Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1930

Wilhelm Marx, Reichskanzler a.D.

Paneuropa – ein Januskopf?

Zum 15. Juli sind beim französischen Außenminister die Antworten der von ihm befragten europäischen Staaten über sein Memorandum vom 1. Mai 1930 eingelaufen. Sämtliche Staaten haben, soweit sich jetzt übersehen lässt, unter mehr oder minder weitgehenden Vorbehalten ihre Bereitwilligkeit erklärt, an einer gemeinsamen Besprechung eines Zusammenschlusses der europäischen Staaten teilzunehmen. Polen hat aus leichtverständlichen Gründen am feurigsten seine Zustimmung erklärt und überbietet noch in manchen Punkten die Vorschläge Briands. Die deutsche Regierung hat ihre Bereitwilligkeit, an den Verhandlungen teilzunehmen, erklärt, hierbei aber, soweit aus Pressestimmen zu erkennen war, weitgehende Vorbehalte geäußert.

Dem Frieden und der Sicherheit soll Paneuropa dienen. Ein hohes, überaus wichtiges und erstrebenswertes Ziel! Der frühere Ministerpräsident Herriot aber sieht schon wieder „das Wiedererstehen einer blutigen Vergangenheit und ein in Flammen stehendes Europa“ voraus, wenn gewisse Vorbedingungen an das Zustandekommen der Vereinbarungen geknüpft werden. Hat das Ideal Paneuropa also doch verschiedene Gesichter? Es wird vom Willen und von der Klugheit der Staatsmänner abhängen, die zur Besprechung des an sich hochwichtigen Zieles zusammentreten werden, welches Gesicht es tragen soll.

Herr Briand legt den Hauptwert auf eine politische Verständigung. Hat er damit nicht schon einen Gefahrenpunkt für sein Projekt selbst geschaffen? Gewiß wird ein Ziel die politische Einigung Europas sein und bleiben müssen. Gefährlich scheint es uns aber, damit den Anfang zu machen, statt es zum Endpunkt zu wählen. Aussichtsreicher erscheint es doch, zunächst auf wirtschaftlichem Boden die Völker zusammenzuführen. Allseitig ist das Verlangen danach gerade zu unserer Zeit, wo eigentlich alle Kulturvölker unter schwersten wirtschaftlichen und finanziellen Sorgen seufzen. Haben nicht auch Wirtschaftskreise zuerst eine Brücke zwischen Deutschland und Frankreich geschlagen? Sind nicht gerade wirtschaftliche Unternehmer vielfach die Pioniere der Völkerverständigung? Man wird also wohl sicherer zum Ziele kommen, wenn man zunächst die wirtschaftliche Einigung ins Auge faßt. Selbstverständlich muß zu gleich damit oder wenigstens im engsten Zusammenhang damit auch die politische Einigung behandelt werden.

Soll eine Einigung der europäischen Völker erfolgen, so ist es ganz selbstverständlich, daß kein Staat Europas, der sich an der Einigung beteiligen will, ausgeschlossen werden darf. Das Bestehen und die Tätigkeit des Völkerbundes darf in keiner Weise durch die neue Organisation bedroht oder auch nur behindert werden. Im Gegenteil, die Wirksamkeit des Völkerbundes soll durch den Zusammenschluss der europäischen Staaten gefördert werden. Keinesfalls soll aber die Zugehörigkeit zum Völkerbund Voraussetzung für die Teilnahme an Paneuropa sein. Rußland und die Türkei müßten unter allen Umständen wenigstens eingeladen werden, an der Besprechung teilzunehmen. Auf die Beteiligung Englands vollends muß der größte Wert gelegt werden. Wenn auch dessen Dominien eine besondere Stellung Englands in der Vereinigung erfordern, so wird doch das Hinübergreifen des englischen Empires auf andere Erdteile nicht der Beteiligung Englands an dem neuen Staatenbunde hindernd entgegenstehen dürfen.

Wie wir schon bei früheren Gelegenheiten hervorgehoben haben, darf weiterhin der Zusammenschluß der europäischen Staaten in keiner Weise eine Spitze gegen andere Kontinente, insbesondere gegen Amerika, haben. Die Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß von den wirtschaftlichen und politischen Krisen des einen Erdteils die anderen mit ergriffen werden. Ein Wirtschaftskrieg des einen Kontinents gegen den anderen würde ein Unglück für die ganze Welt darstellen. So sehr wir die Überspitzung des neuen Zolltarifs der Vereinigten Staaten von Amerika bedauern und die Befürchtung nicht loswerden können, daß sie sich auch zum Nachteil Nordamerikas selbst auswirken wird, so würden wir es für geradezu verderblich halten, wenn Paneuropa eine Front gegen Amerika bedeuten sollte. Hingegen muß mit aller Entschiedenheit Vorkehrung getroffen werden. Es muß alles vermieden werden, was in Amerika irgendwie Besorgnisse in dieser Richtung hervorrufen könnte. Eine kluge und weitschauende Gestaltung des europäischen Zusammenschlusses wird ganz offensichtlich das wirtschaftliche Leben und damit auch die Kaufkraft der europäischen Staaten heben und stärken, und damit ein solcher auch letzten Endes im Interesse des amerikanischen Handels und der amerikanischen Wirtschaft liegen. Je blühender de Wirtschaft Europas, um so größer auch die Wahrscheinlichkeit, daß die hohen amerikanischen Forderungen aus der Kriegszeit gedeckt werden.

Wenn wir soweit Richtlinien für das Verhältnis Paneuropas zu außerhalb liegenden Staaten aufgestellt haben, so wird noch Näheres zu dem Verhältnis der europäischen Staaten zu einander zu sagen sein. Man muß es Briand lassen, daß sein Memorandum mit großer Meisterschaft verfasst worden ist; deutlich aber tritt der unvermeidliche Alpdruck der französischen Mentalität an verschiedenen Stellen hervor: das Verlangen nach Sicherheit! Als wenn nicht das Zustandekommen eines ehrlichen und ernst gemeinten Zusammenschlusses der europäischen Staaten, auch wenn er zunächst hauptsächlich nur wirtschaftlicher Natur wäre, die beste Gewähr für den Frieden und eine friedliche Verständigung der Nationen bei vorkommenden Streitfällen darstellte! Man hat aber an manchen Stellen des Memorandums das unbestimmte Gefühl, als tauche hinter den Sätzen das Gespenst des Genfer Protokolls auf. So etwas sollte unter allen Umständen vermieden werden.

Mit Recht sieht aber Briand das Wesentliche seines Planes „im Ausbau einer politischen Lage, die auf dem Vertrauen zwischen den Völkern und der wirklichen Befriedung der Geister beruht“. Ein herrliches Wort, ein ideales Ziel, ein Ziel, des Schweißes der Edlen wert! An einer anderen Stelle heißt es: „Die Verständigung zwischen den europäischen Staaten muß auf dem Boden unbedingter Solidarität und völliger politischer Unabhängigkeit erfolgen.“ Hat Herr Briand bei diesen Worten auch an Deutschland oder an Österreich gedacht? Hat er vergessen, daß Deutschland seine Souveränität noch nicht wieder im vollen Umfange zurückerhalten hat? Denkt er nicht daran, daß man in Frankreich in größte Nervosität gerät, sobald man nur einmal in Österreich oder in Deutschland von dem Zusammenschluß dieser beiden stammesverwandten Staaten spricht? Die Natur wird auch hier stärker als Friedensverträge sein! Aber, so hört man Herrn Briand und mit ihm Herrn Herriot warnend sagen: „Von den Friedensverträgen darf in Paneuropa nicht die Rede sein! Ihr Ergebnis muß als feststehend ohne Widerspruch hingenommen werden!“.

Aber erlauben Sie, Herr Briand, wie denken Sie sich den eigentlich einen Weg, der „das Vertrauen zwischen den Völkern und die wirkliche Befriedung der Geister“ wiederherstellen soll? Hier erheben sich die Gespenster des polnischen Korridors, der geradezu wahnsinnigen Grenzführung in Oberschlesien, die Beeinträchtigung der Rechte der entmilitarisierten Zone! Wiederholt habe ich schon Ausländer, namentlich die Europa so zahlreich besuchenden Amerikaner , gebeten, sich einmal persönlich an die Ostgrenzen im Norden und im Süden zu begeben und die dort herrschenden unglaublichen Zustände aus eigener Kenntnis zu beurteilen. Selbst vom wirtschaftlichem Standpunkte aus ist der polnische Korridor geradezu unsinnig: eine ganze lebensfähige, früher blühende Provinz, Ostpreußen, ist vom Mutterlande abgeschnitten und siecht dahin. Wie ein unübersteiglicher Alpenzug schneidet der Korridor jahrzehntelang benützte Verkehrsstraßen und Eisenbahnlinien ab. Die oberschlesische Grenzziehung läßt ganz deutlich die Absicht erkennen, den wirtschaftlichen Betrieb von deutschen Bergwerken und deutschen Zechen für die Deutschen selbst zu behindern oder ganz unmöglich zu machen.

Wenn man sich auch nur auf wirtschaftliche Einigung beschränken wollte, die Friedensverträge müßten unter allen Umständen bei den Verhandlungen über Paneuropa zur Sprache gebracht werden. Selbstredend wird Deutschland seine Beteiligung an den Verhandlungen nicht an die Voraussetzung knüpfen, daß vorher die Friedensverträge revidiert werden. Das aber ist der Fluch der bösen Tat: es ist keine Verhandlung der europäischen Staaten mit Aussicht auf guten Erfolg möglich, wenn nicht auch zugleich die Friedensverträge mit hineingezogen werden. Briand selbst tritt als Zeuge dafür auf, denn er weist schon im Anfang seines Memorandums auf die wirtschaftlichen Gefahren hin, die in der Zersplitterung der Kräfte auf dem Wirtschaftsmarkt Europas liegen, und er sagt: „Die Gefahr einer solchen Zerstückelung wird noch vermehrt durch die große Ausdehnung der neuen Grenzen (mehr als 20.000 Kilometer Zollschranken), die durch die Friedensverträge geschaffen werden mußten.“ Daß ein Zwang dazu vorlag, wird wohl niemand ernstlich behaupten können! Aber 20.000 Kilometer neue Zollschranken zu den bisherigen, das ist doch allerhand!

Die Verhandlungen der 27 beteiligten Staaten Europas im Herbst werden zweifellos nicht nur für die Zukunft Europas von ganz außerordentlicher Bedeutung sein. Wir wollen wünschen und hoffen, daß sie allseitig von dem ehrlichen Willen getragen werden, das Ziel zu erreichen, das im Memorandum aufgestellt ist: Vertrauen zwischen den Völkern Europas und wirkliche Befriedung der Geister. Paneuropa soll ein offenes, ehrliches Friedensgesicht zeigen!