Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1917

Desider Kosztolányi

Das mystische Jahrhundert

Nach einem Gefecht des siebenjährigen Krieges sammelte man auf dem Schlachtfeld Tausende von Parfümfläschchen, die von den fliehenden französischen Soldaten weggeworfen waren. Die Geschichtsschreiber erblickten darin einen Beweis für die Verweichlichung der damaligen Franzosen. Heute findet man in den Schützengräben neben Verbandsstoffen und Patronenhülsen – Bücher. Noch dazu größtenteils geheimnisvolle Geschichten, mystische Romane: E.T.A. Hoffmann, Hanns Heinz Ewers, Meyrinck. Die Geisterseher sind wieder volkstümlich.

Die scheinbar weit voneinander entfernt sind: Die Soldaten auf dem Kriegspfade und die im Nebel dahinschwankenden Phantasten haben einander gefunden, dort, wo eiserne Ordnung herrscht und Maschinen und lebende Körper sich verbinden. Ein kommender Geschichtsschreiber wird daraus vielleicht folgern, dass Mystizimus ein Grundzug unseres Zeitalters war. Ob er wohl recht hätte? Die Oberflächlichen leugnen es. Wir kennen doch alles; unser Leben spielt sich mit der Sicherheit des Einmaleins ab. Es gibt keine Hexen, und von den Hexen, die es nicht gibt, sprechen wir auch nicht mehr. Wollte ein altmodisches Gespenst vor uns erscheinen, in Laken gehüllt, oder die Lampe in der Hand, – wir würden es sofort entlarven.

Die Außenwelt ist gesäubert. Doch unser Innenleben ist noch immer voll unentwirrter Rätsel. Die kleinen Mysterien hat die Naturwissenschaft ausgerottet, allein wir sehen – vielleicht gerade als Ergebnis dieser Reinigungsarbeit – viel deutlicher die große und einzige Rätselfrage. Wir verstehen unseren Körper in jedem Muskel und jedem Nerv, nur eben das Eine verstehen wir nicht, wozu das Ganze eigentlich gut ist. Gehirn, Nervensystem, Herz, Lunge, Leber, Magen sind keine Rätsel, ihre Gesamtheit aber ist es noch immer. Genaue Bücher berichten über die Offenbarung des Lebens, über die Faktoren, die unser Schicksal bestimmen. Das ganze Leben bleibt in diesem verhexten Koordinatensystem dennoch unverständlich. Ich lasse nur gelten, was meine Hand greifen kann, aber ich handle anders. Eine Stunde, ein Tag meines Lebens, aus dem Ganzen herausgegriffen, sind vielleicht noch logisch. Ich setze die verschiedenen Handlungen so zusammen, dass ihre Ratzähne ineinander greifen und sie einander vorwärts bringen. In solchen kleinen Einheiten siegt auch nichts Unerklärliches oder Sinnwidriges.

Dennoch ist fast jedes Leben ein riesiges Chaos. Und wenn wir das Leben der Gemeinschaft beobachten, die Bewegungen der angeblich aufgeklärten, vorurteilslosen, „selbstbewussten“ Menschheit, so kommen wir zu noch überraschenderen Ergebnissen. Wir haben in Reichweite den Krieg, diese Realität. Wie dunkel ist er und wie mystisch. Der kleine Dieb wird gefangen. Doch in drei Jahren ist es uns nicht gelungen zu ermitteln, wer der Menschheit eigentlich den Frieden gestohlen hat. Fürsten und Demagogen, diplomatische Schriften, weise und dumme Bücher, anklagende Briefe verfolgen gleichermaßen ergebnislos die Spur des Täters.

Gestehen wir es nur, dass die heutige Menschheit um nichts weiter ist als jenes alte chinesische Volk, das während der Generationen aufreibenden Taiping-Aufstände jahrzehntelang nicht wusste, wofür es kämpfte, bis sich herausstellte, dass die beiden Parteien, die so bitter gegeneinander rangen, eigentlich das nämliche, also nichts, wollten, und der ganze Taiping-Aufstand bloß eine Art geschichtlichen Irrtums war; die Tatsachen aber blieben Tatsachen und die Toten erwachten nicht wieder.

Und siehe, der rätselhafte Mensch hält heute dort, dass er nach dem „Jahrhundert des Dampfes und der Elektrizität“ wieder sich selber jagt, wieder sich selbst nicht versteht. Die heutige Literatur neigt zur Mystik. Jedes Zeitalter ist geheimnisvoll, denn die Knoten von Anfang und Ende sind nie gelöst worden, immer gab es Menschen, die Halluzinationen und Visionen hatten, unter griechischem Himmel ebenso wie im Dämmer der Kirchenschiffe. Doch es gab Zeiten, die zwischen diesen beiden Endpunkten nur die Erscheinungen wahrnahmen. Zeiten, in denen Harmonie des irdischen Daseins ihrer selbst uneingedenk waren. Die vorangegangenen nüchternen Epochen haben nicht das Mystische ausgelöscht, sondern bloß dessen Spuren. Heute ziehen wieder stürmische Gespensterheere durch die Literatur.

Was einst draußen war, ist heute in uns. Wir rühmen uns, dass unser Leben so wohlgeordnet ist. Unsere Wohnungen werden tatsächlich von elektrischem Licht erhellt und wir haben keine geheimen Gemächer wie in den Ritterburgen des Mittelalters. Doch in unserer Seele gibt es noch solche Geheimkammern. Von diesen aber wusste die Dichtung früher als die Wissenschaft. (…) Wir erweitern die Grenzen nicht nach außen, sondern nach innen. Nicht durch Projektion, sondern durch Introspektion. In uns liegt die Lösung. Heute ist das Mystische nicht nur unser Volksmärchen, sondern auch unsere Legende.

13. Mai 1917