Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1915

Max Prels

Alkoholdämmerung

Kaum vorzustellen: selbst in Berlin gab es einmal Sperrstunden. Freilich musste dazu erst ein Krieg ausbrechen. Der Wiener Autor und Journalist Max Prels, geboren 1878, damals beim Ullstein Verlag beschäftigt, fabuliert in einer wunderbar humoristischen Milieustudie über den kompletten Verfall des "nie sonderlich stilvollen Berliner Barbetriebs" durch das kriegsbedingte Ausbleiben der Dschents und Bohemienghs und den Einfall der Ersatz-Bummel-Reserve. m.s.

Es ist die Pflicht eines jeden Ästheten, der nur einigermaßen auf sich hält, blaß zu sein. Im friedlichen Berlin, also in jenem Berlin vor dem Krieg, da man neben allerlei exotischen Tieren, neben einer kompletten Arche Noah seine Vergangenheiten und Zukünfte über die Tauentzien und den Kurfürstendamm spazieren führte, zerfiel der Ästhet in zwei, nur durch die Blässe geeinte Gruppen: den Dschent, sprich und schreib: Dschent, und den Bohemien, sprich und schreib: Bohemiengh. Beide endeten zwischen Gedächtniskirche und Halensee ab 12 Uhr nachts in einer Bar. Beide hatten, neben anderen, ein Programm, das, mit kleinen Abänderungen, hieß: Flip oder Gin oder Cobbler.

Nur, der Dschent trank den Flip und bezahlte ihn auch meist, der Bohemiengh erlebte ihn und blieb ihn schuldig oder erpumpte sich ihn vorher im „C.d.W.“. (Jeder Mensch von universeller Bildung weiß: daß das „Café des Westens“ heißt). Beide empfanden, wenn sie in die Bar gingen irgendwie: England. Und waren sehr stolz darauf; fühlten: Flip… Unter einer Emm nichts zu machen, dachte der Dschent; England: isolare Entrücktheit von kontinentaler Plattheit, feuilletonierte der Bohemiengh. Meist war auch die Braut dabei, die fühlte aber nicht, sondern trank. Das waren die Berliner Ästheten vor anno 14. Die vor Tischen saßen, die von innen leuchteten, unter heliotropenen Stoffzelten, in schwarz-weißen Entwürfen. Monocle, auch Kompottschüssel genannt, und wenig gekämmtes Langhaar vereinten sich in den Bars und Likörstuben und ölten die Ästhetik mit seelenvollen Milchungen, mit persönlichen Drinks und alkoholfrohen Schlurf-Dichtungen. In der milden wilden Nacht des konzentrierten Alkohols.

Dschent und Bohemiengh sind im Felde. Frische Luft und das Feuer von Gefahr und Abenteuer haben längst die Edelblässe aus ihren, zarte Erlebnisse widerspiegelnden Gesichtern gebannt, ein kräftiges deutsches Wort hat sie längst von der englischen Krankheit geheilt. Und ihre Gedichte und Erlebnisse wachsen nicht mehr aus der Nagelprobe kleiner Flips, sie klammern nicht mehr rot-rote Früchte kunstgerecht zwischen zerbrechliche Strohhalme; ihre Finger spannen sich derb um Gewehre, und ihre Fäuste dreschen den Rhythmus neuer Erlebnisse. Gent und Bohemien haben neue Gemeinsamkeiten: die große Stunde. Aber: ein paar Bleiche sind zurückgeblieben. Ganz wenige; so wenige, daß sie die vielen Bars nicht bevölkern könnten. Diese Repräsentanten von vorgestern haben Verstärkungen gefunden in den Ersatz-Bar-Bummlern von heute, alten Herren, Kleinbürgern, die sich plötzlich als Platzhalter des eingezogenen Ästhetikers dünken. Mit einem Schuß zeitgemäßer Begeisterung, mit einem Schuß Angostura-Bitters, oft auch nur mit einem Hexenschuß markieren sie Lebewelt, eine Welt, in der man sich recht langweilt. Es ist heute ganz nebensächlich, festzustellen, daß der Berliner Barbetrieb niemals sonderlichen Stil aufwies, aber durch das Auftreten der Ersatz-Bummel-Reserve war er völlig stillos, oft geradezu unangenehm geworden.

Freilich, die frühe nächtliche Polizeistunde – um ein Uhr wird rücksichtslos geschlossen – ließ dieses spätabendliche Barschwärmen zur Kriegszeit ohnedies nicht aufkommen, aber immerhin: man mischte und erfand, man ersann und dichtete, und schlürfte Drings, klammerte sich an Strohhalme und beflüsterte zwischen violetten und opalisierenden Spiegelungen die Generalstabsberichte. Während die draußen in Granatfeuer stürmten, durch Blut und Schmutz und Eisen. Während die draußen darbten und dursteten. Es war eine zu große Ungleichheit. Der Polizeipräsident hat die Wolke einer Verordnung vor diese nächtliche Sonne gezogen. Die Alkoholdämmerung ist angebrochen und soweit Aestheten noch zu erblassen verstehen, sind sie blässer geworden. Es gibt von 9 Uhr abends bis 9 Uhr morgens keinen konzentrierten Alkohol mehr. Wohlgemerkt: keinen konzentrierten Alkohol mehr. Wohlgemerkt: keinen konzentrierten. Gegen ein Glas anständigen Rhein- oder Moselweines hat auch jetzt niemand etwas einzuwenden. Aber die Stunde der Flips und der Gins und der Cobbler und all der süßen Drinks voll tieferer Bedeutung und anregender Geheimniskraft hat geschlagen.

Und sie wird nun täglich aufs neue schlagen um Punkt neun Uhr abends. Sie werden verwaist sein, all die intimen Ecken in den Likörstuben, all die lauten Bars; und die zutraulichen Bardamen, die so gern weltstädtische Gebärden zelebrierten, werden Strümpfe stopfen oder Pulswärmer stricken ab neun Uhr abends. Denn, um den wenigen zu dienen, die auch jetzt noch im Zeichen der Zitronenlimonade der Bar treu geblieben, sind ihrer zu viele. Also: zurück zum Strumpf, von dem sie gekommen sind, zurück zur freundlichen Pankower oder Rixdorfer Mundart, die so lange unter einem armseligen Französisch, unter einem erheiternden Englisch eine mondäne Zuflucht gesucht hatte. Der entgötterte Westen von Berlin hat seinen letzten, verschrobenen Götzen verloren, den konzentrierten Alkohol und mit ihm den Hofstaat dieses kleinen nächtlichen Herrschers in Berlin.

Ah, nicht als ob der Berliner, selbst in den Zeiten friedlicher Verstiegenheit, Exzesse in Alkohol getrieben hätte. Ah, nein. Man trank ja nicht, um zu trinken; man trank, um zu erleben: irgendein sündhaftes, unwirkliches Kobaltblau, irgendein perverses, fließendes Grün, Farben, die sich in Gedichte, in Eindrücke und Ausdrücke umsetzten; oder man trank, um Eindruck zu schinden, um dabei zu sein, um eine Beschäftigung zu haben, bis der langsame Morgen ganz heraufgekrochen war. Je nachdem man halt Bohemiengh oder Dschent war. Also nicht gegen den Alkoholmißbrauch hat der Polizeipräsident von Berlin acht strenge Paragraphen losgelassen; nur die Stilwidrigkeit sollte getroffen werden, die durch den Gegensatz von Cobblerrot und Feldgrau gegeben war. Es ist eben wieder ein Stück des ungesunden Westens trocken gelegt. Der harte, eiserne Ruf der Zeit hat das letzte Säuseln der Bar erstickt.

Dschents! Bohemienghs! Unabkömmliche! D.U.! Da draußen ist der Krieg, liebe Leute! Da draußen sterben zwischen zwei Flips hundert Menschen. Da draußen haben todmatte Soldaten gute, liebe Visionen von der Heimat. Und ihr seid sehr satt und gar nicht müde, denn das Flanieren Kurfürstendamm rauf und runter, das kann – ich bitte euch – doch nicht müde machen, und ihr erlebt violette Visionen. Es geht nicht; es geht wirklich nicht. Trinkt Zitronenlimonade. Mischt sie in flachen Gläsern, pflückt euren Rausch aus den kleinen Kristallprismen, in denen sehr bekömmlicher Himbeersaft eine sehr sanfte und dem rauchgebeizten Auge sehr zuträgliche Farbe verströmt. Morgen ist auch ein Tag. Genehmigt euren Kognak, euren „Halb und Halb“, meinetwegen euren Flip nach neun Uhr morgens. Obwohl ich ja zu zwei Eiern im Glase, einer Butterstulle und Kaffee mit dem Ton auf dem a rate.

Man will euch ja nur eure nächtlichen Offenbarungen, nur eure Verzückungen, nur eure „Auch-dabei-Sucht“ (ich weiß nicht, wie das auf Berlinisch heißt) ein bißchen abgewöhnen. Es ist doch Krieg! Nicht war? Und in einer Stadt, wo das ganze volk so unerhörte Beweise von Wollen und Können, von völkischer Hilfsbereitschaft gegeben hat, da darf doch die weltliche Ecke nicht in Zwielicht der Bars ihre Sensationen ausschlürfen. Berlin marschiert, Berlin steht Wacht. Der Lebensrythmus von Berlin W.-W. allein soll bequem „Untergrund“ fahren? Das Bar-Treiben ist dem deutschen Charakter irgendwie wesensfremd. Es hat sich in die Weltstadt nicht eingelebt, sondern eingefressen. Es war mit eine der vielen Berliner Mißverständlichkeiten. Und wenn wieder Friede sein wird auf Erden und an der Spree, wird auch wieder jede Bar ihre kleinen Türen öffnen, die so kostbar geheimnisvoll in die lichtüberschütteten Straßen blinzelten. Aber die blassen Aestheten und die Dschents mit den „fubedoll“ gebauten „Cuts“ werden eine Röte auf den Wangen tragen, die unter dem Atem großer Geschehnisse geworden ist, und sie werden von großen Abenteuern und Kämpfen reden, sie, die vordem von kleinen Abenteuern und Versen flüsterten. Dann wird die Zeit der Bar-Dämmerung gekommen sein. Eine Zeit, die durch die polizeilich verordnete Alkoholdämmerung in diesen Tagen des Krieges eingeleitet wurde. Das weiß natürlich heute niemand, wie die Berliner Zukunft sein wird. Einfacher wird sie sein, das weiß ein jeder. Weniger mißverständlich, weniger wesensfremd, mehr berlinisch.

Des Weinens ist vorläufig im einschlägigen Berlin kein Ende. Man hat den guten Leuten ihr „Blutgeschwür“ genommen, all die köstlich verrückten Namen, hinter denen eine bildschöne Trankkomposition begriffen wurde. Wen könnte es gelüsten, vor 9 Uhr ein „Blutgeschwür“ einzufangen? Also ist das „Blutgeschwür“ überhaupt geheilt. Bar und Probierstube haben, in ihrer gegensätzlichen Einrichtung und Aufmachung wenigstens, jede Existenzberechtigung verloren. Und den Blassen wird nichts übrig bleiben, als sich eine Flasche soliden Kognaks heimlich in die Rocktasche mitzubringen, um irgendwo, sehr abseits, ein unbeobachtetes Schlückchen zu wagen. Daß man wie in Rußland zu Haarwasser und Politurspiritus seine Zuflucht nehmen könnte, ist nicht recht wahrscheinlich. Blieben noch die Inhaber der Lokale zu betrauern. Aber auch sie werden in der in Berlin so eingeübten Anpassung, Rat und Hilfe finden. Mit Niersteiner und Burgunderpunsch läßt sich, sind erst die Schwankungen des Ueberganges überwunden, ein stattlicher Absatz und Umsatz erzielen. Ja, wozu denn aber dann die ganze aufrüttelnde „K.“-Verordnung, wozu denn die angesagt Alkoholdämmerung, wenn alles beim alten bleibt? Uebers Ziel gefragt! Es bleibt nicht beim alten. Wers nicht fühlt, daß mit Alkoholerlaß das immer Wesensfremde und das jetzt Zeitfremde getroffen ist, daß hier nicht bevormundet, sondern nur ein wenig so nebenher erzogen wird, der wird es eben nie erjagen.

Die schimmernden Nächte sind vorbei. Die Alkoholdämmerung hat ihren letzten Glanz getrübt. Nicht ganz unzeitgemäß kommt der Likörerlaß mit der Aenderung des deutschen Reichs-Militärgesetzes. Um 9 Uhr: Schnapsschluß. Um 11 Uhr: Schluß aller Vergnügungen. Um 1 Uhr: Zapfenstreich. Ach wie bald, ach wie bald heißts vielleicht für die dauernd Untauglichen: 2 Uhr: Abmarsch. Gloria Victo –ri –a! Indessen mögen sie noch einen blassen Blick auf ihre Uhren tun und fünf Minuten vor neun der schlürfenden Braut, zitternd vor der drohenden Alkoholdämmerung mahnend zusäuseln: „Nachbarin, Euer Täßchen…“ Berlin ist böse: „Wir werden det Kind schon schaukeln!“