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Aus dem Pester Lloyd von 1916

Max Nordau

Weltschmerz

Einführendes zu Max Nordau hier

Prophezeiungen lehren in der Regel nicht viel Zuverlässiges über die Zukunft, aber sie geben guten Aufschluß über die Gegenwart. Denn sie sind nichts anderes als die Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen des Sehners, der alles, wonach er sich sehnt, als verwirklicht setzt, nur nicht gleich, sondern etwas oder viel später. Es ist die leichteste und bequemste Selbstbefriedigung aller Geister mit schwach entwickeltem Wirklichkeitssinn und starker Neigung zur Träumerei, die in der Schöpfung einer eingebildeten Welt Trotz und Genugtuung für die Mißtimmung oder das Leid suchen, mit denen die bestehende Welt sie erfüllt. Man wende nicht ein, daß es auch Unglückspropheten gibt, die vom Kommenden die erschreckendsten Bilder malen und sicher kein Verlangen danach tragen, eintreten zu sehen, was sie weissagen. Auch Kassandras schauerliche Verkündigungen sind eine Form der bitteren und eindringlichen Kritik einer gegebenen Lage durch Heraufbeschwörung der trostlosen Folgen, die nach der Überzeugung des Orakelnden die Handlungen und Unterlassungen, mit denen er heftig unzufrieden ist, nach sich ziehen müssen.

So verstanden, hören die Weissagungen auf, die Hirngespenster zu sein, als die man sie gern betrachtet, und gewinnen ein gewisses Maß von urkundlichem Interesse. Die französische und englische Presse räumt gegenwärtig Prophezeiungen einen weiten Platz ein. Ob auch die mitteleuropäische, weiß ich nicht, denn seit Monaten ist die Postverbindung mit Ungarn, Österreich und Deutschland unterbrochen und nur in Wochen einmal gelangt eine vereinzelte Zeitungsnummer aus diesen Ländern auf Schmuggelwegen nach Spanien. In Paris, in London, in Rom sind Rundfragen an Schriftsteller, Künstler, Politiker in Gange, die schildern sollen, wie die Welt nach dem Kriege aussehen wird. Viele warten die Einladung nicht ab, sondern geben aus eigenem Antrieb eine Darstellung der Zukunft, wie sie ihnen erscheint.

Die Orakel umfassen den ganzen Umfang des Staats-, Gesellschafts- und Geisteslebens; sie lassen keine seiner Seiten im Dunkeln; sie geben Anschluß über die Umgestaltungen der Karte Europas und der benachbarten Weltteile, über die Zertrümmerung und Aufrichtung von Reichen, über die Umwälzung in der innern Verfassung der Völker, über den Wechsel der Einrichtungen und Sitten und das wechselseitige Verhältnis der Klassen und der Geschlechter, über die neuen Ziele und Methoden der Erziehung, über die wirtschaftlichen Entwicklungen, über die Literatur, das Theater, die bildende Kunst, die Musik, sogar die Mode von morgen. All das ist wert, gelesen zu werden, denn es ist eine ungewollte Beichte; es offenbart die Leidenschaften und Vorurteile, das Verlangen und die Befürchtungen, die Liebe und den Haß der Propheten, die meist nicht die Erstbesten, sondern Männer der Auslese, mitunter führende Geister sind.

Ich enthalte mich des Widerspruchs ebenso wie der Zustimmung. Denn damit würde auch  ich mich auf das Gebiet der Weissagung begeben und dahin will ich mich nicht locken lassen. Nur einen Blick auf die künftige Literatur, wie die Antworten auf die Rundfragen sie vorschatten, versage ich mir nicht. Denn schließlich sind wir es, die diese Literatur machen werden, und es ist nur in der Ordnung, wenn die Schriftsteller sich schon heute Gedanken über die Bücher machen, die sie im Kopfe vielleicht bereits auszuarbeiten beginnen und die sie in einem Jahre oder später schreiben werden, wenn ihre Hand dann noch eine Feder führt.

In Frankreich sieht man das Heraufkommen einer erzählenden und dramatischen Literatur voraus, die vom Geiste des Heldentums beseelt sein wird. Sie wird Männer der Tat und des Opfers, barmherzige Schwestern und Balladenjungfrauen, Krieger und Heilige darstellen, Vaterlandsliebe, Mißtrauen und eisige Kälte gegen das Fremde, Hingebung, Gläubigkeit, Idealismus verherrlichen, Zweifelsucht, Schlappheit, Selbstsucht, unfruchtbare Nörgelei, Dilettantismus brandmarken. So die einen. Andere meinen, nach dem Kriege werde dieser allen zum Halse herauswachsen, am meisten denen, die in ihm mitgekämpft haben. Er wird ein Alpdruck scheinen, von dem man froh ist, erlöst zu sein. Man wird in den Büchern und im Schauspielhaus keine Rückblicke, keine Erinnerungen, sondern neue Gesichtskreise suchen. Und besonders: man wird von ihnen Entspannung verlangen. Man wird sich nach Fröhlichkeit sehnen und den Schriftstellern dankbar sein, die lachen machen, gesund und laut lachen. Also: der Schwank, die Humoreske werden morgen die Bühne und den Büchermarkt beherrschen.

In England ist weissagen ein vernachlässigter Sport: jetzt wie immer. Expeditionen nach dem Nord- und Südpol sind häufiger als Forschungsreisen im Lande der Zukunft. Wenige machen H.G. Wells den Ruhm eines Entdeckers dieser unbekannten Gebiete streitig. Die Äußerungen über die Literatur von morgen sind denn auch spärlich, vorsichtig und unsicher. Indes bekennt man sich ziemlich allgemein zur Ansicht, daß sie die Gunst des Publikums sich ernsten Büchern zuwenden wird, die das Wissen nähren, zum Nachdenken anregen, die Anschauungen erweitern und vertiefen, den Geist erziehen.

Ich glaube, daß ungefähr alle diese Propheten sich irren. Doch was tut das? Mag immerhin jeder der Schriftsteller, die sich auf dem delphischen Dreifuß gesetzt haben, daran gehen, sein eigenes Programm zu verwirklichen. Mögen sie getrost heroische Kriegsromane und geschichtliche Tragödien, fröhliche Erzählungen und Lustspiele, lehrhafte und tiefsinnige Abhandlungen schreiben. Sie werden ja sehen, was das Publikum dazu sagen und wem es recht geben wird. Und hier werde ich meinem Vorsatz und untreu und riskiere selbst eine ganz kleine Prophezeiung. Ich wage nämlich vorauszusagen, daß das Publikum für alle Werke dankbar sein wird, aus denen ein starkes und persönliches Talent zu ihm spricht, sie seien pathetisch oder lustig, erhaben oder familiär, leichtblütig oder gedankenschwer. Ich leugne nicht, daß es auch in der Literatur eine Mode gibt, der mitunter Bücher und Stücke ein Glück verdanken, das später unerklärlich scheint. Doch im allgemeinen möchte ich ihr keinen allzu weiten Spielraum zugestehen und das Wesentliche bleibt doch immer der wirkliche Wert des Werkes.

Obschon die Geschichte sich nie genau wiederholt, gestattet die Vergangenheit dennoch Schlüsse oder mindestens Vermutungen über die Entwicklungen, die aus einer gegebenen Lage hervorgehen werden. Das vernünftigste ist freilich ruhig zu warten, bis Morgen Heute geworden ist. Hat man indes dazu nicht die Geduld, so gibt wohl ein Rückblick die wahrscheinlichsten Aufschlüsse über das, was werden wird. Die Zeit, die man annähernd mit der Gegenwart vergleichen kann, ist die vor einem Jahrhundert. Die napoleonischen Kriege waren zwar in keinem Augenblick, auch nicht im russischen Feldzug, 1813 und 1815, so furchtbar heftig, so tief in das Leben der Völker einschneidend, so blutig wie die Weltkatastrophe, die wir heute erleben, aber sie haben so viel länger gedauert, daß ihre Wirkung auf die Zeitgenossen derjenigen gleichkommen dürfte, die vom gegenwärtigen Kriege zu erwarten ist.

Zwischen der großen Umwälzung und den hundert Tagen, zwischen dem Sturm auf die Bastille und Waterloo, stand der Literaturbetrieb keinen Augenblick lang still. Europa begnügte sich nicht mit den Zeitungsberichten über die ungeheuren Ereignisse, die in steter Folge vor seinen Augen abrollten; auch von 1789 bis 1815 verlangte und las es Neuheiten. Aber freilich: die Geisteswerke standen nicht im Mittelpunkte des öffentlichen Interesses und sie wendeten sich nur an eine Auslese, so weit sie nicht an die Zeitgeschichte anknüpften und die Leidenschaften des Tages anriefen. Der grimmige Humor der Weltgeschichte fügte es, daß gerade damals in allen hochgesitteten Ländern Europas Leuchten ersten Ranges schöpferisch tätig waren, in Deutschland die überhaupt größten Dichter, die es bisher hervorgebracht.

Doch ihre Stimmen wurden vom anhaltenden Kanonendonner übertönt und wenn ihre Werke auch nicht unbemerkt blieben, wies man ihnen doch erst Jahre, in manchen Fällen Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen den ihnen gebührenden Rang an. Schiller sah sich auf der Bühne den Platz von Kotzebue streitig gemacht. Fichte mit seinen „Reden an die deutsche Nation“, E.M. Arndt und Fr. Rückert oder Freimund Reimar mit ihren vaterländischen Gedichten, H. v. Kleist mit der „Hermannsschlacht“ wirkten stärker als Goethe. In Italien konnte der süßliche Matastasio sich nebem dem machtvollen Manzori siegreich behaupten. England hatte Walter Scott und Burns und sah Byron heraufkommen, las sie indes weniger gierig als die Schmähschriften gegen „Bonny“, den korsischen Werwolf, und die politischen Broschüren über die Verwaltung Pitts und Castlereaghs und über den Regenten. In Frankreich wirkten Frau von Stael, die „Corinna“ und ihr Buch über Deutschland veröffentlichte, Benjamin Constant, der seinen Roman der Leidenschaft „Adolphe“ gab, Chateaubriand, der das „Genie des Christentums, „Atala“, „Die Märtyrer“ in einer Prosa schrieb, mit der man nur die spätere von Ernst Renan vergleichen kann. Die Hauptmasse der Leser zog ihnen indes die poetischen Wassersuppen des lobenswerten Abbé Delille, die Flauheiten der freundlichen Erzählerin Madame Tencin, die sanften, sittsamen Romane der Frau v. Gentis vor.

Das war die Geistesnahrung Europas während der napoleonischen Kriege und blieb es noch in den ersten Jahren des Friedens und der Heiligen Allianz. Nur ganz allmählich erholte es sich von seiner tiefen Erschöpfung und zeigte wieder Neigung und Fähigkeit zur Aufnahme kräftigerer Kost. Noch ein Vierteljahrhundert lang fuhr es fort, eine tiefe Abneigung gegen Darstellungen des unmittelbaren Lebens zu empfinden. Es wollte nicht, daß seine Dichter und Schriftsteller ihm die Wirklichkeit zeigten, oder es an die Gegenwart oder die kurz vorher erlebte Vergangenheit erinnerten. Um Leser zu finden, mussten sie es in einen von fabelhaften Gestalten bevölkerte Märchenwelt führen und ihnen ungeheuerliche und kindische Geschichten erzählen, die sich nicht in der Zeit und im Raum begeben haben konnten, obschon man sie in einen bestimmten örtlichen Rahmen und eine angegebene Zeit verlegte. So entstand und entwickelte sich die Romantik mit ihren unmöglichen Menschen, überspannten Gefühlen, erstaunlichen Abenteuern, ihrem naiv-sagenhaften Mittelalter, ihrem halluzinatorischen Orient, und machte ihr Glück, das über ein Menschenalter anhielt.

Es war den Romantikern nicht untersagt, an Fragen zu rühren, die das Gemüt der Zeitgenossen beschäftigten; sie durften die Ungeduld, die Empörungen, das Sehnen und Hoffen der Geister ausdrücken, doch unter der Bedingung, daß nichts geradezu gesagt wurde, daß alle Gedanken verkleidet waren. Wenn sie eine Spitzenmaske oder falsche Nase, ein Wams, einen Domino, eine Phantasietracht trugen, hatten sie das karnavalistische Maskenrecht der freien Rede. So konnten George Sand die Religion der ungebundenen Leidenschaft predigen und der Frauenrechtsbewegung den Weg weisen, Eugen Sue dem verhaltenen Antiklerikalismus mit den Jesuiten des „Ewigen Juden“ schmeicheln und den sentimentalen Sozialismus der Saint-Simon, Fournier, Pere Enfantin und Cabet in den „Geheimnissen von Paris“ melodramatisch in Szene setzen, Heine von den Zuständen des Metternichschen und Camptzowschen Deutschlands in den „Reisebildern“, den „Göttern Griechenlands“ usw. aufgeregt träumen. Wer das Leben nichts als römischen Karneval auffaßte und es nüchtern und getreu nachgestalten wollte, - erregte Verwunderung und Unbehagen und erfuhr halbe oder ganze Ablehnung, selbst wenn er das unbestreitbarste Talent entwickelte.

Stendhal fand kein Verständnis, und er gab sich darüber so wenig einer schmeichelhaften Selbsttäuschung hin, daß er sich schwermütig mit der Ueberzeugung tröstete, man werde ihn ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode würdigen. Balzac hatte mehr Glück, doch nicht weil, sondern obschon er nach Goethes Rat „ins volle Menschenleben“ hineingriff, oder hineinzugreifen vorgab. Denn tatsächlich beobachtete er nicht, sondern erriet. Sein Werk ist keine Abspiegelung der Umwelt, sondern eine Veräußerlichung subjektiver Erfindungen, und seine ersten Leser glaubten keinen Augenblick lang, was später das Dogma der Literaturgeschichtsschreiber wurde, daß nämlich die Romanfolge der „menschlichen Komödie“ eine urkundliche Darstellung des Lebens der französischen Gesellschaft unter der Julimonarchie ist; sie sahen in ihr ein freies Spiel der Einbildungskraft ihres Verfassers und nahmen sie aus dem Grunde mit Wohlwollen auf. Erst tief in der Zeit des zweiten Kaiserreiches durfte Flaubert den ersten Versuch des Realismus wagen; aber auf welche Widerstände stieß noch seine „Madame Bovary“, wiewohl doch dieses angebliche Schulbeispiel der Wirklichkeitsdarstellung auf jeder Seite den überschwänglichen Romantiker verrät, der „Die Versuchung des heiligen Antonius“ und „Salammbó“ erdichtet hat.

Aber noch heller als die Romantik kennzeichnet eine andere literarische Richtung die Epoche nach den großen Kriegen zu Beginn des vorigen Jahrhunderts und das ist der Weltschmerz. Er ist es, der die eigentliche Zeitstimmung ausdrückt. In ihm erkannten das ermüdete, gedrückte und verdüsterte Geschlecht ihr innerstes, persönlichstes Denken und Fühlen wieder. Der Weltschmerz eines krankhaft verstimmten Gemütes, das jeden Eindruck von der Außenwelt mit Unlustgefühlen betont und das auch seine inneren organischen Vorgänge, seine Cönästhesie, um den Fachausdruck zu gebrauchen, als Unbehagen empfindet. Der Weltschmerz hat dem Leben keine bestimmten Vorwürfe zu machen; er sucht nach Vorwänden, um es anzuklagen, und erdichtet gegen es falsche Beschuldigungen. Der Geist, der am Weltschmerz krankt, verurteilt die Welt, weil er mit sich selbst unzufrieden ist, und er ist mit sich unzufrieden, weil er erkennt, daß es ihm an der Kraft und Frische fehlt, um die Welt zu erfassen, um sie in sich aufzunehmen, um sich an ihrer Schönheit zu erfreuen, um ihre Reize zu genießen.

Fast gleichzeitig baute Schopenhauer seinen Pessimismus zu einem philosophischen System aus, machte Byron ihm in bitterem Hohngelächter Luft, befriedigte Leopardi ihn mit dämonischen Verwünschungen und sang Lenau ihn in erschütternden lyrischen Tönen von unvergleichlicher Schönheit. Frankreich nahm an diesem tief bewegenden Konzert der Trostlosigkeit am spätesten Teil.

Louise Ackerman hauchte ihre Klage nach den anderen aus, und sie machte weit weniger Eindruck als ihre Vorgänger. Nicht weil sie eine schwächere Dichterin war, sie ist eines der stärksten lyrischen Talente ihrer Zeit; aber weil ihr Publikum sich in ihr nicht mehr selbst erkannte. Die Hörer hatten Zeit gehabt, sich zu erholen. Sie hatten ihre Erschöpfung überwunden. Sie verstanden nicht länger, was man an Welt und Leben auszusetzen hatte, in denen sie sich wohl fühlten. Der Weltschmerz war das Erzeugnis der großen Kriege; der Zustand der Schwäche und Reizbarkeit nach schwerer Überanstrengung und großem Blutverlust. Die Abkehr von der Literatur des Weltschmerzes bezeichnete den Augenblick, wo die europäische Bildungsschicht ihre Genesung von den Wunden der napoleonischen Epoche vollendet hatte.

Das ist es, was die Geschichte lehrt. Auf erschöpfende Kriege folgt krankhafte Verstimmung, Schwarzseherei und Abneigung gegen die Wirklichkeit. Wer durchaus weissagen will, würde vielleicht nicht schlecht tun, diese Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts zum Ausgangspunkt seiner Prophezeiung für die Verfassung der Geister nach dem gegenwärtigen Kriege zu nehmen.