatten uns isoliert.

Durch seine konsequente Politik hat mein Vater es von Stufe zu Stufe erreicht, daß wir dem Doppelbündnis beitraten, unsere Beziehungen zum Deutschen Reiche von Tag zu Tage sich inniger gestalteten, und als die Orientpolitik Rußlands das weitere Zusammengehen mit dem letzteren unmöglich machte, Bismarck sich an unsere Seite stellte und unsere Allianz suchte. Das diesfällige Werk meines Vaters fand in dem Zustandekommen unseres Bundesverhältnisses mit dem Deutschen Reiche seine Krönung.

Italien gegenüber ist es auf seine Initiative zurückzuführen, daß unser Herrscher den König von Italien in Venedig besuchte, was den Eindruck auf die italienische Phantasie nicht verfehlte und die Freundschaft mit Italien festigte. An ein formelles Bündnis mit Italien dachte mein Vater nicht. Er besorgte, einem solchen Bündnis würde die Gegenallianz Frankreichs und Rußlands auf dem Fuße folgen; so betrachtete er denn inmitten der voneinander isolierten europäischen Großmächte das enge Bundesverhältnis mit dem Deutschen Reiche als vollständig zureichend. Allein er unterhielt mit Italien ein so gutes Verhältnis, daß wir Bosnien und die Herzegovina mit italienischer Zustimmung besetzen konnten, ohne daß von italienischer Seite dafür irgend ein Gegenwert geheischt wurde, was auch später, zur Zeit des formellen Bündnisses, kaum erreichbar gewesen wäre.

Als mein Vater von der Leitung des Ministeriums des Aeußern zurücktrat, war die einzig bestehende feste Allianz Europas das Bündnis der beiden mitteleuropäischen Nachbarn, wodurch uns eine dominierende Stellung gewährleistet war, und gleichzeitig waren wir mit England und Italien durch die Bande des Vertrauens und der Freundschaft verknüpft.

Nach ihm entwickelte sich der Zweibund durch den Anschluß Italiens zum Dreibunde, der ursprünglich vielleicht eher dem deutschen Interesse als dem österreichisch-ungarischen gefrommt haben mag, heute jedoch der Dreierentente gegenüber ein Gebot sowohl des europäischen Gleichgewichts wie auch unserer spezifischen Interessen darstellt.

Indessen dieses friedliche Verhältnis mit dem Westen bildete nur eine der Grundthesen der neuen auswärtigen Politik der Monarchie. Die andere drückt sich in dem Gedanken aus, daß wir die auf solche Art erworbene Sicherheit und die aus unseren Bündnissen gewonnene Machtstellung zur günstigen Beeinflussung der Entwicklung des Orients zu nützen haben. Diese ständige Forderung der ungarischen Politik wurde zu einem Hauptpfeiler der Politik der ganzen österreichisch-ungarischen Monarchie. Auf den Westen gestützt, hatten wir in der Bestimmung der Entwicklung des Ostens nach den Geboten unserer eigenen und der westeuropäischen Interessen unsere Aufgabe zu erblicken.

Die erste große Frage, über die wir uns klar zu werden hatten, war die, ob wir für die Integrität der Türkei Stellung zu nehmen haben, ob wir um dieses Zieles willen uns nötigenfalls in einen Kampf einlassen sollen. Mein Vater würde dies als einen großen Fehler erachtet haben. Gewiß, die türkische Nachbarschaft war für unsere Monarchie eine große Bequemlichkeit. Sehr treffend hatte Fürst Metternich gesagt, diese Nachbarschaft habe für uns die negative Wirkung, wie ein Meer an den eigenen Grenzen, denn sie schütze uns vor jeglichem Ueberfall. Dennoch durften wir uns nicht mit der Sache der Türkei identifizieren. Mein Vater von der Ueberzeugung durchdrungen, daß wir Unmögliches unterfangen würden, wenn wir die europäische Macht der Türkei unverkümmert aufrechterhalten wollten. Er war überzeugt, die Türkenherrschaft in Europa werde sich nicht lange behaupten können. Das zerfallende Türkenreich mit seiner inneren Anarchie, mit seiner gouvernementalen Unfähigkeit und seinen eklatanten Mißerfolgen auf diesem Gebiete war sinnfälligerweise außerstande, die sich stürmisch entwickelnden, mit abendländischen Zivilisation verknüpften christlichen Völker für die Dauer friedlich zu beherrschen. Insbesondere war dies im Hinblick auf die herkömmliche Politik Rußlands und auf das immer stärker werdende europäische Gemeingefühl der Fall. Auf uns allein gestellt, isoliert, hätten wir für die Erhaltung eines wankenden Reiches gegen das die notwendige Entwicklung vertretende Rußland einen Kampf auf Tod und Leben führen müssen. Wenn wir Metternichs Politik fortsetzen, machen wir Rußland zum Herrn des Orients, ganz abgesehen davon, daß wir auch unsere eigene slavische und griechisch-orthodoxe Bevölkerung in einem Zustand beständiger Unzufriedenheit gedrängt haben würden. Der Einfluß der ungarischen Nation, will er nicht im Innern und nach außen in gleicher Weise unerträglich werden, darf weder slavenfeindlich noch antirumänisch sein, sondern er muß im Bündnis mit dem Germanentum und sich auf das Germanentum stützend, die rumänischen und slavischen nationalen Individualitäten in ihrer rechtmäßigen Entwicklung beschützen. So war es denn unser Beruf, im türkischen Reiche die Reformen zu ugieren und dort die wirklichen Interessen der christlichen Völker zu vertreten. Einzig auf diese Art können wir den Gefahren des Panslavismus entgehen und, an der steigenden Wohlfahrt des Orients teilnehmend, auch unseren eigenen Fortschritt wirksam verbürgen.

Durch geraume Zeit schien es fraglich, ob die öffentliche Meinung Ungarns sich dieser Auffassung anschließen würde. Mit Koloman Titzas Hilfe gelang es jedoch dieser Richtung zum Siege zu verhelfen. Nach Ueberwindung der ersten Schwierigkeiten nahm die öffentliche Meinung Ungarns definitiv und vollständig diesen Standpunkt ein. Die Nation begriff endgültig diese, der alten ungarischen Tradition und unseren Interessen entsprechende Politik, sie identifizierte sich mit ihr und harrte durch alle Phasen hindurch bei ihr aus.

Ich will nicht die einzelnen Peripetien der Orientpolitik meines Vaters anführen; das würde diesen Ausführungen einen zu großen Umfang geben. So weise ich denn bloß auf das erzielte Ergebnis hin. Ohne daß wir einen ernsten Krieg zu führen hatten, ward in Berlin bei der neuen Einrichtung der Balkanhalbinsel unser Wille maßgebend. Während Europa den Frieden von San Stefano in Stücke zerschlug, den Rußland um den Preis großer Opfer an Gut und Blut erzielt hatte, und während der europäische Wille auf dem Berliner Kongreß den Abmarsch der russischen Heere von der Balkanhalbinsel innerhalb eines Präklusivfrist anordnete, zog unsere Monarchie auf Grund eines europäischen Mandats endgültig und beständig zum Zwecke der Besetzung und der Verwaltung in Bosnien und die Herzegovina ein. Wir faßten dadurch Fuß in einer starken Stellung. Im Orient erwartete jegliches Interesse von uns seine Befriedigung. Und von panslavistischer Seite traf das Odium nicht uns, sondern England und Bismarck, welch letzterer dadurch in einen solchen Gegensatz zu Rußland geriet, daß er um unsere Freundschaft werben mußte.

Diese großen Ergebnisse sollten aber im Sinne der Konzeption meines Vaters lediglich den Ausgangspunkt einer großzügigen aktiven Orientpolitik bilden, deren Ziel kein Besitzerwerb war, sondern bloß die Sicherung unseres Einflusses mit der damit einhergehenden geistigen und wirtschaftlichen Verbindung und bei Wahrung der politischen Freundschaften. Unsere Aufgabe war, den Balkanvölkern ihre Unabhängigkeit durch eine solche Entwicklung zu sichern, die unseren Interessen und den richtig erfaßten Interessen Europas nicht zuwiderläuft. Als Gegenwert dieser Politik schwebte ihrem Urheber die Wohlfahrt der christlichen Balkanvölker und unser aus der Freundschaft mit ihnen hervorgehender Kräftezuwachs vor.

Es galt bloß, die Erdrückung der geschichtlichen und völkischen Individualitäten dieser Nation durch die Eroberungen eines inneren, bodenständigen Faktors zu verhindern; und es galt bloß, den Prozeß zu fördern, daß die bestehenden Volksarten des Balkans samt und sonders innerhalb gewisser Ständigkeit und Sicherheit verheißender Grenzen entwicklungsfähig bleiben und auf kulturellem Gebiet tatsächlich Fortschritte machen; es galt bloß zu vereiteln, daß die Neugestaltung auf dem Balkan keine panslavistische, panrumänische, panserbische Richtung einschlage.

Dem Zusammenbruch des Türkenreiches wie es aus dem Berliner Vertrag noch hervorgegangen, zu beschleunigen, wäre ein Fehler gewesen. Wir durften unser Schicksal nicht an ein durch den russischen Sieg geschwächtes Reich knüpfen und nicht zur alten Metternichschen Politik zurückkehren, nachdem wir die Schwächung der Osmanenmacht gestattet hatten. Wir mußten das Bestreben haben, der Türkei so viel Lebenskraft zu geben als irgend möglich war, aber auch darauf zu achten, daß wenn sie gleichwohl niederbräche, ihr Sturz nicht die Auflösung des Gleichgewichts zwischen den übrigen Balkanstaaten im Gefolge habe und daß keine fremde Großmacht das osmanische Erbe antrete.

Diese Politik ist durch die Monarchie ständig befolgt worden. Oesterreich-Ungarn setzt die herkömmliche ungarische Politik fort, nicht infolge eines ungarischen Druckes, sondern in richtiger Einschätzung seiner eigenen Interessen. An dieser Grundlage hielten bis zum heutigen Tage sämtliche maßgebenden Faktoren fest: der Monarch, die Parlamente und Delegationen der beiden Staaten und die Regierungen. Für den Erfolg genügt es aber nicht, die richtigen Grundprinzipien festzuhalten. Der Erfolg hängt auch von der Energie und der Gewandtheit ab, mit denen diese Grundprinzipien vertreten werden.

Es ist nicht meine Absicht, die auswärtige Politik der jüngsten dreißig Jahre zu kritisieren und den Maßstab der im obigen auseinandergesetzten Prinzipien an die Arbeit jedes einzelnen Ministers des Aeußern zu legen. Ich drücke bloß meine individuelle Ueberzeugung aus, daß die Fortsetzung nicht so erfolgreich war wie der Anfang. Wir haben mehr denn einmal größere Unterlassungen und Fehler begangen, und auch heute stehen wir nicht da, wo wir stehen könnten, wenn wir den Berliner politischen Sieg folgerichtig auszubeuten verstanden hätten.