Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1928

Hermann Hesse

Am Ende des Jahres

Die Post hat heute wieder viel gebracht. Zehn Zeitschriften, jede an die wahrhaft Gebildeten apellierend und jede nach ausschließlich künstlerischen Gesichtspunkten geleitet, empfehlen sich fürs neue Jahr, und zwanzig Verleger teilen mit, daß sie rüstig daran arbeiten, ihren rühmlichst bekannten Verlag in vornehmster Weise weiter auszubauen. Alle reden die selbe hohe und todesernste Sprache, alle führen ein Liste „erster Namen“ auf, alle tragen den führenden Zeitströmungen ausgiebigst Rechnung, und alle möchten so gern noch ein bißchen mehr verdienen.

Das alles ist ja im Grunde gar nicht neu und im Grunde vielleicht gar nicht so schlimm, und ich habe eben an diesem Kulturjahrmarkt schon hundertmal meinen Spaß gehabt. Aber heute ist es mir gerade nicht zum Lachen, nicht einmal zum Schelten. Noch vor einer Stunde war ich draußen auf den Hügeln und sah den Wolken zu, und jede zog daher oder schritt oder schwamm oder tanzte wie ein Wunder, wie ein Wort oder Lied oder Scherz oder Trost aus Gottes Mund, und strebte sehnlich ins Weite, wiegte sich im kühlen blassen Blau und war schöner und sang ergreifender als alle Lieder, die in Büchern stehen. Nun trat ich in den Kram- und Handelsmarkt Dichter und Künstler und Verleger zurück wie in einen überfüllten Raum voll ängstlich schwüler Luft, und auf einmal war ich so müde wie von einem fruchtlos verhasteten Tag, legte den Kopf in die Hand und fühlte aus dem Gewirr von Kultur, das vor mir lag, eine böse Traurigkeit wie ein Fieber gegen mich andringen. Da wehrte ich mich denn, tat den Plunder still beiseite und ging mit der Lampe in mein liebes, stilles Zimmer hinauf, wo vor den Fenstern Spatzen und Möwen flatterten und wo in engen Reihen meine vielen alten Bücher stehen. So ein altes Buch ist immer tröstlich, das redet so aus der ferne her, man kann zuhören oder nicht, und wenn plötzlich mächtige Worte aufblitzen, so nimmt man sie nicht wie aus einem Buch von heute, nicht von einem so und so genannten Herrn Verfasser, sondern wie aus erster Hand, wie einen Möwenschrei und einen Sonnenstrahl.

Und ich las. Ich las in der Heisterbacher Chronik des Mönches Cäsarius, in einem wohlig milden, gutmütigen Latein, eine kleine Klosteranekdote: Der Abt Gerhard hielt den Brüdern jeden Morgen eine Vorlesung über Gott, über das Wesen und die Eigenschaften Gottes. Es muß sein, daß er das nicht nur als Gelehrter und Dogmenkenner, sondern auch auch mit dem Herzen und mit rechter Undacht tat, sonst wäre er strenger und kritischer gegen seine Schüler gewesen. Diese nämlich meinten, längst vom Wesen und den Eigenschaften Gottes genug zu wissen, sie merkten kaum mehr auf und trieben Ullotria, träumten auch und schliefen häufig ein – wie denn das Schlafen von Cäsarius als eine besondere, sehr häufige Versuchung in einem eigenen Kapitel de tendatione dormiendi dargestellt wird. Der Abt Gerhard redete weiter, vielleicht sah er seine Schüler kaum. Eines Morgens aber fiel während des Redens sein Blick auf die Bänke der Zuhörer, und da sah er seine Mönche träumen, starren, lächeln, schielen, nachdenken oder schlafen. Er schalt aber nicht, sondern brauchte eine kleine List, eine überaus harmlose List, denn einer anderen wäre dieser Mann garantiert nicht fähig gewesen. Er hielt nämlich inne änderte den Ton seines Vortrages, als käme nun etwas ganz Neues, und sagte: „Einst geschah folgende seltsame Sache an dem berühmten Hofe des großen Königs Arthus…“ Da wachten alle Schläfer auf, und die Schieler und Träumer machten plötzlich helle, scharfe Augen, alle Zuhörer beugten sich vor, blickten aufmerksam und brannten vor Lust und Begierde, eine Anekdote von König Artus zu hören. Der Abt aber sah sie an und las in ihren Augen, und dann sagte er mit gütigem Vorwurf:“ Ach, wenn ich euch eineGgeschichte vom Hofe des Artus erzählen will, da macht ihr die Ohren auf und seid begierig. Aber wenn ich mit euch von Gott reden will, dann schlafet ihr!“

Ich tat das alte Buch an seinen Ort zurück und ging ans Fenster. Da dämmerte unten im Nebelblau der glatte See, jenseits glänzten die Dörfer mit hellen Scheiben und auf den Thurgauer Bergen lagen blasse, lange, schmale Schneefelder zwischen den Wäldern. Diese Berge, durch den See, jenseits glänzten die Dörfer mit hellen Scheiben und auf den Thurgauer Bergen lagen blasse, lange, schmale Schneefelder zwischen den Wäldern. Diese Berge, durch den See von mir getrennt, stiegen so schön und schweigend und feierlich in die verschleierte Höhe und standen so still und selig rastend in der herandämmernden Winternacht, dass mir schiene, ich könnte eine Seliger sein und alles Geheimnisse der Erde verstehen, wenn ich jetzt dort drüben wäre. Dort lag der bleiche Schnee so anders als auf meinem Dach, dort standen Buchenwälder und schwarze Föhren so unbegreiflich schön und entrückt, wie ich sie niemals in der Nähe sah; vielleicht wandelte dort Gott selber über die Hänge, und wer ihm dort begegnete, der könnte ihn berühren, und ihn grüßen und ganz nah in seine Augen blicken.

Ja, dort drüben! Schon hier, in meinem schönen, stillen Dorf, auf meinem Hügel, in meinem Walde, wage ich Gott nicht zu denken, berühre nicht seine Hand, höre nicht seinen Schritt – ich suche ihn drüben, überm See, hinter dem lichten Nebel. Und wie erst, wenn ich nun in einer unserer Städte wäre? Wo ist da ein Ort, an dem ich mich nicht schämte oder erschräke, wenn dort Gott mir begegnete? Ist das nicht jedes Haus und jeder Stein voll von lüsternem Verlangen – nach einer Geschichte vom König Artus? Es ist wenige Tage her, da fragte mich ein Freund, ein Künstler, in welcher Stadt es wohl schön und gut zu leben wäre. Wir hielten Rat, wir nannten viele Städtenamen, wählten und verwarfen, aber wir fanden die Stadt nicht, in der wir für immer oder nur für lange Zeit hätten wohnen müssen. Statt dessen leben wir, da einer und dort einer, in Dörfern, auf Bergen, in Landhäusern, der in Tirol und jener am Meer, der in der Heide und der am Bodensee, und wir wagen es nicht, zusammen an denselben Ort zu ziehen, und finden die Stadt nicht, die wir Heimat nennen möchten. Muß das so sein?

Oft besann ich mich: ist es wohl immer so gewesen? Allein das ist hoffnungslos. Wer jemals ehrlich das betrachtet hat, was wir Weltgeschichte nennen, muß ja wissen, dass jede gewesene Zeit und Art und Kultur für uns mit hundert Siegeln verschlossen und ewig rätselhaft ist.

Ich stand und dachte an den Abt von Heisterbach, an Gott und an den König Artus. Mein Blick lief über di Bücherreihen; viele von den Büchern, die sonst meine Lieblinge sind, waren tot und sagten nichts, aber da und dort sahen mich ein alter, brauner Band und Lederrücken lebendig und durchdringend an. Da stehen sie geordnet und warten, und in jedem ist Gott, aber er redet nicht zu allen Stunden, und oft, wenn ich ihn meiden will und irgendeine frohe Historie anfange, da ist es wie bei dem Abt, und statt der ergötzlichen Geschichte, auf die ich lüstern war, sehe ich einen liebend traurigen Blick und höre jemanden sagen: Wenn ich aber von Gott rede, da schlafet ihr!