Aus dem Archiv des Pester Lloyd

zurück zur Startseite

 

 

 

(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1921

Felix Salten

Der Angeklagte Gorkij

Gegen Maxim Gorkij tritt ein Ankläger auf. Dimitri Mereschlowsky. Kein Geringerer. Das geschah, weil Gorkij, wie bekannt, an Gerhart Hauptmann einen Brief gerichtet hat, in dem er um Hilfe für das verhungernde Rußland bat.

Da schrieb Mereschkowsky gleichfalls an Hauptmann. „Wie konnten Sie nur an die Aufrichtigkeit Gorkijs glauben? schrieb Mereschkowsky. Er schrieb weiter, „daß Gorkij kein Freund, sondern ein Feind, ein heimlicher, schlauer, heuchlerischer, der schlimmste Feind des russischen Volkes ist“.

Und er schrieb: „Gorkij wird angefahren kommen, wird einige schamlose Tränen vergießen, wird noch einige Plattheiten sagen, und all diese Tränen und Plattheiten werden der ganzen Welt im Kino vorgeführt werden... Sehen Sie nicht, Gerhart Hauptmann, hinter den schamlosen Tränen und den Plattheiten Gorkijs das ruhige und verschlagene Lächeln Lenins?“

Das ist keine Abrechnung, sondern ein Ausbruch schmerzlichen Zornes und ist dennoch der Beginn einer großen Abrechnung, die seit langem notwendig war und die, unvermeidlich, kommen muß.

Maxim Gorkij wird als ein hervorragender Dichter geliebt. Doppelt geliebt, weil er ein russischer Dichter ist. Ein Sohn des Proletariats. Vom Lastträger, Taglöhner aufgestiegen durch die Kraft seines Ingeniums zu weithin ragender Berühmtheit. Ein Bedrückter, frei geworden durch sein Talent, kämpft er nun für die Befreiung aller Bedrückten. (Kämpft er wirklich?) Immerhin, für das europäische Publikum der urwüchsige Dichter des urkräftigen Dramas „Nachtasyl“. Dazu der Verfasser zweier Bekenntnisbücher, die unvergeßlich gestaltenreich und lebenswarm sind: „Meine Kindheit“; dann: „Unter fremden Menschen“.

Können wir uns zu dem Glauben entschließen: dieser Maxim Gorkij sei ein heuchlerischer Feind seines Volkes, ein Agent Lenins, im Dienste der Sowjetregierung der Veranstalter einer nichtswürdigen Komödie... also ein Spitzbube und Halunke?

Mereschkowsky sagt es.

Von hunderttausend Menschen, die Maxim Gorkij bewundern und verehren, wird es wohl überall kaum tausend geben, die Mereschkowsky kennen. In Rußland ebenso wie bei uns. Bei uns genauso wie in der ganzen Welt.

Etwa, weil Gorkij bedeutender ist als Mereschkowsky? Umgekehrt, gerade umgekehrt! Mereschkowsky kann nichts so leicht in die breiten Massen dringen, weil er bedeutender ist als Gorkij. Um vieles bedeutender!

Gorkij hat seine intuitive Dichterkraft. Aber Mereschkowsky ist nicht bloß ein Dichter. Er hat, was Gorkij gänzlich fehlt, einen hohen Geist. Gorkij ist ein Gestalter und Mereschkowsky ist ein Gestalter. Aber Mereschkowsky gestaltet, in einem Roman von wunderbarer Tiefe, die geheimnisvolle Größe Leonardo da Vincis, er gestaltet in der brutal-genialischen Figur des Zaren Peter das russische Problem, er gestaltet in meisterhaften Essays die „Ewigen Gefährten“ der Kulturwelt von Dante Alighieri bis zu Lermontow.

Gorkij dagegen vermag nur die enge, dumpfe Welt zu gestalten, die er mit Augen gesehen, die er – in seiner Jugend – selber mitgelebt hat. Da ist er von urwüchsiger Kraft, voll Leben und Wahrheit. Aber kein Flügel der Phantasie oder des Geistes trug ihn je auch nur einen Zollbreit über den Bezirk hinaus, dem er entstammt. Schon die bürgerliche Welt, zu der er durch seinen Erfolg aufgestiegen ist, bleibt ihm innerlich unerreichbar. Sie zu gestalten, sie dichterisch zu bewältigen, hat er sich oftmals bemüht. Immer vergeblich. Seine Gestaltungskraft läßt ihn da jedes Mal im Stich, wird lahm, schnappt einfach zusammen.

Er gewann die weiteste Popularität. Denn er hat den Europäern eine unbekannte Welt erschlossen. Die Welt der russischen Lastträger und Chuligans, die allgemeine Begeisterung weckte: einmal, weil sie unbekannt, und zehnmal, weil sie russisch war.

Mereschkowsky hat eine große, bekannte Welt neu geschaffen und vertieft. Dante, Leonardo, Michelangelo, Flaubert...das sind Gestalten, die man nicht so leicht versteht. Gorkijs Strolche, Dirnen und Vagabunden werden von der Galerie ebenso rasch begriffen, wie von den Logen. Aber bei Mereschkowskys Gestalten bleibt nicht nur die Galerie von Anfang an ganz weg.

Welch ein Abstand trennt Gorkij von Mereschkowsky!

In Gorkij wirkt unbewußte Intuition, in Mereschkowsky eine große geistige Kraft. Gorkij ist eine Spezialität, dem die Geheimnisse aller Werkstätten des Geistes vertraut sind. Mereschkowsky ist über sein Russentum hinaus ein Europäer; Gorkij in all seiner Verbrüderungsduselei immer ein Russe. Mereschkowsky ist ein Kulturmensch an Hirn, Nerven und Seele, Gorkij ein genialer Prolet.

Man kann es so gut verstehen, wenn Mereschkowsky über die Plattheiten Gorkijs tobt. Es ist ein Aufschrei des empörten Geschmacks, ein Zornhieb der schwer gereizten Vernunft; die sich – endlich – gegen triviale Phrasen zur Wehr setzt. Und es hat etwas Befreiendes, das Kind – endlich – beim rechten Namen nennen zu hören. Denn – Gott helfe ihm – Maxim Gorkij hat immer nur Plattheiten gesagt. Sowie er nur den Mund auftut, um mit gebildeten Worten Menschheitsprogramme von sich zu geben, waren es die plattesten Phrasen.

Man hat sie bewundert, hat sie in allen Zeitungen abgedruckt und hat sich bemüht, sie für tiefsinnig zu halten, weil sie von einem berühmten Russen stammten. Aber es waren Plattheiten.

Mag Mereschkowsky darin noch sehr recht haben, niemand wird ihm glauben wollen, dass Maxim Gorkij heuchlerisch, schlau und schamlos ist; niemand, daß dieser Dichter wissentlich Niederträchtigkeiten begeht und ein abscheulich falsches Spiel mit seinem Volk, mit uns, mit der ganzen Welt aufführt.

Freilich, die Haltung Gorkijs weckt seit Jahren schon arge Zweifel, erscheint manchmal mehr als problematisch und übler Deutung ohne weiteres bloßgestellt. Revolutionär und in furchtbaren Schilderungen vor der Revolution entsetzt. Heute Ankläger der Sowjetregierung und morgen schon ihr Volksbeauftragter. Eben noch für Menschlichkeit und gleich darauf für den Terror. All das im Predigerton und in einer Art, die heute total vergessen hat, was sie gestern sagte.

Und dennoch: ehrlich. Ich glaube fest daran, so lange Mereschkowsky oder andere nicht klipp und klar das Gegenteil beweisen: ehrlich. Was Gorkij sagte, war niemals belangreich, was er tat, nur wegen seines großen Namens wichtig. Aber er hat sicherlich im Augenblick immer an das geglaubt, was er sagte oder tat.

Wie viele Menschen sind denn in diesem Sturm der Zeit aufrecht sie selbst geblieben? Seien wir doch offen: bei uns, in Europa, die wenigsten. In den besiegten und revolutionierten Ländern kaum einer unter Tausenden. Gewiß, es gab unzählige Spekulanten der Konjunktur, unzählige Gesinnungslumpen, allein so mancher brave Schwächling, der ganz naiv glaubte, er müsse jetzt Woche für Woche „umlernen“, sah einem Spekulanten oder einem Lumpen zum Verwechseln ähnlich, und war im Grunde doch nur ein harmloser armer Teufel. Wie erst im Sowjetrußland! In den hinsterbenden Städten, durch die der Hunger, der Mord, der Seuchentod und die Willkür des Abschaums rast. Dort mögen stärkere Geister, als Gorkij einer ist, „umgelernt“ haben.

Es kommt der Hang zur Grübelei hinzu, der den Russen eigen ist; jene besondere Art von Grübelei, die ihren eigenen Gedanken so ins Aeußerste treibt, daß sie sich spalten und zerstäuben. Dann die Debattiersucht der Russen, die furchtbar ist in ihrem scheinbaren Hochschwung und in ihrer maniakalischen Verbohrtheit; diese Debattiersucht, die sich in sprühenden Einfällen überschlägt, um fast jedes Mal in Sterilität, im Chaos oder im Leeren zu endigen. Vor allem aber die Unzuverlässigkeitsdämonie russischer Politiker. Sie ist eine Folge russischer Grübelei und russischer Debattiersucht. Sie bewirkt, daß einer ein Agitator sein kann und zugleich ein Spitzel, ein Fanatiker und zugleich ein Verräter. Sie bewirkt, daß einer beides ganz ehrlich sein kann, Agitator und Spitzel; ja, sie macht es möglich, daß solch ein Mensch zuletzt selbst nicht mehr weiß, es nicht einmal auf der Folter zu sagen vermöchte, was er eigentlich ist. Märtyrer oder Schurke. Kein anderes Volk hat politische Gestalten hervorgebracht, wie den Popen Gapon, von dem wir niemals wissen werden, ob ihn eine große Idee geleitet hat oder das Gold der zarischen Polizei, oder beides; ob er die Revolution betrogen hat, oder die Regierung, oder sich selbst.

Weder als ein Heuchler erscheint uns deshalb Maxim Gorkij, noch als ein schamloser Betrüger; auch nicht als bewußter Komödiant. Nur als einer jener zahllosen, ungebildeten Russen,die vom Grübeln und Debattieren ins Taumeln geraten. Er gehört zu denen, die vor lauter banalen Betrachtungen zu keiner Weltanschauung gelangen, zu denen, die jeden Tag ganz naiv eine der vielen aktuellen Gesinnungen annehmen, weil sie in Wahrheit keine Gesinnung haben.

Bei alledem: das Gewitter, das Mereschkowsky auf Gorkijs Haupt niedergehen lässt, ist reinigend. Es ist ein Ausbruch, der längst zu erwarten war. Es ist der lange verhaltene Zorn des großen Kulturmenschen gegen den dichterischen Naturburschen. Es ist die beginnende Abrechnung der starken, wissenden Persönlichkeit mit dem Vertreter der breiten Masse, die nur zerstören und dann über das angerichtete Elend nur in platten Phrasen winseln kann.

Es ist die beginnende Abrechnung mit einer besonderen Art von politischen Dilettanten, sozialen Problemschwätzern und Phrasen dreschenden Menschheitsbeglückern. Zu viel des Unheils hat diese Bande über uns gebracht. Zu sehr haben sie sich überall vorgedrängt, haben überall Führung, Regierung, Urteil und Gewalt an sich gerissen. Diese Prediger der Liebe haben überall den Haß entzündet, diese Ankläger der Gewalt haben überall den Terror hingetragen, diese Vorkämpfer des freien Wortes haben nirgendwo den leisesten Widerspruch geduldet, diese Feinde des Militarismus haben Unschuldige an die Wand gestellt, um bei allen anderen hündischen Gehorsam zu erzwingen. Diese sentimentalen Gegner des Krieges haben Drahtverhaue in unsere Städte gebracht, haben mit Maschinengewehren, Handgranaten und Flammenwerfern unsere friedlichen Straßen in blutige Schlachtfelder verwandelt. Ohne die Welt zu kennen, ohne die blasseste Ahnung von der Menschheitsgeschichte, ohne innere Beziehung zur Natur, haben diese Burschen die Welt nach ihren „Systemen“ umkrempeln, haben die Natur vergewaltigen, die Geschichte verfälschen wollen und sich erdreistet, am zuckenden Leib einer vom Schicksal betäubten Menschlichkeit zu „experimentieren“. Brutal und großmäulig, wenn sie sich in der Macht glaubten, wurden sie unter dem Zugreifen einer höheren Energie jedes Mal von einer verlogenen Harmlosigkeit, beriefen sich auf das Recht ihrer politischen Meinung, auf ihre Jugend (wo das anging) und auf ihre ehrliche Schwärmerei. Zu lange hat man sie geduldet, zu viel von ihnen ertragen. Zu arg hat man sie hausen lassen, diese Plünderer fremden Geistes, die auf allen Kampfplätzen eine rohe Masse heulend gegen die Geistigen gehetzt haben. Die Abrechnung beginnt. Mereschkowsky trifft in Gorkij alle die unwissenden, verantwortungslosen, von Plattheiten berauschten, dilettantischen Schwätzer, die sich Macht und Führerschaft angemaßt haben. Wenn die Welt aus tausend Wunden blutet, dann ist der Naive und Selbstlose, der an ihr zum Stümper wird, ebenso verdammenswert, wie der Stümper aus Eigennutz und Niedertracht. Wenn eine einzige falsche Maßregel Hunderttausende ins Verderben stürzen kann, ist Ehrlichkeit nicht einmal ein Milderungsgrund, geschweige denn eine Ausrede. Die Zeit ist zu ernst, die Gefahr zu groß. Man begreife endlich (endlich!), daß „in magnis voluisse“ in tausend Fällen nur einmal, vielleicht, zur Leistung wird, in allen anderen aber gar nichts weiter ist, als ein Verbrechen.

Noch eine andere Abrechnung dämmert hier auf, und daß gerade Mereschkowsky sie anfängt, hat wohl einen tieferen Sinn. Zwanzig Jahre mögen es etwa her sein, seit Mereschkowsky sein kleines Buch „Tolstoi und Dostojewksi“ schrieb. Eine der schärfsten psychologischen Studien, die es gibt, eine Entlarvung beinahe, hätte dieses, von blendendem Licht erfüllte Werk den Europäer warnen können, hätte alle unsere kritischen Instinkte auf die Wachtposten rufen müssen. Aber kritiklos gab man sich hin bis heute: Und auch heute ist die Zeit noch nicht reif zu ruhiger Nachprüfung ihrer russischen Erlebnisse, wird morgen noch nicht reif dazu sein. Trotz allem, was seither in Rußland geschehen ist, trotz der Russenphrase, die nun zwanzig Jahre lang unser ganzes Fühlen, Denken und Leben durchfiebert, durchfälscht und fast bis zur Auflösung zermürbt hat, trotz der Erkenntnis, daß wir durch die Russenlehre ethisch keinen Schritt weiter gekommen, daß wir an ihr nur schwach und sterbensmüde und zum Vorwärtsschreiten überhaupt untauglich geworden sind...trotz alledem würden es nun die allerwenigsten verstehen, wollte man heute schon aussprechen, daß Tolstoi und Dostojewski, wenn auch anbetungswürdig und unantastbar in ihrer Dichterhoheit, doch die großen Vergifter der europäischen Seele gewesen sind. Eines Tages aber wird auch diese Abrechnung beginnen.