Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1921

Leitartikel, Autor unbekannt

Recht und Kultur

Über den Numerus Clausus für jüdische Studenten und Lehrkräfte in Ungarn, Anm.
siehe dazu auch
“Ein Judengesetz in Ungarn”, 1938 und “Reise um den Antisemitismus”, 1893 von den Chefredakteuren G. v. Ottlik und J. Vészi

Vor Jahresfrist protestierten wir in den Spalten dieses Blattes gegen den Numerus clausus. Wir waren fest überzeugt davon, daß diese Einschränkung nicht nur die unmittelbar von ihr Getroffenen, sondern auch das Niveau unserer Kultur, die Leistungsfähigkeit der kommenden Generationen und den guten Ruf unseres Volkes, das stets als Vorkämpfer für Freiheit und Fortschritt gegolten, arg schädigen werde. Wir müssen schmerzvoll bekennen, daß wir in diesem Kampf nicht zu siegen vermochten. An der Spitze des Unterrichtswesens stand ein Minister (István Haller von den Christsozialen, Anm.), in dessen Gemüt hohe Kultur, wissenschaftliche Bildung, Sinn für die weiteren Ziele völkischer und menschlicher Evolution die Voreingenommenheit und das Parteiinteresse nicht niederzuhalten vermochten.

Seine Vorlage wurde von einer Nationalversammlung, die in ihrer überwiegenden Mehrheit mit diesem Minister harmonierte, zum Gesetz erhoben. Die abgelaufene Frist war allerdings zu kurz, um die weittragenden Folgen dieses ominösen Gesetzes in ihrem richtigen Licht erscheinen zu lassen, aber bald werden die bösen Früchte dieser kodifizierten Ungerechtigkeit heranreifen und ein besonnenes, von den wahren Bedürfnissen des Landes geleitetes Parlament zur Revision dieses Gesetzes zwingen.

Vorderhand wird allerdings noch an dem weiteren Ausbau des beklagenswerten Systems tapfer fortgearbeitet. Wohl nicht in der Nationalversammlung, die in den letzten Zeiten sehr wenig mit kulturellen Fragen behelligt und gelangweilt wurde, um so mehr in der hauptstädtischen Verwaltung, die sich zu einer gewaltigen Zwingburg der Reaktion herausgewachsen hat. Hier wird nun mit wahrer Berserkerwut die Zerstörung unseres Schulwesens betrieben, das einst unser berechtigter Stolz war, ein erstes Quellenstudium für auswärtige Fachleute, ein Gegenstand der begeistertsten Anerkennung von Seiten der Koryphäen der Pädagogik. Was Bárczy mit seinem Stab von Gelehrten, Organisatoren, Volksschullehrern in zwanzig Jahren mit harter Mühe, mit größter Opferfreudigkeit, mit tapferer Initiative aufgebaut hat, das wird niedergerissen, auf daß kein einziger Baustein mehr an die freisinnige Aera der Hauptstadt erinnere. Bald wird unser prächtiges Schulwesen als ein ödes Trümmerfeld erscheinen, und es wird einer andersgesinnten und gesitteten Verwaltung schwere Arbeit langer Jahre kosten, die intellektuellen, sittlichen und materiellen Schäden der heutigen Wirtschaft wieder wettzumachen.

Unter allen Einrichtungen, die sich die menschliche Gesellschaft zum Wohl und Nutzen aller geschaffen hat, ist die Schule die heikelste, auch die konservativste. Sie kann stoßweise Umstürze, radikale Reformen nicht gut ertragen. Das hat schon die sogenannte Diktatur des Proletariats bewiesen mit ihren blöden Lehrplänen, mit den peinlichen Kinderprozessionen, die auf den Straßen die Internationale ableierten, mit den perversen Ausschweifungen auf dem Gebiete der sexuellen Aufklärung. Eine Uebertreibung in der entgegengesetzten Richtung zur Achse des Unterrichts und insbesondere der Erziehung ist nicht weniger gefährlich. Was soll aus den Kindern werden, die schon auf der Schulbank Zwist, Haß und Verachtung der Andersgläubigen gelernt haben und einst die Leitung der Geschicke ihres Vaterlandes übernehmen sollen?

Die Schule ist aber kein abstrakter Begriff, sondern eine lebendige Wirklichkeit, zusammengesetzt aus Schülern und Lehrern. Auch ist sie kein Automat, der den Kindern ohne menschliches Zutun Wissen, Können, Sitte und Lebensfähigkeit beibringt. Sie ist kein leeres Gebäude, mit mehr oder weniger Kunst aufgebaut, mit Geräten, Möbeln und Instrumenten ausgestattet. Die Seele der Schule ist und bleibt der Lehrer. Ihm gebührt die Verehrung von seiten der Kinder und der Eltern, und warme, humane Fürsorge und aufrichtige Wertschätzung von seiten der Behörden. Er muß objektiv, rein nach seinen Leistungen gewertet werden, abgesehen von allen anderen, störenden Nebenrücksichten.

Ist er wissenschaftlich ausgerüstet, hat er das Zeug zum Lehrer und Erzieher, die hohe Kunst, Kinderseelen zu formen, ist er sittlich einwandfrei, kann er seinen Zöglingen in seiner Weltanschauung, in seiner patriotischen Gesinnung als Vorbild dienen: so hat er alles geleistet, was von Rechts wegen von ihm gefordert werden kann. Wer da noch nach seinem Nationale, insbesondere nach seiner Konfession fragt, kann in der hehren Sache des Schulwesens kein Wort mitreden.

Und nun erscheint vor unseren Augen eine Kette von Ungerechtigkeiten. Ein Magistratsrat unternimmt es, die Schulden der Hauptstadt von destruktiven das heißt jüdischen Elementen zu „säubern“. Erst wurden hundertsechzig Fachlehrer entlassen, dann die Direktoren jüdischer Konfession zu Lehrern degradiert, zuletzt die Professoren der Handelsschulen in die Bürgerschulen versetzt. Die Tendenz ist klar: alle jüdischen Lehrkräfte sollen aus dem Dienst der Hauptstadt vertrieben werden. Erworbene Rechte werden mit Füßen getreten, Existenzen zugrunde gerichtet, verdienstvolle Männer mit bekannten, geachteten Namen Erniedrigungen ausgesetzt, in ehrlichen, durch und durch patriotisch fühlenden Herzen die Erbitterung großgezogen. Gesetze, die es dem herrschenden Kurs noch immer nicht gelang, außer Kraft zu setzen, verbieten expressis verbis diese unerhörten Gewalttätigkeiten; der Friedensvertrag von Trianon, der von unserer Gesetzgebung kodifiziert wurde, und der die alten Gerechtsame aller Konfessionen, gewährt von einer liberalen, hochgesinnten Generation der ungarischen Vergangenheit, bekräftigt, verbietet die Verfolgung irgend eines Bürgers wegen seiner Glaubenssätze. Aber weder alte noch neue Gesetze scheinen die Macht zu haben, den Ausschreitungen einer verwilderten Gehässigkeit ein Ziel zu setzen. 

Was diese massenhaften Entlassungen und Absetzungen für das objektive Wohl der Schulen bedeuten, läßt sich noch nicht übersehen. Alles geht aus den Fugen. Der Unterricht in den Handelsschulen geht vollends einem Konkurs entgegen. Fächer wie Chemie, Technologie, Warenkunde, kommerzielle Geographie lassen sich nicht so leicht besetzen, und in diesen Fächern unbewanderte Lehrkräfte werden die Gegenstände kaum aus dem Stegreif lehren können. Die Verwendung von Professoren mit einem Mittelschuldiplom an der Bürgerschule verletzt die Interessen nicht nur der solcherart Degradierten, sondern auch jene der Bürgerschullehrer, denen sie sie Avancierungsmöglichkeiten schmälert. Ein ganzer Rattenkönig von Rechtsverletzungen und antipädagogischen Ungereimtheiten droht da unserer Kultur, wenn nicht rechtzeitig Abhilfe geschafft wird.

Bei der höheren Instanz liegt die Entscheidung über die Rechtsgültigkeit dieser Verfügungen beim Minister für Kultur und Unterricht. Dieses hohe Amt wird zurzeit von einem Mann verwaltet, dessen Tugenden und Vorzüge wir kennen und gern anerkennen. Josef Bass ist ein Gelehrter, der ans methodische und objektive Denken gewöhnt ist, der aber auch für praktische Fragen viel Sinn und Interesse an den Tag legt. Er ist wohl Parteimann, doch hat er sich von den Einseitigkeiten der Partei oder gar von Parteileidenschaften nicht beirren und verführen lassen. Als Priester bekundete er in vielen Fragen Duldung und Einsicht, eine praktische Bestätigung evangelischer Prinzipien. Diesen Politiker müssen wir nicht an das augustinische Wort mahnen: „Esse vitium et non nocere non potest.“

Ohne Schaden kann man von Bösem nicht reden. Wo aber Schaden angerichtet wird da meldet sich schon das Böse, die Schädigung des Guten, die Verletzung der Schönheit, des Heils und der Tugend. Ihm liegt es ob, gegen das Böse anzukämpfen, Ungerechtigkeit und Unduldsamkeit niederzuringen, das gestörte Gleichgewicht in der Ordnung der Dinge, aber auch in den Seelen der widerrechtlich gequälten und bedrohten Menschen herzustellen. Ohne Zwang, und dem Zwang der Gehässigen, der momentanen Machthaber, die Stirne bietend, möge er das herrliche Wort seines, unser aller Meister befolgen: „Servire liberaliter Deo“.