Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1932

Géza Molnár

Zoltán Kodály - Zu seinem 50. Geburtstag

Soll er wirklich schon fünfzig Jahre alt sein?
Ich sehe ihn noch in der Schulbank vor mir. Mit dem vom Alltag abgewandten Kopf, mit dem nach innen gerichteten Blick. Das Auge so nachdenklich, wie ein sordinierter Geigenton. Als ob schon damals der Traum seines Lebens, etwas Vertieftes zu vollbringen, ihm ins Gesicht gestiegen wäre. Wenn er jetzt mit seinen Augen in eine unsichtbare Welt hineinstarrt oder nach merkwürdig beharrlicher Pause seine Lautlosigkeit unterbricht, um aus den lange zurückgedrängten Gedanken einen in allen Gliedern wesentlichen Satz so meisterhaft zu formen, macht er auf mich doch niemals den Eindruck des Asketen. Dieser äußere Holzschnitt täuscht. Er ist kein Verächter des Lebens, denn über die Stirn des unglaublich schweigsamen Philiosophen ziehen keine Wolken, sondern nur stille Blitze des Geistes. Der grundgescheite Kodály ist nämlich einer der logischsten Köpfe und einer der schärfsten Beobachter, die ich kenne. Sein Herz träumt, aber sein Gehirn ist wach.

Vor drei Jahrzehnten haben die Menschen noch sachlichere Nerven gehabt. Zu jener Zeit hat Kodály an der Musikhochschule und an der Universität studiert. Im kindlich reinen Urteil der Burschen und Mädel, die seine Kollegen gewesen, keimt sein erster Erfolg. Neidlos haben sie es zugegeben, daß er unter ihnen der beste Kontrapunktiker ist, sie munkelten schon davon, daß er einmal etwas ganz anderes schaffen wird, als die übrigen Komponisten, un der gelichfalls kindlich makellose und gelehrte Friedrich Riedl bringt mir Kodálys Doktordissertation. Wir wollen aber die drei Jahrzehnte, die zwischen jenen Ereignissen und dem heutigen Kodály liegen, zur Plünderung dem Lexikon übergeben. Uns interessiert nur ihr Ergebnis.

Was Kodály in den ersten zwei Dezennien unseres Jahrhunderts als Sammler geleistet hat, erinnert an das große Werk eines Herder. Wie dieser durch die „Stimme der Völker” für das naive Lied agitiert hat, wo wies Kodály auf die unzähligen ungarischen Bauernmelodien hin, von denen er fast dreitausend selbser notiert oder mit Hilfe des Phonographen festgehalten hat, immer von neuem in Wort, Schrift und lebendiger Musik den Goldgehalt dieser Schätze beleuchtend. Interessant ist, daß Herder das Wesen der Lyrik nicht im Gedicht, sondern in der Musik suchte. Ohne Ton, ohne den melodischen Gang der Leidenschaft - sagt er - ist das Poem nur Gemälde, nicht wirkliches Lied. So begeisterte sich auch Kodály für die biblische Einfalt der Volksdichtungen, doch während Herder von den Poeten seines Landes den origienllen Zug, der im Volkslied vorgezeichnet ist, einfach nur fordert, ist Kodály mehr als ein Wegweiser, denn er tritt selber als originell und persönlich Schaffender auf.

Hier möchten wir auch die Frage berühren, ob die sogenannten Bauernmelodien, mit denen unter anderen Kodály und bekannt gemacht hat, wirklich die einzig authentischen Blüten unserer Rassenmusik wären? Wir entsinnen uns nicht, von Kodály oder Bartók etwas Ähnliches gehört zu haben. Um so mehr befleißen sich einzelne Famulusse nachzuweisen, daß es außer diese ruralen Liedern keine bodenständige ungarische Musik gibt. Ist es wirklich, dieser Ansicht entgegenzutreten und allen, die sich für die Sache interessieren, die Überzeugung beizubringen, daß Bauernmäntel, Heuschober und Schafherden mit dem zottigen Hirtenhund nicht die alleinige Umgebung bilden, wo ungarische Musik entstehen kann? Auch der Ober- und Vizegespan, der Stuhlrichter, der Gutsherr, die Lateiner und die anderen Einheimischen, die Handel und Gewerbe treiben, haben das Recht, ungarisch zu empfinden. Und was sie geigen und singen, kann ungarische Musik sein, auch wenn sie vom Dorf nicht geeicht ist.

Bartók selber meint in seinem - auch deutsch erschienenen - Werk: „Das ungarische Volkslied”, daß dem Bauern zwei Instinkte innewohnen, ein konservativer und ein nachahmender Trieb, und das das Volk auch von höheren Volksschichten musikalische Elemente übernimmt, um diese umzugestalten und zu assimilieren. Das ist klar gesprochen. Auch Kodály hat sich nicht ausschließlich den im Schweiße ihres Bauernangesichts geborenen Liedern verschrieben. Das hören wir im „Háry János” und in anderen Stücken. Als Kodály soviel brachliegende Melodien vom Untergang gerettet hat, Melodien, die einen neuentdeckten und kräftigen Pulsschlag des ungarischen Herzens bedeuten, und als er sie der heimatländischen Kunst und durch seine eigenen Schöpfungen auch der Weltmusik einverleibte, mit diesem Akt hat seine historische Sendung begonnen. Die Angst des schwarzseherischen Ady ist für unsere Tonkunst gegenstandslos geworden: auf dem Boden ungarischer Musik gibt es kein Brachfeld mehr.

Kodály mußte einen dornigen Weg zurücklegen. Wir wollen, wenn von Stacheln die Rede ist, nicht auf die Frage anspielen, ob er zu jeder Zeit anerkannt oder verkannt worden ist. Viel wichtiger scheint uns das Ringen, womit er sich, bevor seine Phantasie ihre großen Flüge unternahm, erst eine im nationalen und persönlichen Sinne autonome Tonsprache erkämpfen mußte. Den Komponisten anderer Länder war es vergönnt, eine glücklichere Lage vorzufinden. Betrachten wir uns diese Konstellation. Anderswo werden Volkslieder schon im fünfzehnten Jahrhundert gesammelt und längst, bevor noch die ersten Kollektionen zustande kamen, hat man bereits - es ist ein Jahrtausend her - aus der Volkskunst geschöpfte Themen mehrstimmig bearbeitet. Durch ein solches Aufsaugen völkischer Säfte hat dann die Kunstmusik jeder Nation ihre eigene Würze bekommen. Später mußten die Tondichter nicht mehr auf populäre Motive zurückgreifen, denn durch das jahrhundertlange Einwirken der heimatländischen Scholle auf die höhere Kunst, war die Sprache der Komponisten - auch ohne Überpflanzung dörfischer Keime - bereits vom stammechten Aroma erfüllt. Die Trecentisten von Firenze konnten schon eigene Melodien erfinden. Und als, besonders in der Renaissance, das neue Gebot kam: Kunst ist keine Technik, Kunst ist keine Wissenschaft, Kunst ist Dichten aus einer Persönlichkeit heraus, - da durften die Tonsetzer ganz unumschränkt sich ihren individuellen Stimmungen hingeben; um den bodenständigen Charakter ihrer musikalischen Rede hatten sie sich kaum mehr zu kümmern, denn diese Rede atmete nun, fast ohne jede Zutat der Komponisten, den von der Volksnatur herrührenden Duft. Kurz, der nationale Typus war fix und fertig, der Tondichter übertrug jetzt auf das ihm dargereichte Instrument - das heißt, auf die rassig durchtränkten Formen - seine eigenen Gedanken. In der Geschichte der ungarischen Musik aber vermissen wir diese allmähliche Entwicklung der wurzelfesten Sprache. Und so mußte Kodály selber mit seiner schöpferischen Kraft beides hervorbringen, das national Typische und das Persönliche.

Er hat es richtig gefühlt: nur eine Kunst, die - aus dem Zeitgeist geboren - eine Epoche musikalisch widerspiegelt, kann nachher ewig leben. Die Kompositionen der beiden Gabrieli und der übrigen Kapellmeister am San Marco hängen mit dem polychromen Venedig des 16. Jahrhunderts zusammen und sind ebenso farbenreich, wie die Bilder der dortigen Maler. Die Werke von Bach und Händel und die prächtigen Barockbauten entstehen zugleich und aus der Denkungsart derselben Zeit. Auch in der Musik drückt sich später der Rokoko-Geist aus, verbunden mit Rosseaus freiem Wesen. Dier Erstaufführung von Beethovens Schicksals-Sinfonie findet in demselben Jahre statt, als der erste Teil von Goethes Faust erscheint. Alle weitere Strömungen der Welt finden in der Kunst ihre Vertreter, Courbet und Berlioz sind als Naturalisten, Monet und Debussy als Impressionisten die Künstler einer Periode. Auch das Volkslied blüht jedesmal aus einem bestimmten Zeitabschnitt der Menschti frisch und naturgetreu hervor, und dasselbe Lied hätte in einer anderen Epoche nicht seine Knospen treiben können.
Kodály hat die Bauernmelodien in seinen eigenen Gefühlskreis mit einbezogen, und ob er nun über Motive, die der Volksseele entsprossen sind, so herrlich meditiert oder aus freien Visionen heraus sinfonische, Chor- und Kammermusik schafft, macht er stets Musik des zwanzigsten Jahrhunderts und macht souverän persönliche Musik.

Was Kodály im Vokal- und Orchesterstil, und was er für ein Instrument oder mehrere Streicher ersonnen hat, ist nicht mit ungarischen Borten und Schnörkeln geziert, nicht von außen behängt und verbrämt. Das kommt - nicht gebunden durch folkloristische Einflüsse - aus seiner Seele, die mit der ungarischen Gesinnung identisch wäre, auch wenn er niemals Volkslieder gesammelt und bearbeitet hätte. Diesen Stil kann kein anderer kopieren, denn es fehlen den Nachtretern die beiden stärksten Stützpunkte der Kodályschen Kusnt: die spezielle Empfindung und die spezielle Technik. Ohne diese Gaben lassen sich die musikalischen Ähren der Muttererde nicht begreifen und nicht verwerten. Ohne diese innere Verschmelzung mit dem fruchtbaren Humus trägt der Schatz keine Zinsen. Urwüchsiges erfaßt nur der Künstler, der selber urwüchsig ist. Und so konnte den weiten, sehr weiten Weg, der von der Ackerkrume, von den siebenbürgischen Bergen und Stuben bis zu „Szekélyfonó” führt, nur ein so genialer Dichter finden, wie Kodály.

Das fünfzigste Jahr ist nicht die Spitze des Lebens. Aber eine respektabel Anhöhe, von der man manches überblicken kann. Um Kodálys Werk zu charakterisieren, wäre es nutzlos, die alten Schubladen der Ästhetik zu öffnen und seine Musik in gewisse Register einzureihen, indem man sie beispielsweise als heroisch, trotzig, hoch-, schwer- oder wehmütig bezeichnet. Von dem was all diese Beifügungen sagen wollen, könnte man leicht auch das Gegenteil beweisen. Wesentlich bleibt, daß in Kodálys Oeuvre unsere Rassenmusik großjährig ist. Daß er sie mit dem Gewicht und dem Reiz seiner Persönlichkeit individualisiert und europareif gemacht hat. Wir möchten noch hinzufügen, daß Kodály niemals eine Phrase aufs Notenpapier wirft, an die er nicht aufrichtig und fanatisch glauben würde. Diese Reinheit des Glaubens diente ihm als Eingebung zum „Psalmus hungaricus” und zu den Kinderchören. Seit Liszts Tod hat die ungarische religiöse Musik kein Meisterwerk hervorgebracht. Nun erschien nach Jahrzehnten Kodálys Psalm. Wie ein wunderbares Gestirn in der Nacht. Es hat in der ganzen Welt die Herzen erleuchtet. Jetzt, da Kodály in ein neues Dezennium seines Lebens tritt, grüßen ihn alle Herzen. Es kann ihm mit stolz erfüllen diese Liebe und noch mehr die Gewißheit, daß von dem, was er in den verflossen Jahrzehnten geschaffen hat, nichts Vergangenheit geworden ist. Alles ist Gegenwart und Zukunft.

16.12.1932