Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1918

Oskar Maurus Fontana

Wir sind der Geist!

Oskar Maurus Fontana (1889 Wien - 1969 ebenda) versucht sich noch nicht Dreißigjährig in einem Pamphlet, dass vor Widersprüchen nur so strotzt. Ist die Jugend nun die Verführte oder die Hoffnung oder beides? Jung und stürmisch ist sie jedenfalls, die Jugend. Der Text qualifiziert sich vor allem durch seine fatalistische Empathie, die ihn für viele "Aufrüttler" exemplarisch macht. Der Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Theaterkritiker und Journalist, der sich vor allem für den schriftstellerischen Expressionismus stark machte ohne selbst über gehobene Trivialität hinaus zu gehen, war 1945-49 Chefredakteur des "Wiener Kurier" und 1951-58 Theaterkritiker der "Presse". Fontana gab Anthologien ("Die Aussaat", 1915) heraus und verfasste Theaterstücke ("Die Milchbrüder", 1913) und Zeitromane. Weitere Werke: Romane: Die Erweckung, 1919 (Neuausgabe: Die Türme des Beg Begouja, 1946); Insel Elephantine, 1924 (Neufassung: Katastrophe am Nil, 1947); Der Weg durch den Berg, 1936; Der Sommer singt sein Lied, 1949; Der Atem des Feuers, 1955; Gefährlicher Sommer, 1962. - Das große Welttheater, Theaterkritiken 1909-67, 1976.

Das ist die Proklamation der heutigen Jugend, diese Beschwörung „Wir sind der Geist!“ oder diese Anrufung „Ihr seid der Geist!“. In programmatischen Aufsätzen, Gedichten, Polemiken ja in jeder ´Äußerung der jungen Menschen begegnet man diesem Bekenntnis zum Geist. Er ist Richtung, Weg und Ziel.

Wer aber ist dieser Geist, von welcher Art, Färbung? könnte man leicht versucht sein, zu fragen, und ist da bereits dem Versucher erlegen und hat schon gegen den Geist gesündigt. Denn für diese Jugend, bedingungslos fordernd, gibt es nicht irgendeinen Geist, etwa den Zeitgeist oder den Geist des Jahrhunderts, sondern nur den Geist. Ja, das scheint ihr schon Sünde und Verbrechen, diese bequeme Spaltung und Teilung, des einen wirkenden Geistes in Spezialgeister. Von hier aus scheint ihr das Verhängnis der sich selber verlierenden Menschheit zu kommen, und ihre Aufgabe ist, den zerstückelten, mißhandelten, in Fächer zerlegten Geist wieder ganz zu machen und ihm de Platz zu geben, der ihm gebührt, den Platz des Herrschers dieser Welt.

Schon vor dem Krieg war es die ohnmächtige Qual einiger Jugend, statt des Geistes die Genußsucht und den Gelderwerb herrschen zu sehen. Aber erst im Kriege, in der Katastrophe der herrschenden Kräfte wurde die Ohnmacht und Qual so groß, daß sie das Schweigen zerriß und sich zu einem gewaltigen Schrei der Sehnsucht sammelte. Und da warnen nun auf einmal überall, im Norden und Süden, junge Menschen da, ballten sich dunkel zusammen und haben als Gruß und Schwur: Wir sind der Geist!

Gegen die Materie, gegen ihre Überschwemmung steht wieder einmal der Geist auf. Überzeugung und Glaube dieser entflammten Jugend ist: Im Anfang war der Geist. Er schuf die Welt, aber er wurde verraten, nicht nur von den Satten und Bequemen, sondern auch von seinen Söhnen, den Geistigen. Sie waren käuflich, weil sie arm waren, Proletarier, aber zugleich besessen von Herrschsucht, von Fieber nach Macht. Da spannten sie den Geist nach den Wünschen der Oberen zurecht, heute verbreiterten, morgen verlängerten sie ihn, immer wie es gerade den Politikern des Staates nützlich war, und waren dann oben, Arrivierte, mit Ehren und Ämtern und Prunk Überschüttete und ahnten nur in den wenigen, nicht betäubten Stunden, daß sie Knechte seien der wirklich Herrschenden, derer, denen das goldene Kalb ist, die von Materie kommen, den sinnlosen Stoff anbeten und die Unvernunft zur Geltung brachten, um ungestört besitzen, schrankenlos genießen zu können.

Jahrtausende verraten und verkaufen so die Geistigen den Geist, von den Schreibern der Pharaonen angefangen bis zu den russischen Revolutionären. Wir sind, dem Geiste zu dienen, den entthronten Herrn wieder einzusetzen; Menschen, die nicht unterkriechen wollen, nicht um goldene Kleider und Automobile willen den Geist zurechtschneiden und barbieren wollen. Wollen, und hier ist die Tragik dieser ganzen Bewegung. Es werden keine zwanzig Jahre um sein, und viele von den jungen Menschen, die heute einander zuraunen: „Wir sind der Geist“, werden wiederum den Geist verkauft, vergessen haben, werden glauben, Mächtige zu sein und werden nichts weiter sein, als die alten Schreiber der Pharaonen, Sklaven in bunten Kostümen.

Keine zwanzig Jahre, und so heiß und so innig und so pochend lebt heute dieses Bekenntnis: Wir sind der Geist. Dennoch. Keine zwanzig Jahre. Aber nicht den Geistigen, das ist festzuhalten, gilt die Hoffnung, nicht ihnen, sondern einzig und allein dem Geist. Er ist nicht an zwanzig Jahre gebunden, auch nicht an hundert, auch nicht an tausend. Aber einmal wird kommen der Tag, einmal, an irgendeinem Morgen, da wird die Welt sein, wie sie schon heute der Geist sieht. Was heute Vision ist, wird morgen Wirklichkeit sein. Schärfstes Mißtrauen den Geistigen, aber inbrünstiger Glaube an den Geist; keine andere Hilfe kommt den Menschen auf dem langen Weg bis zum Ziel.

Der Geist, schöpferisch vom ersten Tage an, alles Träge bewegend und das Chaos ordnend, ist heute ein Enterbter, ein um sein Werk Betrogener, ist ein Empörer, ein Umstürzler. Schärfer schneidet keine Ironie als dieses. Der Baumeister von einst will heute das Haus umstürzen. Ja, man hat seine Pläne gestohlen, sie missbraucht, sie verstümpert, und das Haus, das fertig wurde, in dem wir wohnen, ist nicht sein Werk, ist eine Karikatur, ist der Hohn auf seine Idee von diesem Hause. Der Geist, ausgesandt, gekommen in die Welt, um zu bauen, muß zerstören. Giftiger schmeckt kein Lachen, als das über diesen Widersinn. Aber nicht nur das geschah, daß man sein Werk zum Zerrbild machte, schon war es gelungen, ihn einzuschläfern, ihn zu betäuben, ihn im Schlaf zu binden und ihm den Mund zu verstopfen. Nun aber ist er wieder erwacht – ein Ruck, und die Fesseln waren gesprengt. Wieder ist er unter uns, drängend wie schon lange nicht, und begierig nach Tat.

Darum rufen alle diese jungen Menschen heute, die dem Geiste dienen wollen, so sehr nach der Tat. Sie spüren, der Geist hat lange geruht, nun will er wieder schaffen. Welche diese Tat ist, wissen sie vorläufig selber nicht. Sie wissen nur: Der Geist will wieder tun, darum heißt es, selber tätig zu sein, Wege zu bauen, politisch zu sein. Ja, der Politiker als der am klarsten und ins Nächste Wirkende, scheint ihnen das eigentliche Ideal, der Inbegriff aller guten Kräfte, Ursprung alles Geistigen. In dieser Tiefe ist nur vergessen, was der Politiker eigentlich ist, daß er, eingespannt in eine Partei, in das realpolitische Getriebe, das Absolute, dies untrügliche und unverlierbare Merkmal des Geistes, nicht anerkennt, nicht anerkennen kann. Der Politiker ist der Wirkende, aber er ist nicht der Geistige, er ist der Gebundene, aber nicht der Freie.

Politik ist Erfolg, Geist ist Schöpfung. Die beste Politik verschmäht nicht den Machiavellismus, der Geist aber kennt keine Umtriebe, keine Machenschaften, er wirkt durch sich selber. Vielleicht ist diese These vom Politiker als dem Ideal des Geistes die letzte Auswirkung jener rein auf Macht gestellten Welt- und Lebensanschauung, die heute in schrecklicher Agonie liegt. Soll aber wieder eine Macht einer anderen Macht entgegengestellt werden, der Geist mit den Waffen der Macht siegen? Wie aber kann das Absolute mit den Waffen des Relativen siegen? Ja, man vergeistige die Politik, man erlöse sie von ihren allgewordenen Maschinerien, mache sie wertvoll für Menschen mit Menschlichkeit. Hier mitzuhelfen ist Pflicht des Geistigen, aber man kann aus dem Geist keine Politik machen. Die Geistigen beherrschen die Ungeistigen, das wäre im besten Fall das Ende einer Politik der Geistigen. Was aber wäre dabei gewonnen, außer neuen Namen für alte Inhalte? Und was würde der Geist dazu sagen? Denn vor dem Geist gibt es keine Oberen und keine Unteren, vor dem Geist sind alle gleich, haben alle dasselbe Recht. Der Geist will den Ungeistigen zum Geistigen machen, aber nicht ihn beherrschen, er will ihn erwecken, aber nicht ihn knechten. Erweckung – hier ist die Wirksamkeit des Geistes, hier ist seine erste Tat. Steh auf und wandle, dir ist geholfen – so spricht der Geist. Aber er spricht nicht zu den Massen, er spricht zu dem Einzelnen – wiederum ein grundlegender Unterschied von aller Politik, die Massenartikel zu verschleißen hat. Erst die gesammelten Einzelnen geben die Massen. Irgend einmal. Morgen. Aber einst wird kommen der Tag. Bis dahin bleibt dem Geist nichts anderes zu tun übrig als die Erweckung der Einzelnen. Schönere und größere Tat läßt sich kaum erdenken.

Erweckung – so viel Menschen es gibt, untereinander verschieden, so viel Erweckungen, untereinander verschieden, wird es auch geben. Viele Wege führen zur Menschenseele, auf ihnen allen den Geist schreiten zu sehen, ist Sehnsucht und Ziel. Auf allen Wegen, wenn es wirklich um den Geist geht, und nicht um ein neues Literatentum. Der Literat ist unduldsam, eingesperrt in seine kleinen, zurechtgemachten Begriffe, der Geist aber ist duldsam, frei und durchdringend. Der Literat hat die Wörter, der Geist aber das Wort. Die Wörter vergehen, welken, fallen ab, das Wort war und bleibt, ist ewig wie der Geist, Mittel des Geistes. Aus dem Wörterchaos wieder das Wort zu befreien, – auch das ist Sehnsucht und Ziel jener, die rufen: Wir sind der Geist, denn die Wörter finden nur den ihnen vorgezeichneten Weg, das Wort aber findet alle Wege.

So aber sind die Wege des Geistes: Von den Menschen, zu den Menschen. Er ist von dieser Welt und sucht keine andere. Und nicht zur Askese führt, er, sondern zur Freude. Aber Freude für alle, – das will er, denn er ist bedingungslos, und weiß, alle Menschen sind Kinder desselben Stammes. Sie haben es nur vergessen, und daher strömt alles Unglück über sie. Der Geist aber hat nichts vergessen, er kommt von der Menschheit, er ist voll von ihr und weiß, der Weg zur Freude für alle geht durch die Hilfe für alle. Und der Geist ist auf dem Weg, marschiert in der Nacht, einsam, riesengroß, dunkel, mit ungeheuer glänzenden Augen. Er marschiert, wir, in den Häusern schlafend, oder auf den Flachen Dächern sehnsüchtig zu den Sternen schauend, hören den Takt seines Schreitens. Musik ist es uns. Wir hören, wie er marschiert, und wissen mit schmerzvollem Glück, die Nacht ist Jahrtausende alt und mag noch lange, lange währen, er aber marschiert dem Morgen entgegen.