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(c) Pester Lloyd / 16 - 2019   POLITIK       20.04.2019


PL-Special zur EU-Wahl

Ohne Grundwerte kein Europa: Es geht um mehr als Ungarn

Von Marco Schicker

Teil 2:
EU-Parlament vor Umbruch: Konstellationen und Kandidaten
orbanjuncker (Andere)


Orbán will seinen Parteienvater Weber nicht als Kommissionspräsident, sein Abgang Richtung Salvini-Strache scheint ausgemacht. Aber bei den EU-Wahlen am 26. Mai geht es um mehr als die Attacken des Budapester Antidemokraten (
Hier alles Nötige und Unnötige dazu) und seiner Gesinnungsgenossen, um mehr auch als um Brexit und Flüchtlingskrise. Diese dienen eher als Mahnungen für einen nötigen Schulterschluss der Pro-Europäer zu mehr Integration und zu einem sozialeren Europa. Wir ziehen kritisch-optimistisch Bilanz und werfen einen Blick auf die kommenden Herausforderungen. Im zweiten Teil gibt es einen ausführlichen Überblick über die Fraktionen, Kandidaten und kommenden Bündnisse.

Man müsse Europa lieben, sonst komme es nicht voran. Mit diesem Credo verabschiedete sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 17. April vor dem Europäischen Parlament. Er wählte die gleichen Worte wie 2014 als er das Amt an der Spitze der Kommission übernahm. Damals trat er mit seinem Juncker-Plan an, der mit 70 Milliarden Euro Investitionsanreizen sowohl die dramatischen Folgen der Immobilien- und Finanzkrise bekämpfen wie auch die ökonomische Integration der osteuropäischen Neumitglieder abschließen sollte.

Bis letzten Dezember hat die Initiative 371 Milliarden Euro Folgeinvestitionen der Privatwirtschaft gezeitigt, bis 2020 sollen es 500 Milliarden sein. Doch davon spricht heute im Zusammenhang mit der Europäischen Union kaum noch jemand, obwohl die Wirtschaftsdaten der meisten Mitgliedsländer klar positiv sind.

Kalt erwischt

Die wichtigsten Herausforderungen für die Europäische Gemeinschaft 2019 bis 2023

Stärkung der EU-Institutionen durch Einführung der doppelten Mehrheit (der Mitgliedsstaaten und der Einwohner) in allen Entscheidungsgremien sowie Beseitigung blockierender Ein-Staaten-Vetos im Rat der Regierungschefs.

Effektive Durchsetzung der Grundrechte-Charta (Artikel 2 Lissabon-Verträge) durch ein ähnliches Monitoring – und Sanktionierungssystem wie beim Binnenmarkt (z.B. Suspendierung von EU-Geldern bei Verstößen gegen die Grundwerte der EU).

Meisterung des Brexit und seiner Folgen, Offenhaltung einer europäischen Perspektive für kommende britische Regierungen, Lösung der Nordirlandfrage.

Gemeinsame Flüchtlings-, Asyl- und Einwanderungspolitik nach Maßgaben der Menschenrechte, der gerechten Verteilung der Belastung, effizienter Integration und des ökonomischen Bedarfs. Damit: gemeinsame Außen- und Entwicklungspolitik, um die Fluchtursachen einzudämmen.

Stärkung der sozialen Mindeststandards durch Schritte hin zu einer Steuer- und Lohnunion (Einschränkung von Steuerflucht und -wettbewerb, Harmonisierung der Steuerverfahren, europaweite Mindestlöhne mit einer Art Finanzausgleich zwischen starken und schwächeren Mitgliedern).

Ökologische und digitale Wirtschaftsreformen und eine nachhaltige Energiepolitik durch höhere Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung als Grundlage, um in der Globalisierung zu bestehen. Abfederung der Auswirkungen der Automatisierung, Sicherstellung der Selbstbestimmung der Bürger über die Verwendung ihrer Daten.

Gemeinsame Verteidigungs- und Grenzpolitik gegen nationale Alleingänge.

Kampf gegen nationalistische Tendenzen durch weitere Regionalisierung der EU-Förderung, Regionalpolitik als Alternative zu alten und neuen Grenzen (Stichworte: Katalonien, Schottland).
 

Die Aufhebung des Roaming, die schrittweise Abschaffung von Einwegplastik, Maßnahmen gegen Lohn-Dumping, die Vereinfachung der direkten Mitwirkungsrechte (Europäische Bürgerinitiative), die Vervielfachung des akademischen Austauschs (unter anderem Erasmus), die Durchsetzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in allen Mitgliedsstaaten, der Start einer europäischen Generalanwaltschaft gegen Korruption und Hinterziehung von EU-Geldern und viele andere Anpassungen zur Vertiefung des Binnenmarktes wie der Sozialunion, gehen im Getöse der beiden größten Ereignisse unter, welche die EU in der abgelaufenen Wahlperiode besonders kalt erwischten: Die Flüchtlingskrise seit 2015 und das Brexit-Referendum 2016.

In deren Folge bekam es die EU mit einem anschwellenden, offen EU-feindlichen, mit Ängsten hausierendem Rechtspopulismus zu tun, der Parlamente und sogar Regierungen eroberte und sowohl die strukturellen Schwächen der EU offenbarte, wie auch am Selbstverständnis und an den humanistischen Grundfesten der Gemeinschaft rüttelte. Daher ist es auch nicht übertrieben, wenn Juncker, Donald Tusk und andere Gestalter in den europäischen Institutionen von einer Richtungs- und Schicksalswahl für die Gemeinschaft von 500 Millionen Menschen am 26. Mai sprechen. Denn in den kommenden Jahren wird sich nicht nur entscheiden, ob die EU als gemeinsames Werteprojekt vorankommt, sondern, ob sie überhaupt weiter bestehen kann.

Lösungen nur gemeinsam

Beispiel Flüchtlingskrise: Dass sie nicht gelöst ist, kann man fast täglich an den Meldungen über sterbende Flüchtlinge im Mittelmeer oder an den Zuständen an der Balkanroute sehen. Dieses offensichtliche Versagen der tonangebenden Kräfte beflügelte nicht nur Ängste der Menschen und damit fremdenfeindliche Kräfte, sondern kostet Menschen noch heute täglich das Leben.

Die geopolitischen Entwicklungen verweisen zudem darauf, dass die Miseren in Afrika und im Mittleren Osten eher noch zunehmen. Ein milliardenschwerer Deal mit einem unberechenbaren Autokraten in der Türkei dämmt den Zustrom derzeit ein oder leitet ihn um. Doch es fehlen bis heute eine gesamteuropäische Flüchtlingspolitik, ein solidarisches Asylrecht und ein nachhaltiger Einwanderungsplan. Nicht einmal bei der Sicherung der Außengrenzen kann die EU für einheitliche Standards sorgen – auch, weil sie es nicht darf.

Die europäischen Institutionen können aufgrund ihrer Struktur nur umsetzen, was der Rat der nationalen Regierungschefs genehmigt, also den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Mitglieder. EU-Parlament und -Kommission mehr Macht zu geben, verhinderten die Zögerer Frankreich und vor allem Deutschland zu lange. Und nun sind es ausgerechnet Polen und Ungarn – Länder, die als Pioniere der demokratischen Wende in Osteuropa in die Geschichte eingingen und heute selbst den größten relativen Anteil an „Wirtschaftsflüchtlingen“ in der EU stellen sowie die größten Netto-Geld-Empfänger sind – die eine solche gesamteuropäische Lösung blockieren, aus machtpolitischem Kalkül ihrer nationalistischen Regierungsparteien.

Es ist für diese wohl größten Profiteure der europäischen Freiheiten relativ einfach, die Bürger mit Angst und der Nostalgie einer nationalen Käseglocken-Romantik zu blenden. Lösungen bieten sie keine an, aber Emotionen. Denn die mit völkischen Argumenten und Existenzängsten beworbene Festung Europa ist seit dem Ende des Kalten Krieges nicht nur eine undurchführbare Illusion, der geforderte Stopp von Einwanderung ist auch schädlich für die ökonomische Perspektive eines alternden Kontintents im globalen Wettbewerb. Die Flüchtlingsbewegungen sind zum Teil auch von der Politik der EU-Staaten selbst ausgelöst. Sei es durch Waffen- und Müllexporte, protagonistische und für den lokalen Produzenten destruktive Export-Subventionen oder den Raubbau an Rohstoffen in der Dritten Welt.

Die Antwort darauf kann indes nur in gemeinsamen europäischen Entscheidungen liegen, in Quoten, Punktesystemen wie sie in Kanada funktionieren, humanistischen Mindeststandards und der solidarischen Lastenverteilung. Doch diese Antwort kann wiederum nur zu Stande kommen, wenn weitere nationale Kompetenzen an die EU abgegeben werden und das Bekenntnis zu den Grundwerten der EU-Verträge (Artikel 2 Lissabon-Verträge) die Basis aller Entscheidungen bleibt. Man muss heute sagen: wieder wird.

Brexit mit Aha-Effekt

Der Brexit zeigt gerade, wie wichtig und wirksam es sein kann, dass die Gemeinschaft mit einer Stimme spricht. Doch der Populismus benutzt die EU lieber als Prügelknaben und Alibi für alles, was nicht funktioniert, zum Stimmenfang im eigenen Land. Oder man schweigt sie weitgehend tot, wie gerade im spanischen Wahlkampf zu sehen war. Als Verbündete haben Orbán, Salvini, Strache, Kaczinsky und Co. russische Bots in den sozialen Netzwerken und Berater wie den rechtsextremen Netzwerker Steve Bannon aus den USA – Kräfte, die das Ziel haben, die EU zu schwächen, am besten aber ganz von der Landkarte zu tilgen. Sie bezichtigen mit konzertierten Fakenews-Kampagnen die EU einer „Umvolkungspolitik“ durch finstere Mächte. Im Windschatten dieser Propaganda unterlaufen Regierungen rechtsstaatliche Prinzipien, wie eine unabhängige Justiz und Medienfreiheit, werden demokratische Kontrollinstanzen gleichgeschaltet. Zwar wurden Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn und Polen eingeleitet, doch bleiben diese unwirksam, solange bei Sanktionierungen Einstimmigkeit gefordert ist.

Die entscheidende Frage, die sich die EU-Bürger für ihre Entscheidung am 26. Mai also stellen müssen, lautet: In welchem Europa wollen wir und sollen meine Kinder und Enkel leben? Einem Europa, das sich wieder in ideologischen Grabenkämpfen und Stellvertreterkriegen aufreibt oder in einem Europa, das seine Schwächen durch konkrete Politik im Sinne der Bürger überwindet.

EU-Anwalt gegen Korruption

Nehmen wir das Beispiel EU-Generalanwaltschaft. Dass es die EU-skeptischen und -feindlichen Regierungen sind, die dem Projekt mit der Begründung des Eingriffs in die nationale Souveränität ablehnend gegenüberstehen, ist fast logisch. Denn die strukturelle, vor allem auch aus EU-Mitteln finanzierte Kleptokratie ist eine der Machtsäulen zum Beispiel eines Viktor Orbán in Ungarn.

Bis heute kann die EU-Antibetrugsbehörde Olaf zwar ermitteln, ihre Erkenntnisse aber nur an die nationalen Staatsanwaltschaften weiterleiten. Im Falle Ungarns ist der Generalstaatsanwalt, Péter Polt, enger Vertrauter des Regierungschefs und während dessen erster Amtszeit sein Kabinettschef. Zu rechtskräftigen Verurteilung aufgrund von Olaf-Ermittlungen kam es bei ihm nur in zwei Fällen, als Politiker von Oppositionsparteien involviert waren. Alle anderen Verfahren wurden eingestellt.

In Rumänien hat die EU daraus gelernt und koppelt den Beitritt zum Schengen-Raum an Verbesserungen in der Korruptionsbekämpfung. Mit sichtbaren Erfolgen, die DNA, die Antikorruptionsanwaltschaft in Bukarest, hat bereits ehemalige Regierungsverantwortliche beider großen Lager ins Gefängnis bringen können.

Ein EU-Generalanwalt würde künftig juristische Durchgriffsrechte in den Mitgliedsstaaten erhalten. Das heißt, er kann Anklage erheben, Haftbefehle ausstellen und Durchsuchungen anordnen. EU-Parlament und -Kommission wollen die Generalanwaltschaft verbindlich für alle Staaten einführen, eine Handvoll Regierungschefs verhindert das. Das Votum der Bürger am 26. Mai könnte das ändern.

Es gibt auch gute Nachrichten. Denn in den Herausforderungen, die der EU in der kommenden Legislaturperiode bevorstehen, liegen auch Chancen. Die Art, wie die 27 Staaten im Brexit-Drama oder im Handelsstreit mit den USA zusammenstanden und die gemeinsamen Interessen verteidigten, zeigt den Weg auf, der die auseinanderdriftende Union aus der Sackgasse führen könnte. Auch bei der Lösung innereuropäischer Probleme.

Allerdings hat die EU und haben die EU-Bürger durch ihre Entscheidungen auf dem Wahlzettel einige Hausaufgaben zu machen. Noch immer krankt die EU an einem realen Ungleichgewicht, der seit ihrer Gründung verankerten Diskrepanz zwischen dem Anspruch als Werteunion und der Realität als Marktbündnis. Verstößt ein Mitgliedsland gegen Vorgaben der Kapital- oder Handelsfreiheit, greift sofort ein Mechanismus, verteidigt die EU den Binnenmarkt. Gegen Dumpinglöhne oder offene Verstöße gegen Bürger- und Grundrechte bleibt sie allerdings noch immer zahnlos.

Interessanterweise haben sowohl der Brexit als auch die europafeindlichen Regierungen positive Tendenzen bei den Europäern ausgelöst. Dass die Zustimmung zur EU insgesamt und in Osteuropa am stärksten gestiegen ist – in Rumänien und Bulgarien liegt sie bei über 80 Prozent – belegt, dass viele Menschen die EU als Garant ihrer Grundrechte, als Schutz gegen nationale Egomanen und als ihre Zukunft erkennen.

Jugend als Hoffnungsträger

Der Brexit ist zudem ein Generationenphänomen, denn die große Mehrheit der jüngeren Briten hat für den Verbleib gestimmt und die Folgen des nahenden, chaotischen Austritts sind eine deutliche Warnung an andere Regierungen. Die Jugend generell lebt Europa mittlerweile so selbstverständlich – sei es bei Jobs, Reisen oder Studium – dass die „Generation Erasmus“ sehr allergisch auf den Eingriff in ihre Freiheiten reagiert und, wie bei der Umweltbewegung oder der Digitalpolitik, selbst zum Initiator des Fortschritts werden kann.

Dennoch steht Europa nach den Wahlen eine Zerreißprobe bevor. Denn die Mehrheit der grundsätzlich pro-europäischen Parteiengruppen von grün, über liberal und sozialdemokratisch bis gemäßigt konservativ wird kleiner werden. Italiens Innenminister und Führer der rassistischen Lega, Matteo Salvini, der mit seinen Gesinnungsgenossen gerade eine strategische Koalition geschlossen hat, kündigte sogar schon an: „In ein paar Monaten werden wir gemeinsam mit Viktor Orbán Europa regieren.“ Was nichts weiter heißen würde, als es zu sabotieren.

Denn Populisten und Extremisten, egal welcher Coleur, haben noch niemals positiv in der europäischen Geschichte gewirkt. Die EU hingegen hat – und das vergessen heute viele, ob aus politischem Kalkül oder persönlicher Frustration – vor allem eine Neuerung gebracht, die Europa vorher gänzlich unbekannt war: anhaltenden, stabilen Frieden.

red.

 



 

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