Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1913

Porzó

Brief von der Andrássystraße

Wieder wend ich mich zu dir, o du alte Radialstraße, deren Grundrisse auf der Wiener Weltausstellung mit geringschätzendem Zweifel empfangen wurden. Was ist denn das für eine Utopie? Das wird ja nie und nimmer zur Wirklichkeit. Niemals! Dieses Dorf da unten – lächerlich! – möcht’ gern Großstadt werden.

Doch das ist ja egal. Denen dort oben werden wir ja nie behagen. Umso weniger, je mehr wir uns ihrer Stadt nähern in Glanz, Prunk, Gedeihen, Bevölkerung.

Zweifellos: diese unsere Radialstraße hätte man auch breiter zuschneiden können. Ja aber, war doch schon die Erweiterung der Stadt selbst in unseren Augen ein verwegenes Unterfangen, eine sanguinische Großtuerei! Die entwerfenden Baumeister haben, nachdem sie der Straße Länge und Breite ausgesondert, kümmerliche Häuser hineingesetzt. Und da es für große Verhältnisse, reiche Gliederung und Quader nicht reichte: wurde der brave Maurer zum Bildhauer befördert, der die korinthischen Kapitäle aus lockerem Mátyásfölder Ziegel in der Hand zurechthämmerte. Die übrigen Zieraten, aus Gips gepreßte Göttinnen, wurden über das Blindfenster gesetzt oder als Karnatiden unter den Ecker, um mit den  schwellendenMuskeln der ausgestreckten Arme die Luft zu stützen.

Und dennoch: nie hat sich diese Gassenzeile’ entwickelt, da das warme, pulsierende Leben in ihr zog! Denn ich kannte sie noch zu jener Zeit, als die Radialstraße aus verschanzten oder umzäunten Häusergründen bestand. Aus dem einen Grund schlugen halbbekleidete, samthäutige Somalineger ihr Zelt auf, auf dem anderen lagerten halbentkleidete Indianer, auf dem dritten biß der als blutgieriger Papua maskierte Hordár Isidor Rosenblatt einem lebendigen Huhn den Kopf ab und tanzte den timbuktanischen Kriegscsárdás und heulte dazu wie ein verwundeter Schakal. Auf dem vierten Baugrund wiederkäute eine Kuh, bis dann – auf daß sie reichlicher Milch gäbe – die dralle Magd des freien Gärtners kam mit gesalzener, kleiiger Burgunderrübe und schenkte der herumspringenden Theresienstädter Kinderschar die ungeseihte „kuhwarme“ Milch aus. Hie und da kam auch schon eine Villa unters Dach und jammernd fragten die Leute: „Mein Gott! Wer kommt denn daher wohnen, so weit hinaus? Nur armes, bedrängtes Volk.“

Nun, sie kamen hieher wohnen, so weit hinaus. Und nicht einmal das arme, bedrängte Volk, sondern die Wohlhabenden, die angezogen wurden von der größeren Bequemlichkeit und der besseren Luft dieser Gegend.

*

Und jetzt haben sie kaum mehr Platz und ich fürchte, daß trotz des aus ästhetischen Empfinden entstandenen Verbotes an der zweiten Hälfte des Weges die Mauern weiter hinaufragen werden, und das hohe Dach wird aus den Wolken auf sie gesetzt. Mir ist bange um diesen Teil der Stadt, ihm drohen die wildgewordenen Baukrämpfe. Schon haben sie mehrere Häuser, trotzdem sie noch keine Zeit hatten, auch nur ein wenig Patina anzulegen, angefallen. Neue Häuser werden angetragen, und wo sie standen, werden noch neuere Häuser gebaut. Sie haben die berühmte „Sechs-Sieben“ (das gemeinsame Kasino dieser beiden Vorstädte) zur Strecke gebracht. Wo einst der Theresienstädter Könige kreierende Warwick, mein Jugendfreund Paul Tencer, Könige geschaffen und gestürzt und Heere angeführt hat, wo er blutige Rednerschlachten schlug; über’m Tisch mit seiner Beredsamkeit seinem Kandidaten Getreue erobert und unter’m Tisch dem Gegenkandidaten zur Verderbnis Minen gelegt hat, die er manchmal auch springen ließ; wo in der Politik und im Katenspiel der Schauplatz so vieler Gefolge und Stürze war; wo sein Prunksaal strahlte, rosig von Frauen und Mädchen, der Schauplatz so vielen sieghaften Zaubers, wo Lieder des Poeten erklangen, Witz und Geist des Conférencier sprühte – aus alldem wurde mit seinen gewaltig großen Dimensionen ein Kirchen zum Zwerge machendes Warenhaus, worin, damit es nicht aus dem Budapester Stil falle, auch noch ein Kaffeehaus ist, und selbst ein Kino dabei, und wo alles zu haben ist vom Ei an bis zum reifen Hahne, vom Seidenfaden bis zur beschleppten Samttoilette, von Fächer bis zum Ventilationsrad, alles.

Ein ähnliches Schauspiel bot sich mir einst in London, auf der Regent-Street, im unfangreichen Magazin von Rawlinson. Sein Tor war die untere Oeffnung seines Anfangbuchstabens R, hinter seinem runden Oberfenster suchten sechs Stück Stahlbronzekanonen und einige nette Schiffsmörser zu gefallen. Sie empfingen den Besucher fast mit dieser Aufmunterung: „Gentleman! Sollten Sie mit irgendeiner Macht Krieg führen, können wir Ihnen getrost unser reichhaltiges Kanonenlager empfehlen. Wollen Sie gefälligst näher treten!“

Dort habe ich aber eine noch merkwürdigere Szene erlebt. Ein anderer Manager muntert eine abgerissene Figur der Straße, ein ungekämmtes, struppiges, schmieriges Subjekt auf, einzutreten. Auf dem einen Korridor wird der Gast plötzlich von einer finsteren Seitentür verschlungen. Es dauert keine halbe Stunde und zur Tür des gegenüberliegenden Korridors trat der Schmierfink als ein sorgfältig gekleideter, glattrasierter, in Locken frisierter Herr uns entgegen. Dieses Wunder hat, um der gesegneten Reklame willen, das Warenhaus Rawlington vollbracht. Es gleicht ihrer Wundermaschine, in deren Oeffnung der lebendige Hase hineingeworfen wird, der nach kurzer Zeit an einer anderen Oeffnung als fertiger Hut, an einer dritten als ein am Rost gebratener Hase wieder zum Vorschein kommt. Ich habe weder jenen Hut getragen, noch von diesem Braten gegessen, doch Wunder bleibt wunder. Das ist derselbe Rawlinson, der für die Kolonien komplett ausgerüstete Städte auf Lager hält, in denen eine fertige Kirche der Gläubigen harrt; eine geordnete Schule die Schüler erwartet; ein prächtiges, luftiges Theater das Publikum lädt. Zwar hat es das im ersten Viertel der Andrassystraße erbaute Warenhaus noch nicht so weit gebracht, doch kleine „Taschen-Dreadnoughts“ sind auch dort schon zu haben.

Ich spaziere weiter. Kaffeehaus und Kino. Kino und Kaffeehaus. Bei dem einen wollen wir Halt machen. Es ist das Lager des „Bajda“ (der populäre Kosenamen des altbekannten Karl Eötvös), das berühmte Café „Abbazia“. Warum wird auch dieses Hauptquartier des vorzüglichen ungarischen Schriftstellers nach dem fälschlich die Riviera benamseten Quaruero genannt? Jetzt wurde das Café „Abbazia“ neu geschmückt; doch weder Wand noch Decke deuten auch nur mit einem Anflug auf den Taufparten hin. Kein Segel, kein Wogenkamm erinnert an ein Dasein am Meeresufer. Würde man doch seines Rufes halber wenigstens einen Hain darin zeigen. Was im Grunde genommen eine Unaufmerksamkeit ist. Doch seitdem, diesem Beispiel folgend, in der Hauptstadt mehrere Kaffeehäuser mit derartig italienischen Namen entstanden, wird die italienische Geographie geplündert. Nacheinander kommen Nizza, Bordighera, Taormina, Amalfi, Palermo. Vielleicht in der Hoffnung, daß sie sich je einen Karl Eötvös fangen. Doch hiervon gibt es weniger als da italienischen Städte sind. Insbesondere von Karl Eötvös gibt es nur einen.

*

Das alte „Abbazia“ wurde erweitert, der runde Tisch des Bajda wurde hinausgedrängt. Einst gehörte auch ich zur Korona. Wahrhaftig, wie vor Zeiten in der Spinnstube, so hingen wir an den Lippen des alten Märchenerzählers, als der seine Geschichten von jenseits der Donau begann, dessen einzelne Perlen er in seinem Buche über den Plattensee aufreite. Da kamen die Taten des Sobri Jóska an die Reihe, es wurden die wundersamen juristischen Fälle der „Fiskuszeit“ berührt, die graue Wahrheit wurde mit den glänzenden Blumen seiner fruchtbaren Phantasie durchwoben. Seinen Helden exponierte er immer anders. Und dadurch änderte sich auch die Szenerie, doch alles, was geschah, geschah am Ufer des Plattensees, vielleicht auch gar die Einwanderung der Ungarn. Auch die Gefangennahme Napoleons, auch die Irrfahrt Rákóczis, auch die Flucht des Schwedenkönigs Karl, als der Fonnóder Bauer die Majestät auf seinem fahlen Karren bis zur Grenze brachte. Seine Geschichten bespickte er mit spaßigen Randbemerkungen. Es ist eigentümlich, daß er nur seine eigenen Scherze liebte, über sie auch bis zur Erschütterung lachte, über die Anekdoten der anderen konnte er bloß grade nur lächeln. Nur über den mit mächtigen Flüchen durchsetzten Vortrag der Abenteuer eines Freundes, des Unger Athleten Uray, konnte er lachen bis ihm die Tränen kamen.

In der belletristischen Produktion lange Pausen haltend, kamen dann plötzlich seine Bücher nacheinander. Wir konnten sie nicht rasch genug lesen, trotzdem wir sie hastig schlürften. Dennoch muß ich darüber nachdenklich werden, warum sie nicht von jener großen Wirkung waren, die sie doch gewiß verdient hätten. Und auch darüber, daß wir ja noch einen erstrangigen ungarischen Belletristen haben, wie noch nie einer die verborgenen Schönheiten des ungarischen Volkslebens besser sah, als er. Er überraschte sie, er brachte sie uns nahe, pflanzte sie uns mitten ins Herz hinein. Und das ist kein anderer, als der Autor des „Gyalogösvény“ und der „Szederindák“: Alexander Baksay.(Dies nur so nebenbei als Klage.)

Wann der „Bajda“ seine Werke schreibt, weiß keiner zu sagen. Ein vertrauter Freund teilte mir die Tagesordnung des alten Herrn mit. Spät nach Mitternacht begleiten ihn die Getreuen nach Hause. Bis mittag wurde der Morgenkaffee oft auch dreimal kalt, den der eine Pikkolojunge vom Café „Abbazia“ ihm hinübergebracht hat. Endlich läßt er den Trunk, so ausgekühlt wie er ist, in sich hineinrinnen. Dann geht er, um zu Mittag zu essen. Nach dem Mittagmahle folgt ein ergiebiges Gespräch am großen Tisch im Café „Abbazia“. Bis zum Abendbrot. Dann Aufbruch ins Restaurant. Nach dem Abendbrot Aufbruch in das schon öfter erwähnte berühmte Stammcafé. Niederlassung am Stammtisch mit großer Assistenz. Dort macht es sich Onkel Karl im großen Lehnstuhl bequem, mit je einem Sessel unterm Arm. Und er spricht und bezaubert. Einer seiner aufmerksamen Zuhörer und geistvollen Kritiker war Graf Gabriel Károlyi, aus dessen verdächtiger Kamaraderie ich immer den Hochmut herausspürte.

Für mich ist es zweifellos, daß Karl Eötvös das Beste seiner erzählenden Kunst dort am runden Tisch verstreut. Wie oft schmerzte es mich, daß es da keinen Stenographen gab, der seine sprühenden Aphorismen fixiert hätte. Wo nahm er dann die Zeit her, alles übrige niederzuschreiben? Ja, überhaupt: hat der Alte noch Lust zu fabulieren?

Ich möchte mich nicht gegen seinen Advokatenkredit vergehen: doch als ich das erste Mal bei ihm zu Hause vorsprach, habe ich in seiner größten Stube, im „Salon“ keinen Platz gefunden, um mir den Weg in das andere Zimmer zu bahnen. In Haufen lagern, verstaubten, vermoderten da die uneröffneten eingeschriebenen Briefe, die unberührten Schriften- und Büchersendungen. Auch Karl Eötvös hält es so, wie es von seinem berühmten Namensvetter Karl Hugo dessen Vater hielt. „Will mein Sohn ein Buchlesen,“ sagte er, „dann schreibt er sich eins.“

*

Nun wollen wir ein Kaffeehäuschen weitergehen. Das ist ein Haus, ja sogar ein Doppelhaus, wo kein  Kaffee geschenkt wird. Das ist die unter der Mädchenschule, die das Umdenken Johanna Zirzens verkündet, die mit reformatorischer Begeisterung die heimatliche Frauenerziehung auf ein höheres Niveau hob und auch einen Schwarm entsandte: die Belehrung dieser vorzüglichen Frau werden durch viele ihrer Zöglinge fortgesetzt. Ihr Lehramt bekam durch viele ihrer Zöglinge fortgesetzt. Ihr Lehramt bekam einen männlichen Nachfolger und bezeugte gleichfalls die Richtigkeit jener Erfahrung, dass Mann, wenn er ein weibliches Handwerk übernimmt, seinen Mann besser stellt als die Frau. Da ist die Damenschneiderei. (Worth, Poiret, Paquin). Da ist die Kochkunst. (Latel, Béfour). Ja sogar die frauenhafteste, schon mütterliche Beschäftigung – die Ammenschaft. Kam da eine Mann, Liebig ist sein Name, der die ganze, an unfruchtbarer Mutterlosigkeit dahinsiechende Kinderwelt säugte. Für diese meine Bemerkungen werden mich die feministischen Amazonen überfallen; die fremden Tanten: Key, Schirmacher, die ungarischen: Schwimmer und Glücklich. Ich bin bereit.

Mit all dem wollte ich bloß dem Zirzen-Erben, dem Oberdirektor Franz Révn, den Weg ebnen. Er hat nämlich eine große Unachtsamkeit begangen: er hat das ihm anvertraute Institut so begehrt gemacht, daß von Jahr zu Jahr in immer größerer Zahl die nach dem Quell des Wissens dürstenden kleinen Mädchen nicht aufgenommen werden können, und es sind die Kinder der wohlhabensten Familien der Hauptstadt. Vergebens ist Klage und Flehen des Direktors: der löbliche Staat bleibt diesem fleißigen Antreiben gegenüber taub. Ich glaube nicht daß er um meine schönen Augen willen diese Schule erweitern würde. Würde er mich dennoch beschämen, ich wäre ordentlich stolz drauf.

*

Das nächste Mal geh’ ich auf die andere Seite der Andrássystraße. Auch dort finde ich Erwähnenswertes. Bis dahin möcht’ ich aber an der Verkehrssprache unserer Untergrundbahn einiges verbessern. Diese Sprache ist so unmagyarisch und schwerfällig, als ob sie irgendeiner ministeriellen Werkstätte entstammen würde. Bei der Abfahrt sagt der Billettverkäufer am Eingang dem Schaffner: „Kész!“ (Fertig). Was ist da fertig? Was für ein Fragment wurde da glücklich ergänzt? Was wurde da fertig gehämmert, gedrechselt, gewoben, geflochten? Um wie vieles wären genauer und magyarischer diese beiden Kommandoworte: „Lehet!“ sagt der Aufseher. „Mehet!“ setzt der Schaffner fort.