Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1922

Illés Pollák

Gedankliches über Denkfehler
Individuelles über den Antialkoholismus

Illés Pollák (Szombathely, 1852 – Budapest, 1930) war Rechtsanwalt mit Kanzlei in Budapest, und im In- und Ausland lehrender und publizierender Rechtswissenschaftler, Präsident der Ungarischen Rechtsanwaltsvereinigung, 1902 Sektionsleiter im Justizministerium. Er verfasste zahlreiche Bücher über Rechtsgeschichte und weitere gesellschaftliche Themen. Dutzende Artikel zu allen Themenbereichen lieferte er dem Pester Lloyd. Seine amüsanten Einlassungen zum Thema Antialkoholismus seien als Fabel zur aktuellen Scheindebatte über den Nichtraucherschutz beigefügt und mögen uns die Sinn- wie Aussichtlosigkeit von Suchtdebatten illustrieren, in einer Welt, in der Abhängigkeiten und Süchte Grundpfeiler des ökonomischen wie politische Systems und mithin gewollt sind. m.s.

Alle Anzeichen sprechen dafür, daß Europa binnen kurzem auf dem Trockenen sein wird. Es wird wohl nicht aus dem Wasser sein, aber aus dem Alkohol sicher. Ich selber mit seit Geraumen meiner eigenen Überzeugung nicht mehr ganz sicher und werde in Bälde meinen Widerstand gegen die vielfachen Antinomien aufgeben und mich der eugenetischen Bewegung anschließen müssen. Eugenis heißt wohl geboren sein, sintemal es jedoch nicht auf’s Gebären, sondern auf’s Erzeugen ankommt, so stimme ich gern zu und sehe mich bereits zur Freude meines ärztlichen Beobachters in allerlei Antinomien verwickelt.

Der erste, der meine Überzeugung, daß ein Gläschen goldenen Weines im Kristallbecher ein herrlicher Trunk sei und eine blonde Zigarre dazu zum Poeten mache, ins Wanken brachte, war der vor kurzem verstorbene Gelehrte Professor E., als er vor etwas zehn Jahren in einer Studie die Gemeingefährlichkeit des Alkohols in solch überzeugender Weise nachwies, daß die Pokale, Römer und Gläser auf den Etagèven ins Zittern und die Aktien der Glasfabriken herunterkamen, als wären sie Landstreicher. Ich erinnere mich noch lebhaft der niederschmetternden Beweisstücke, die der Gelehrte in seiner Studie anführte. Er hat zwei Zweigchen Rosmarin in zwei Töpfchen, beide mit gesundem Humus, gepflanzt und ihr Gedeihen durch vierzehn Tage beobachtet. Das eine begoß er alltäglich mit reinem Quellwasser, das andere mit reinem Alkohol. Mit neunziggradigem Alkohol, bitte! Vierzehn Tage lang.

Und da machte der Gelehrte die merkwürdige Erfahrung, daß während das mit Wasser behandelte Pflänzchen eifrig in die Höhe kam, das andere, das mit dem neunziggradigen Alkohol, elend dahinsiechte. So etwas hätte man doch nie glauben sollen, nicht wahr? Auch die tödliche Schädlichkeit des Nikotins wurde erwiesen. Professor E. nahm einen Kubikzentimeter reinen Nikotins, tat diese pechschwarze Schlechtigkeit in einen Pravaz, und spritzte sie einem schneeweißen, putzigen Kerlchen von einem Karnickel subkutan in das zarte Körperchen. Und was meinen Sie, tat hierauf das Häschen? Sie würden es nie erraten. Aber auf mein Ehrenwort, es war so: das Häschen putzte sich sein Näschen, legte sich dann lege artis hin und hat seither nie wieder geraucht. Ich habe damals acht Tage lang kein Gläschen Wein und keine Zigarre anrühren können.

Als ich mich dann von dem Trauerfall erholt hatte, schrieb ich einen Brief folgenden Inhalts: Herr Professor! Ich mache Ihnen folgenden Vorschlag: Nehmen Sie einen Löwen; Sie wissen doch, wie man einen Löwen holt? Man nimmt eine Wüste und siebt sie. Die Wüste geht hinunter, der Löwe bleibt im Sieb. Also diesen Löwen tun Sie in einen genügend großen Bottich, mit dem klarsten, hellsten Wasser gefüllt. Nun drücken Sie den Kopf des Löwen, wenn möglich, mit der rechten Hand unter Wasser, mit der Linken zählen Sie auf Ihrer Uhr dreißig Sekunden ab – und der Löwe ist tot, maustot. Nein, löwentot! Und es war doch helles, reines Quellwasser, nicht aber Spiritus von 90 Graden.

Hat mich auch das Experiment des berühmten Professors unbefriedigt gelassen, so fühlte ich mich denn doch auf meinen Grundmauern nicht mehr bombensicher. Am Ende hat auch der Wassertropfen nicht viel mehr Logik und höhlt dennoch den Granit aus. Die Wissenschaft ist eben unermüdlich daran, die Menschheit vom Baume der Erkenntnis abzusägen. So hat sie jüngst einen Menschen einen Sack Weizenmehl aufgebürdet und diesen über die Brooklynbrücke tragen lassen, und es ging ganz flott, doch als man ihm, nämlich dem Manne, zwei Deziliter Wein verabreicht hatte und ihn hierauf mit dem Sack Weizenmehl (wohlgemerkt: es war Nullermehl!) nochmals über die Brücke jagte (warum es gerade eine Brücke sein mußte), siehe, da wurde er böse. Solche Versuche sollten den frömmsten Goodtempler stutzig machen. Auch nach einem biederen Apfelstrudel trägt sich am Ende ein Sack Nullermehl nicht leichter über die Brooklynbrücke als vor dem Apfelstrudel, und es gibt eine Menge sehr bekömmlicher Handlungen, nach denen man sich lieber ausruhen möchte, als einen Sack Mehl über die Brücke zu tragen.

Nichtsdestoweniger wirkt das soeben beschriebene Experiment in Adeptenkreisen mit der Wucht eines kosmischen Ereignisses, obgleich doch, wollte man alle Genüsse meiden, die einem mit der Zeit lästig werden können, kein Bissen oder Schluck mehr gewagt werden dürfte, nicht zu reden von der süßen Gewohnheit des Daseins, die in Gefahr käme, auszusterben, wollte man in dieser Gedankenallee fortschreiten. Was nützt dies alles aber gegenüber dem Wolkenkratzerargument: „Amerika!“, wo jetzt ein neuer Kontinent entstanden ist, die Trockeninsel im Meere des Alkohols! Wer kann gegenüber 120 Millionen aufkommen, 120 Millionen amerikanischer Lebenskünstler, Weltbejaher und Drachentöter, die wohl wissen werden, was sie tun? Wir wissen freilich gleichfalls, was sie tun. Trinken tun sie nämlich, und so viel Rezepte sind noch seit der Erschaffung der Welt nicht verschrieben worden, wie in Amerika seit der Trockenlegung, denn der Alkohol läßt sich auch in Krankenkannen zu fünf Liter täglich, jede Stunde fünf Schöpflöffel, verabfolgen, wohingegen die beteiligten Kreise mit nicht wenig geteilten Gefühlen das nie erhoffte Aufblühen des amerikanischen Apothekergeschäftes registrieren. Aber wer vermag gegen amerikanisch-englischen Cant aufzukommen?

ie Menschen müssen zu jeder Zeit einen Helden haben, ihn zu vergöttern, und einen Juden, ihn zu verprügeln. In Amerika ist heute der Alkohol der Jude unter den Getränken, wie bei uns der Jude der Alkohol unter den Völkern ist. Was hat die große Menge je Gescheites hervorgebracht? Vergöttern, außer dem einen, immer einen Genuß bei der Hand zu haben. So sind denn der Menge Vergöttern und Verfolgen bloße Genußmittel, und wenn es darauf ankommt, so wird das Vergötterte von gestern das Verfolgte von heute. Man weiß, welche Wandlungen die Religionen durchgemacht und wie viel Götter, einst hoch in Ehren und Machtfülle, heute in Not und Einsamkeit dahinschmachten.

Wer so sein Gedächtnis beisammenhält, wird sich hundertfältiger Wandlungen gerade auf hygienischen Gebiet erinnern, angefangen von den Kartoffeln, die die Wissenschaft noch vor zwanzig Jahren für das klassischeste Unternährmittel, aus bloß Asche und Wasser bestehend, erklärte, von Gott bloß für Trencsén, Liptó und Turóc bestimmt, bis zum schwarzen Fleisch, das kein gesäuerter, und zum weißen, das kein ungesäuerter Magen genießen durfte. Wo sind heute diese Theorien hingeraten? Sie waren offenbar gleichfalls aus Amerika gekommen, wo der Schwarze wohl gern gebraten, doch ungern genossen wird, das weiße Fleisch hingegen die Herrschaft inne hat. Du lieber Gott: Amerika! Das ist so, wie eine Welt in die Höhe zu fliegen, bald herunterzukommen, oben neue Götter um sich haben wollen und unten Stiefel putzen.

Ich will um alles in der Welt nicht uns herabgekommenes Europa über Amerika setzen, aber es ist doch ein gewaltiger Unterschied zwischen einem verlotterten Intellektuellen und einem reichgewordenen Weinreisenden, dem über seinem Reichtum plötzlich der eigene Alkohol ordinär geworden.

Es ist ja möglich, daß der Alkohol wirklich schädlich ist, aber die ungeheure Ausbreitung und amerikanische Aufmachung dieser Erkenntnis macht diese verdächtig. Und überdies: was ist denn schädlich? Ich habe einmal den Vortrag eines deutschen Gelehrten gehört, der die Folgen des Alkohols an der Hand ziemlich genauer Abstammungstafeln, also der Pedigrees mehrerer Familien nachwies. Diese genealogischen Tafeln alkoholischer Familien bekräftigten die Gesetze der rythmischen Wiederkehr, Mendelismus genannt, in überzeugender Weise. Man konnte beobachten, wie aus einer deliriösen Familie nach mehreren Generationen Verbrecher und Geisteskranke resultierten. Aber da bekam ich plötzlich einen Ruck. An einer mendelistischen Staude schwarzer Bohnen sprang nämlich eine weiße Bohne auf und diese gab mir den Ruck. Einer deliriösen Familie entsprang nämlich eine Frucht – Virchow genannt. Eine der glänzendsten Erscheinungen der Wissenschaft, eine herrliche Blüte auf dem Baume der Menschheit: Virchow, war einer Alkoholikerfamilie entstammt! Eine Rose aus dem Sumpfe!

Da ich dies erlebte, da hub ich an zu denken, und ich sprach zu mir wie folgt: So hat denn der Alkohol nicht bloß Entartung auf dem Gewissen, sondern auch höchste Blüte der Menschheit. Könnte man den Pedigrees sämtlicher Geistesgrößen nachforschen, man vermöchte gewiß überall Ähnliches zu konstatieren. Siehe! Ist nicht etwa die Unfruchtbarkeit der Moslims in Künsten und Wissenschaften just auf ihr Verbot des Alkohols – dem sie übrigens den Namen gaben – zurückzuführen? Goethe hat noch bis in sein hohes Alter seine zwei Flaschen Mosel täglich zuwege gebracht, und Metschnikow erzählt, daß der Altmeister schon in jungen Jahren befürchtet hatte, er werde als Fünfundzwanzigjähriger an Delirium tremens zugrunde gehen.

Alle europäische Dichtung und Kunst ist durchtränkt vom goldenen Becher Weins, und wir wären in Herzens- und Gedankenarmut versunken ohne die Perlen, die dem Pokal entstiegen sind. Stellen wir uns bloß Kunst und Poesie vor ohne sie. Nun aber noch eines. Ich muß es sagen, und sollten mich die Herren der Trockenmoral darüber totschlagen, ich muß es sagen: ein Virchow wiegt tausend Gas- und Wasserleitungsinstallateure auf! Denn auf diese ist es abgesehen. Die Eugenetik will den Normalmenschen den Durchschnittsmenschen den geruhsamen, still auf seinen Profit bedachten Bürger. Einen ohne Schwung, ohne Intuition, ohne Erfindungsgabe, dessen höchste Menschlichkeit sich im Verdienen und in der Zeugung anderer Gas- und Wasserleitungsinstallateure auslebt...ich danke. Da lob ich mir den alten Großvater Trunk, der Virchow erzeugt hat.

Aber was ist denn um Gottes willen nicht schädlich? Da ist doch allen voran das Leben selbst. Bisher ist einem immer noch das Leben gestorben, und wen man genauer zuschaut, so ist es bloß der Tod, der nicht umzubringen ist. Bei dem Aufblühen des mathematischen Denkens, dessen Zeugen wir heute sind, dürfte sich leicht eine Gleichung herstellen lassen, wie folgt: Alles vergeht, bloß der Tod nicht, folglich lebt es sich am sichersten ungeboren. Zum Glück denkt die Natur nicht logisch, und kommt man auch ihren Geheimnissen mitunter durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen näher, so entfernt man sich immer wieder durch die Denk- und Beobachtungsfehler, die stets eintreten, wo der Mensch zu spekulieren anfängt. Sicher ist auch die Theorie vom Alkohol als Zellengift solch ein Denkfehler. Erzeugt doch die Zelle selber Alkohol. Es ist die Relativität, die man tötet. Man stirbt an einem Löffel Wasser, das in die Luftröhre geraten ist, oder auch mitsamt dem Löffel in die Speiseröhre, wobei das Wasser sogar überflüssig wird, und man kann an einem Bissen Hühnerbraten zugrunde gehen, wenn ihm hundert andere vorangingen. Es ist die Relativität, die tötet. Und da kam nun der Denkfehler und sprach wie folgt:

„Was unter gegebenen Verhältnissen verheerend wirken kann, das trägt den Keim des Bösen in sich und bildet unter allen Umständen eine Gefahr.“ Die Bestie war nun losgelassen und begann mit ihren Amoklauf gegen alles, was feucht und glänzend und gut ist. Quod habet colorem, calorem, saporem et odorem, wie der süffige Tropfen nach den Regeln der Alten zu sein hat. Man sollte aber einmal den Einfluß der Denkfehler auf die Geschichte der Menschheit gründlich nachgehen, und man wird retrospektiv ganz neue Möglichkeiten über die Geschichte, wie sie ohne Denkfehler zustande gekommen wäre, auftauchen sehen. So sind schon aus den Evangelien ganze Schwärme von Denkfehlern aufgeflogen, die später der Kultur Europas Richtung und Charakter gaben; man braucht sie bloß wegzudenken, und man sieht ein anderes Europa.

Da ist doch gleich der Ausspruch Christi: „Ein Weib nehmen ist nicht gut, nicht nehmen aber ist besser“; an sich der Spruch eines Asketen, der sich jedoch mit dem Weltgesetz abfindet. Und nun kommt der Denkfehlerteufel, und anstatt zu bedenken, daß was besser ist, darum noch nicht gut sein müsse, ja, daß das Bessere der Feind des Guten sei, macht er aus dem menschfremden Nachsatz den Hauptsatz und daraufhin erstanden Mönch- und Nonnenklöster, und eine Sittenmoral, die, sich in steten Gegensatz zum Leben stellend, Zwiespältigkeiten schuf, an denen Europa noch heute und für alle Zeiten krankt. Man kann ohne Übertreibung feststellen, die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihres unzulänglichen Urteils. Es wird eine Zeit kommen, wo man auch diesem Phänomen nachgehen wird. Man wird eine Literatur zusammenschreiben über den Einfluß der Denkfehler auf die Ausgestaltung der Kultur und eine andere über die Herrlichkeiten einer Entwicklung ohne sie. Denn aller Jammer kommt von der absoluten Unverläßlichkeit des Menschenhirns und dem gleichfalls daraus resultierenden fanatischen Glauben an seine Unfehlbarkeit...

Und wie ich so dasitze und an den der Menschheit für ewig entgangenen Herrlichkeiten meine Phantasie wie eine goldgelbe Media (wo bist du hin, du göttliche Blondine?!) zu entzünden versuche und dazu wie jener Sänger vor dem Tor vom besten Becher Weins in purem Golde träume, da fühle ich ein heißes Verlangen, diese Geschichte verschwundener Möglichkeiten schreiben zu können. Freilich, freilich: ich müßte dann wieder jung sein. Und freilich, freilich: ich hätte dann Gescheiteres zu tun. Mit dreißig Jahren macht man Geschichten, im Alter schreibt man Geschichte. Welche Weltunterschiede in dem engen Raume eines Wortes! Und welche Menge von Denkfehlern!