Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1930

Graf Albert Apponyi

Bayreuth 1876-1930 + Die Bayreuther Toscanini-Abende

Graf Albert Apponyi (1846 Wien -1933 Genf) war fünzig Jahre Abgeordneter, 1917-18 Unterrichtsminister, ab 1920 ungarischer Chefverhandler in Trianon bei den Verhandlungen mit Siegermächten des Ersten Weltkrieges, politisch ein erzkonservativer Ständestaatler und Liberalenfresser, verfasste er vor allem während und nach der Trianon-Zeit einige Dutzend Leitartikel für den Pester Lloyd.
 

Bayreuth 1876-1930

(...) Es war eine andere Welt, künstlerisch sowohl wie politisch als im Jahre 1877 das Bayreuther Festspielhaus seine Tore auftat. Politisch stand Deutschland auf der Höhe seiner Macht; alle Faktoren der kolossalen Kraftentfaltung des Kriegs 1871 waren noch unverbraucht vorhanden: Kaiser Wilhelm I. herrschte, Bismarck regierte: es war noch die ungetrübte Sieges- und Einigungsathmosphäre, und Richard Wagner war mit voller Gesinnung dabei; sein überquellendes deutsches Empfinden kannte damals nicht Zweifel, nicht Bedenken; er lebte in der wiedergewonnenen Größe des deutschen Vaterlandes und fügte sein Kunstwerk bewußt in den deutschen Gedanken ein. Niemals schien eine Zeit günstiger für ein großes deutsches Kunstunternehmen, als welchse die Bayreuther Festspiele sich ankündigten.

Aber die künstlerische Athmosphäre war noch lange nicht geklärt; Wagner war noch ein Problem, ein Kampfobjekt. Er hatte seine begeisterte Gemeinde, aber auch seine erbitterten Gegner. Ich, der ich mit Leib und Seele zur Gemeinde gehörte, sollte es bald zu spüren bekommen; der Zufall fügte es, daß mein Sitznachbar im Festspielhause der berühmte Musikschriftsteller Eduard Hanslick war, der verbissenste, aber auch hervorragendste Vertreter musikwissenschaftlicher Wagner-Gegnerschaft. Ich kannte ihn oberflächlich, so daß wir unvermeidlich einige Worte wwechseln mußten, bei denen allerdings jede Bezugnahme auf das große Werk, zu dem wir uns so verschieden verhielten, taktvoll vermieden wurde. Dennoch war diese zufällige Begegnung charakteristisch für die ganze Lage.

Gewiß war das Zustandekommen der Bayreuther Festspiele ein Sieg Wagners; er hatte es durchgesetzt, daß für eine menschlich möglichst vollkommene Aufführung seiner Werke, für eine Aufführung nach vorhergehender sorgfältiger Vorbereitung ganz in seinem Geiste, eine eigene Stätte geschaffen war; aber nicht nur für die Aufführung, sondern auch für das Anhören im Sinne seiner Intentionen. Denn was ihm vorschwebte, war eine deutsche Wiederbelebung der Idee, die sich im griechischen Altertum in den amphiktyonischen Spielen verkörpert hatte: das Herausreißen einer gewissen Zeit aus der Tretmühle des Alltagslebens, während welcher Zeit sich das In-sich-Aufnehmen des Kunstwerkes die Hauptbeschäftigung des Lebens sein sollte, und nicht, wie es im Alltage ist: eine flüchtige Abendzerstreuung für einen durch die Berufsarbeit ermüdeten Organismus. Die höchste Aufnahmefähigkeit sollte beim Hörer ebenso gesichert sein, wie die höchste Vollendung beim Darsteller: eine Art geistiger Höhenluft oder, wenn man will; künstlerischer geistlicher Exerzitien.

Im Entwerfen dieses kühnen Planes, verbunden mit der Überzeugung, daß seine Werke geeignet sind, ihn zur Verwirklichung zu bringen, zeigte Richard Wagner ein imponierendes Vertrauen in die eigene Größe, eine Einschätzung seiner selbst, die geradezu herausfordernden Charakter hatte, wenn sie sich auch mit der ganzen Naivität, die dem Genie in solchen Dingen eignet, als Selbstverständlichkeit kundgab. Nun, die Herausforderung gelang; ein Blick auf die Geschichte Bayreuths genügt, es festzustellen. Heute ist Wagner so wenig ein Umstrittener, als es Sebastian Bach oder Beethoven oder Goethe ist; sein Rang als einer der Allergrößten unter den Größten ist eine feststehende Errungenschaft der Kulturgeschichte.

Aber damals war es noch nicht so; die Eröffnung des Festspielhauses war allerdings eine gewonnene Schlacht, aber sie brachte noch nicht die Entscheidung im Feldzuge. Zwar strömten geistige Führer, sowie politische Machthaber Deutschlands in großer Zahl nach Bayreuth, den alten Kaiser Wilhelm an der Spitze, der obwohl vollständig Analphabet in künstlerischen Dingen, sich von der nationalen Bedeutung des Unternehmens doch überzeugen ließ. Aber die Hanslick waren auch da; die Mißgünstigen, die Skeptiker, die „Überlegenen”, die alles Große von Haus aus belächeln, waren auch in der Zuhörerschaft der ersten Festspiele stark vertreten, und in der Fachliteratur, sowie in der Tagespresse hatten sie die Waffen keineswegs niedergelegt. „Wagnerianer” war noch immer die Bezeichnung für eine absonderliche Geistesverfassung, der ein gewisses Merkmal des Sektierertums anhaftete.

Freilich lag das auch daran, daß die Schaffung der Bayreuther Kunststätte eine propagandistische Tätigkeit notwendig machte, die solchen Anschein schuf und daß der hartnäckige Widerstand, dem Wagner begegnete, diejenigen, die für ihn und von ihm gewonnen waren, in helle Kampfesstimmung versetzte. Dazu kam, daß der Meister selbst in der merkwürdigen, fast einzig dastehenden Bewußtheit seines spontan wirkenden Genies sich gedrängt fühlte, das eigene Schaffen theoretisch zu erklären, ästhetische Grundsätze für das Musikdrama aufzustellen, die eigentlich nur die philosophische Formulierung seiner künstlerischen Individualität waren, aber, als allgemeine Vorschrift gefaßt, notwendig auf Widerspruch stoßen mußten. Das alles war damals noch ungeklärt, und es wogten die Stimmungen hin und her. Zwischen den enthusiastischen, keine Kritik zulassenden, jeden Takt verhimmelnden Anhängern und den alles leugnenden, verbissenen Widersachern lag jene Menge, die vorerst von jedem Neuen fremdartig berührt, von diesem angezogen, von jenem abgestoßen, ihren Standpunkt erst sucht.

Jedes Genie begegnet in der Entfaltung seines Wirkens dieser Menge, und sie ist es, deren allmählich reifende Stellungnahme über seine endgültige Wirkung nach außen entscheidet. Diese Entscheidung war damals noch nicht gefallen, wenngleich sie sich schon voraussehen ließ: heute ist sie da, und zwar nicht nur für den großen Dichterkomponisten selbst, sondern auch für seine Bayreuther Idee, für den großartigen Plan, eine Stätte der reinen Stilerhaltung, der beständigen Erneuerung des ursprünglichen Geistes, zu schaffen, gewissermaßen als Maßstab und Kontrolle für die anderen Aufführungen und als Quelle reinen Empfangens für die Hörenden.

(...)

Ja, der Erfolg übertrifft in gewissem Sinne die kühnsten Erwartungen. Der Meister selbst dachte ihn als nahezu exklusiv deutsch; er ist aber allgemein menschlich geworden, ohne etwas vom deutschen Charakter des Werkes einzubüßen. In Frankreich überwand er die schwersten Krisen, den Völkerkonflikt; in Italien die grundverschiedene Veranlagung einer mächtigen, ebenbürtigen künstlerischen Volksindividualität. Dieser letzte Triumph der Größe Wagners, vielleicht der bedeutendste von allen: die Annäherung des germanischen und lateinischen Genies in der Musik, findet bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen ihren frappanten symbolischen Ausdruck durch die Berufung des repräsentativsten neuitalienischen Musikers, zugleich des vielleicht größten Dirigenten unserer Zeit, Arturo Toscaninis, zur Teilnahme an der musikalsichen Leitung.

Ich übertreibe nicht, wenn ich diese Berufung als ein kulturhistorisches Ereignis ersten Ranges bezeichne. Man versetze sich in die Bayreuther Stimmung des Jahres 1876 zurück, als am errungenen Siege selbst dort noch der Zweifel nagte - auch in der Seele des Meisters, über dessen Geistesverfassung in jenen Tagen das Buch des Grafen Du Moulin Eckert über Frau Cosima Wagner pathetisch anmutende Aufschlüsse gibt. Enttäuscht durch manche Mängel der Aufführung, verärgert durch die endlosen finanziellen Schwierigkeiten, dachte Wagner ganz ernstlich an die Abtragung des Festspielhauses und die Liquidierung des ganzen Bayreuther Gedankens. Nur die schöpferische Tätigkeit an Parsifal, die in den Jahren nach den ersten Festspielen sein ganzes Denken und Empfinden in ergreifender Weise beeinflußte, gab ihm wieder Mut und Lebensfreude.

Man vergegenwärtige sich andererseits das damalige Musikleben Italiens, wo Lohengrin erst eben eingezogen war, aber mit einer Gattung Verständnis, die den Meister erschaudern machen mußte, da sie sich z. B. darin äußerte, daß die Ankunftsszene Lohengrins im ersten Akt da capo verlangt wurde. Wenn da jemand gesagt hätte, daß 50 Jahre später die Geisteserben Wagners einen großen Italiener nach Bayreuth berufen würden, um dort Tristan - ausgesucht Tristan, eines der typischsten Wagnerwerke - einzustudieren und zu dirigieren, so wäre dieser dies- und jenseits der Alpen für verrückt gehalten worden. Und nun geschieht es und die ganze musikalische Welt steht im Banne dieses Ereignisses und begrüßt es als ein Fallen der Schranken kultureller Zusammenarbeit.

Was die Zusammenarbeit auf musikalischem Gebiete bedeutet, darüber werde ich bei Besprechung der von Toscanini geleiteten Aufführungen Gelegenheit haben, ein Weiters zu sagen. Nur in negativem Sinne will ich noch einmal hervorheben: keineswegs bedeutet sie eine Beeinträchtigung des urwüchsig germanischen Charakters der Werke, sondern die Erweiterung ihres Ausstrahlungskreises, vielleicht auch gesteigerte Möglichkeiten für das Aufdecken aller Elemente ihres tiefsten Inhaltes. Hier wie auf jedem anderen Gebiete der internationalen Kooperation soll diese mit voller Wahrung der nationalen Eigenarten Hand in Hand gehen; denn die Abschwächung dieser Eigenheiten würde zur allgemeinen Verflachung führen. Das vom Meister gehißte deutsche Banner weht ungefälscht und in ungebrochenem Stolze von den Zinnen des Bayreuther Festspielhauses; nur seine universelle Bedeutung tritt durch die symbolische Beleuchtung, die ihr heute zuteil wird, mit größerer Klarheit hervor; der Anno 1876 in seinen unverrückbaren Grundmauern vollendete Bau erhält heute, bald fünfzig Jahre nach des Meisters Tode, die Krönung.

 

Die Bayreuther Toscanini-Abende

„Tannhäuser”

Die Festspielatmosphäre ist durch die Erkrankung Siegfried Wagners und den Unfall der Frau Toscanini getrübt. Abgesehen von der Teilnahme, die jedermann, vor allen aber jene, die der Familie des verewigten Meisters näherstanden, empfinden mußten, daß der hochbegabte und treue Hüter eines unmeßbaren väterlichen Erbes dem Genuß des höchsten Triumphes entrückt wird, den dieses Erbe jetzt feiert, schleicht sich auch die Sorge in die Gemüter, inwieweit das Fühlen einer so starken Führung, wie sie in Siegfried Wagner verkörpert ist, in den Aufführungen sich etwa fühlbar machen wird. Ebensowenig kann man sich der Tragik verschließen, daß die treue Lebensgefährtin des großen italienischen Meisters die Stunde nicht unmittelbar mitgenießen kann, die jener selbst als die Krönung seines künstlerischen Ruhmes betrachtet.

Nun, die schmerzliche Teilnahme kann nicht behoben werden, aber die Sorge erweist sich als überflüssig. So festgefügt war das vorbereitende Werk, das Siegfried Wagner in der Spielleitung vollbracht hatte, daß seine Abwesenheit im letzten Moment keine Schwankung, kein Versagen zur Folge hatte. Es strahlte alles im herrlichsten Glanz, und Toscanini hat sich selbst übertroffen. Aber zuvörderst ein Wort darüber, wie es wohl dazu gekommen sein mag, seine Wirksamkeit in Bayreuth gerade mit „Tannhäuser” und „Tristan” eingeleitet zu haben? Was bedeutet wohl diese Zusammenstellung?

„Tannhäuser” und „Lohengrin” sind die beiden Werke Richard Wagners, durch die der Meister am meisten popularisiert wurde. Auch diese waren umstritten; von einem mächtigen Teil der Kritik hartnäckig bekämpft, drangen sie doch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in unwiderstehlichem Siegeslaufe durch, dem auch die bekannte Pariser Episode nichts anhaben konnte. In den fünfziger Jahren hatte sie an den deutschen Hofbühnen auch noch mit den Erinnerungen an die revolutionäre Haltung des Meisters während der 48er Bewegungen zu kämpfen. Es bedurfte des ganzen Einflusses Franz Liszts - der die Annahme der ihm angebotenen Stelle eines großherzoglichen Musikdirektors an diese Bedingung knüpfte - um ihre Aufführung in Weimar durchzusetzen. Liszt schrieb aus diesem Anlaß über diese beiden Werke zwei wunderbare Aufsätze; er war gepackt - wie er mir später erzählte - durch ihren poetischen Gehalt, ebenso wie durch ihren musikalischen Aufbau. Von „Tannhäuser” sprechend, hob er den Eindruck hervor, den er erhielt, als ihm ein Opernwerk in die Hände kam, in dem, dichterisch und musikalisch, die höchsten ethischen Momente, der Konflikt zwischen der Sinnlichkeit und der erhabensten, fast überirdischen Liebe zu glühendem Ausdruck gebracht werden, in dessen Mittelpunkt ein Charakter wie Elisabeth steht und das Motiv der Entsündigung durch opferwillige Reinheit. Wie stach das von dem blühenden Unsinn und der Banalität ab, die in den landläufigen Opernlibretti herrschten. Wie einzig aber war die organische Verbindung von Text und Musik, wo beides aus einer Inspiration entstand, wo der Dichter zugleich Komponist war. Darum ist ja Richard Wagner ein Einzelfall in der Kulturgeschichte, nicht geeignet, Schule zu machen, noch nachgeahmt zu werden. Es hat allen übelbekommen, die es versuchten. Der Dichter-Komponist läßt sich ebensowenig in zwei Stücke schneiden, als es möglich ist, in seinen Werken Dichtung und Musik zu scheiden. Nie hat er es angestrebt Musikstücke zu schreiben, die nicht Musikdramen waren, wie Dichtungen, die nicht aus dem Ton geboren waren; er ist in keine schematische Kategorie der Kunstgeschichte einzureihen, er ist eben Richard Wagner, Persönlichkeit und Gattung zugleich.

Damit soll nicht sein großer Einfluß auf die Weiterentwicklung der dramatischen Musik in Abrede gestellt werden. Selbst Meister Verdi konnte und wollte sich ihm nicht entziehen. Die Bedeutung der Dichtung wird höher eingeschätzt, Einklang zwischen ihr und der Musik gewissenhafter gesucht, Leitmotive beinahe allgemein angewendet. Aber: Nachahmung kann nicht gelingen, ein für alle Komponisten gültiger Kanon kann aus einer machtvollen Individualität nicht abgeleitet werden.

Ist aber Wagner in „Tannhäuser” (und auch in „Lohengrin) schon ganz Wagner? Die Aufnahme dieser Werke in den Bayreuther Spielplan - freilich nicht schon zu des Meisters Lebzeiten, aber doch durch den Willen der berufensten Hüter seiner Intentionen, voran die kongeniale Gefährtin seines Lebens, die wie niemand anderer in den tiefsten Sinn seines Schaffens eingedrungen war - gibt auf diese Frage bejahende Antwort. Mag sein - der Meister selbst äußerte sich wiederholt in diesem Sinne -, daß diese Werke in manchen Teilen noch den Einfluß der traditionellen Opernschablonen merken lassen; mag sein - ja dies ist sogar gewiß -, daß sie noch nicht die Vollreife seiner schaffenden Individualität repräsentieren, die Vollendung seiner Orchestertechnik, seiner dramatischen Dynamik; aber ebenso unzweifelhaft ist das Wesen der Individualität schon da und leistet sie auch hier, in einzelnen Szenen so Machtvolles in dramatischer Charakterisierung durch Musik, daß es auch in den späteren Werken des Meisters nicht übertroffen worden ist.

Die Frage wird aber mitunter aufgeworfen: wozu bei Festspielen Werke aufführen, die schon lange Gemeingut aller Opernbühnen geworden sind, di ejeder in der Heimat unzählige Male hören kann - wohl auch gehört hat? Die Antwort lautet: eben deshalb, weil dies der Fall ist, weil diese Werke, wohl wegen der geringen Schwierigkeiten, die sie bieten, mehr als die späteren zu Repertoirestücken geworden sind, die eventuell auch ohne Probe eingeschoben werden, wenn die Aufführung eines anderen Werkes an irgendeinem Abend aus irgendwelchem Grunde unmöglich gemacht worden ist (wer hat solches nicht schaudernd miterlebt?), eben weil sie infolge dieser Umstände der Gefahr der Verschlampung am meisten ausgesetzt sind, ist es notwendig, sie von Zeit zu Zeit wieder auf die Höhe ihrer Inspiration emporzuheben, den Stil für ihre Darstellung festzustellen. Ihre Würde zu erhalten, um auch den anderen Opernleitungen, die den Heldenkampf gegen die Verschlampung ehrlich führen wollen, zu Hilfe zu kommen.

Die vorhergehenden Betrachtungen finden nur in beschränktem Maße Anwendung auf den „Tristan”, ein Werk, dessen typisches Wagnertum wohl niemals angezweifelt wird, und das durch die hohen Anforderungen, die es an alle Mitwirkenden - vor allem an den Dirigenten - stellt, vor Verschlampung besser geschützt ist als der relativ „leichtere” „Tannhäuser”. Dennoch ist Hütung des Stils die Hauptaufgabe Bayreuths, auch hier eine absolute Notwendigkeit; mit diesem Maßstab muß jede Bayreuther Aufführung gemessen werden.

Indem der Italiener Toscanini es heuer übernahm, die Aufgabe für „Tristan” und „Tannhäuser” zu lösen, bekannte er sich in demonstrativer Weise zum ganzen Wagner; dem der früheren, sowie dem der späteren Epoche; das demonstrative Zusammenrücken der beiden Werke durch die Aufführung an zwei unmittelbar folgenden Abenden hat wohl zum Zwecke, die geistige Kontinuuität des Wagnerschen Schaffens dem Zuhörer fühlbar zu machen, so wie es der Dirigent fühlt. Wie Toscanini dieses große Werk vollführt, darüber, sowie über die im Eingangsartikel erwähnte Bedeutung der germanisch-lateinischen Zusammenarbeit auf musikalischem Gebiet, kann ich mich zusammenfassend erst nach der „Tristan”-Aufführung äußern. Heute sei nur von „Tannhäuser” die Rede.

Die Erwartung war auf das höchste gespannt: sie wurde übertroffen.
Ich entsinne mich kaum selbst, so Vollendetes erlebt zu haben wie es diese „Tannhäuser”-Aufführung war. Alles stimmte: das Musikalische, das Dramatische, die wirklich vorzüglichen Solisten, die Chöre, die Massenbewegungen, die herrlichen Dekorationen. Alles leuchtend in der Pracht eines in unnachahmlicher Dynamik wirkenden Orchesters.

Das war das größte in dem gestrigen Ereignis: die restlose künstlerische Einheit, die sich aus dem Zusammenwirken repräsentativer Persönlichkeiten des germanischen und des lateinischen - oder sagen wie lieber: italienischen Geistes ergeben hatte. Da waren nicht zwei Strömungen, zwei Einflüsse zu konstatieren: es war ein geschlossenes Ganzes, Musik und Dichtung in der Darstellung ebenso untrennbar vermählt wie im Werke und in der Intention des Meisters selbst. In der Besprechung aber läßt sich diese Einheit nicht festhalten. Auch wer, wie ich, nicht als Theater- und Musikkritiker schreibt, sondern Gesamteindrücke wiedergeben will, kann dies nur mittels Eingehens in die einzelnen großen Züge der Vorstellung erreichen, und so will ich es auch versuchen.

Schon beim Erklingen der ersten Takte des Pilgerchormotivs und der Orchestereinleitung, dann bei der Steigerung ihres sanften Gebetanfanges zur Bekenntniswucht, fühlte sich der Hörer gepackt durch die meisterhafte Dynamik des Vortrags, ein Eindruck, der sich bei der herrlichen Einleitungsmusik des dritten Aktes womöglich noch verstärkte. Das ganze Romdrama Tannhäusers ertönte da aus dem mystischen Abgrund des unsichtbaren Orchesters; der Glanz und die Kraft stieg ins Unheimliche. Wie neu wirkte die Musik zum Einzug der Gäste im zweiten Akt - unterstüzt freilich durch die wundervolle Inszenierung und Beweglichkeit, die das ganze Bild belebte. Und wie nun Orchester und Sänger sich aneinanderschmiegten, einander stets verstanden, wie stets das richtige Kraftverhältnis gefunden wurde: dies alles stellt den Anteil Toscaninis am Erfolg dar, der außer der Orchesterproben mit jedem Sänger am Klavier seinen Part durchstudierte.

Die musterhafte Spielleitung aber, die dramatische Auffassung, von der alle Sänger beseelt waren, die Einstellung wunderschöner neuer Dekorationen sind das Werk Siegfried Wagners und seiner bewährten hiesigen Mitarbeiter. Es kann nicht genug wiederholt werden, wie sehr dies alles in Einheit zusammenfloß, aus einem Guß war, als ob es aus einem Haupt hervorgegangen wäre. Eigentlich war es ja auch so; das eine Haupt, das alles beherrschte, war der verewigte Meister selbst: in der selbstlosen Hingabe an sein Werk fügten sich die Fortsetzer seines Werkes zu jener Einheitlichkeit, die unsere Bewunderung erregte.

Es ist Aufgabe des Musikkritikers, nicht die meinige, die Leistungen der Einzeldarsteller zu würdigen, nur soviel möchte ich hervorheben, daß ich selten einer Vorstellung beigewohnt habe, in der jeder und jede so entsprochen hätten wie gestern. Leider „warum muß es bei menschlichen Dingen, auch bei den schönsten, immer ein „leider” geben?) war derjenige, der uns Ungarn persönlich am meistne interessierte, der Darsteller des Tannhäuser, Sigismund Pilinszky, von einer durch Erkältung herbeigeführten Indisposition daran gehindert, seine schönen Stimmittel zur Geltung zu bringen; nur mit Aufopferung, stellenweise sogar nur markierend, führte er seinen Part zu Ende, schauspielerisch tadellos, eine bedeutende Entwicklung zeigend. Von den übrigen muß selbst in diesen summarischen Aufzeichnungen die Darstellerin der Elisabeth, Maria Müller, hervorgehoben werden, eine Künstlerin großen Formats, in der sich schöne Stimme, Gesangskunst und Darstellungsgabe in seltener Harmonie vereint finden. Prachtvolle Stimmittel zeigte auch die Venus der Frau (oder Fräulein?) Ruth Jost-Arden; sie ist in deren Gebrauch noch nicht vollständig reif, schuf aber doch, unterstützt durch eine schöne Erscheinung, auch im Spiele eine entsprechende Gestalt der Liebesgöttin. Vortrefflich waren auch - insbesondere gesanglich - der Landgraf des Herrn Andrésen und der Wolfram des Herrn Jansen, sowie das Ensemble der Meistersänger. Kurz, es war ein Eindruck vollständiger künstlerischer Harmonie, wie man ihn nur selten erhält.

Der Enthusiasmus des Publikums steigerte sich von Aktschluß zu Aktschluß. Am Ende der Vorstellung nahm er wahrhaft stürmische Dimensionen an, deren Kundgebungen eine geraume Zeit dauerten, ohne aber das Erscheinen irgendeiner leitenden Persönlichkeit vor dem Vorhange erzwingen zu können. Und das war recht so. Abgesehen von der Bayreuther Tradition, die dem Feiern einzelner Personen abhold ist, hätten in gegenwärtigem Falle zwei Personen in erster Reihe vor die Rampe treten müssen, sollte der Gerechtigkeit Genüge geschehen, Toscanini und Siegfried Wagner; sie teilen sich redlich in den Erfolg des Abends, ihr Erscheinen zusammen hätte auch die Symbolik der heurigen Festspiele zu entsprechendem Ausdruck gebracht. Das bloße Zartgefühl verbot dem einen, die Huldigung allein entgegenzunehmen, von der ein Teil der anderen gebührt, wenn dieser andere durch eine Erkrankung, deren Tragik gestern jedermann empfinden mußte, am Erscheinen verhindert war. Bayreuth, 23. Juli 1930