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Aus dem Pester Lloyd von 1936

Leitartikel, Autor unbekannt

Vom anderen Ufer - Über christliche Jugend und die Juden

Der blaue Fragebogen, den das Statistische Zentralamt an die Industrieunternehmen des Landes versandt hat und womit diesen Unternehmungen genaue Daten über die konfessionellen Zugehörigkeit ihrer technischen Beamten und Bureauangestellten abverlangt werden, rollt eine Frage auf, an der nicht achtlos vorübergegangen werden kann. Um es ohne Umschweife herauszusagen, handelt es sich dabei um eine Datensammlung, durch die bewiesen werden soll, daß in unserer Privatwirtschaft – vorerst bloß in der Industrie, doch wird später wohl auch der Handel drankommen – das jüdische Element weit über das ihm zahlenmäßig zukommende Maß hinaus vertreten und daß mithin dieses Mißverhältnis zugunsten des nichtjüdischen Elements dringend korrekturbedürftig ist.

Sehr zur geeigneten Stunde kommt jetzt ein Vortrag, den Herr Gabriel Zsilinszky, ein rechtsstehender Politiker und Industrieller, jüngst unter dem Titel „Das Wirtschaftsleben und die ungarische Jugend“ in einem auf christlichem Standpunkt stehenden Verbande gehalten hat. Der Vortrag räumt gründlich mit gewissen demagogischen Schlagworten auf, die von antisemitischer Seite zur Irreführung der öffentlichen Meinung bisher fast ohne jeden Widerspruch verkündet und verbreitet worden sind. Nach diesen Schlagworten hätten die Juden sich in die ungarische Privatwirtschaft, zumal in die Industrie und den Handel, gewaltsam hineingedrängt und dem nichtjüdischen Element solcherart das Brot vor der Nase weggeschnappt.

Der Vortrag Gabriel Zsilinszkys, läßt diese Behauptung nicht unangefochten. Er führt gegen sie ins Treffen, daß unsere Jugend bislang eine ausgesprochene Abneigung gegen die praktischen Lebensberufe an den Tag gelegt hat. So weit möchten wir aber nicht gehen, auch der Behauptung des Vortragenden zuzustimmen, daß die christliche Jugend Ungarns „die Arbeit, zumal die physische Arbeit“ scheue. Wer mitangesehen hat, wie in Zeiten des starken Schneefalls junge Leute von akademischer Bildung, nicht selten auch Inhaber von Doktordiplomen sich zur harten Arbeit des Schneeschaufelns drängen, wird die obige Behauptung gewiß nicht unterschreiben können. Tatsache ist jedoch immerhin, daß schon von der Vorkriegszeit her, aber auch noch in den ersten Nachkriegsjahren die christliche Jugend eine einseitige Vorliebe für den bureaukratischen Beruf an den Tag gelegt und die Betätigung in Industrie und Handel als „nicht herrenmäßig“ abgelehnt hat.

Vorkriegsungarn war ein Staat von 20 Millionen Menschen, und seine studierende Jugend hatte alle Chancen, in der staatlichen, munizipalen und kommunalen Beamtenschaft sowie im Lehrberuf und im Justizdienst Unterkunft zu finden. Der Zudrang zu den diplomierten Laufbahnen war also damals begreiflich und aussichtsvoll. Auch in den ersten Nachkriegsjahren noch gab es psychologische Gründe für ein zeitweiliges Weiterbestehen solcher Ideologie. Trianon galt damals – leider in sehr breiten Bevölkerungsschichten – als ein vorübergehender Zustand, der sich sehr bald als unhaltbar erweisen würde. Sanguinische Erwartungen trübten eben das Urteil, und man hörte nur zu oft: „Wozu den Kopf hängen lassen? Im Frühjahr sind wir ja doch wieder in Kolozsvár, und im Sommer marschieren wir bestimmt wieder in Pozsony ein.“ So wurde denn eifrig und unermüdlich weiterstudiert, um beim Eintritt der erhofften Wendung den freiwerdenden Platz im öffentlichen Dienst wieder einnehmen zu können.

Aber das Frühjahr verging, auch der Sommer verging, und es verging eine Reihe von Jahren, ohne daß die erträumte Wandlung eintrat. Und nun standen die Legionen der diplomierten Jugend beschäftigungslos und hoffnungslos da und drängten sich nunmehr immer ungestümer nach dem bis dahin verpönten Unterkommen in Handel und Industrie, überhaupt in der Privatwirtschaft. Gabriel Zsilinszky sagt darüber in seinem Vortrag: „Daraus erklärt es sich, daß das christliche Ungartum im wirtschaftlichen Wettbewerb andauernd in den Hintergrund gedrängt erscheint, und die sich darbietenden Konjunkturen, wie jüngst in der chemischen und der Textilindustrie, nicht zu ihren Gunsten auszunützen weiß. Wir müssen einbekennen, daß wir bis zu einem gewissen Grade nicht lebenstüchtig sind. Die Regierung Gömbös bietet mit dem größten Wohlwollen alles auf, um der ungarischen Jugend das Geltenwerden auf den praktischen Lebensberufen zu erschließen.

Man bemüht sich durch persönliche Intervention, bei den ungarischen Unternehmungen eine tunlichst großer Anzahl ungarischer Jünglinge unterzubringen. Die Aufgabe ist nicht leicht, denn die Zunahme der Arbeitsgelegenheiten steht nicht im Verhältnis zur Zahl der Arbeitssuchenden. Die Priorität hat jedenfalls der Bewerber, der mit größerem Wissen und gründlicherer Fachbildung sich zur Aufnahme an der Arbeitsstelle meldet. In diesem gewaltigen Kampfe des Daseins ist die zähe, zweckbewußte Arbeit die stärkste und sicherste Waffe. Die Erziehung muß in erster Reihe auf die praktische Ausbildung gelegt werden. Auch um den Preis von Opfern muß ermöglicht werden, daß unsere Jugend in tunlichst großer Zahl in die weite Welt hinausgelangt, dort fremde Sprachen erlernt und aus der Fremde die Liebe zur wirklichen Arbeit und deren richtige Einschätzung nach Hause bringt.“

Das ist eine beachtenswerte Stimme, um so beachtenswerter, als sie vom anderen Ufer kommt. Die Behauptung, als ob in den praktischen Lebensberufen die Juden das christliche Element mit Gewalt verdrängt hätten, ist grundfalsch. Gegen Industrie und Handel hatte die christliche Jugend eine Aversion; das gesellschaftliche Ideal, das sie anstrebte, war die Beamtenlaufbahn mit dem kargen, aber sicheren Bissen Brot und mit der sicheren Aussicht auf eine Altersversorgung aus öffentlichen Mitteln. Mittlerweile trat eine schwungvolle industrielle Entwicklung im Lande ein, und von den Lebensmöglichkeiten, die sie darbot, machte die jüdische Jugend um so eher Gebrauch, als ihr der Zutritt zum Verwaltungs- und Justizdienst, sogar auch zum Lehrberuf an Mittelschulen seit Jahren verschlossen war.

Man könnte nun freilich einwenden, daß dies zwar zutreffe, aber für die christliche Jugend dennoch überall, also auch in Industrie und Handel, ein Lebensunterhalt geschaffen werden müsse. Wie aber soll dies zuwege gebracht werden? Den heimischen Industrien zuzumuten, daß sie über ihren Bedarf an Arbeitskräften hinaus neue Beamtenstellen schaffen, und zwar in einem Ausmaße, daß damit der massenhaften Beschäftigungslosigkeit Vorschub geleistet wird, ist ein ungangbarer Weg, denn eine derartige finanzielle Belastung würden die auch ohnehin schon gegen schwierigste Verhältnisse ankämpfenden Unternehmungen nicht ertragen.

Bliebe also als ein einziges Auskunftsmittel, jüdische Arbeitskräfte aus dem Dienst zu entlassen und sie durch christliche Neulinge zu ersetzen. Gegen dieses Auskunftsmittel erheben sich jedoch zwei überaus schwere Bedenken. Das erste ist: was soll dann mit den entlassenen jüdischen Angestellten geschehen? Setzt man sie einfach vor die Tür, so tritt keine Verminderung, sondern bloß eine Umlagerung der Erwerbslosigkeit ein. Schwererwiegend ist jedoch das zweite Bedenken: Die jüdischen Angestellten der Industrien sind seit zehn, zwanzig, dreißig und mehr Jahren in ihrem Fache tätig, haben sich alle Fachkenntnisse der Branche angeeignet und versehen ihren Dienst in erprobter Weise. Kommen nun Neulinge an ihre Stelle, so fehlt es diesen an der unumgänglich erforderlichen Geschäftserfahrung und Fachkenntnis. Die Arbeit, die sie leisten, wird minderwertig, wenn nicht gar eine zeitlang völlig wertlos sein, das Geschäft wird darunter leiden, das Unternehmen wird seine bewährte Solidität einbüßen und nach und nach vielleicht sogar zugrunde gehen. Ganz zu schweigen von den Gefahren, die damit für die künftigen Schicksale der ungarischen Industrie zu erstehen drohen, wirft sich die Frage auf: wird damit den christlichen Angestellten gedient sein? Werden dann nicht auch sie sich auf die Straße gesetzt finden, wo sie zusammen mit den um ihretwillen aus ihrem Posten verdrängten jüdischen Kollegen sich den Bettelsack umhängen können?

Ministerpräsident Gömbös hat jüngst erklärt, daß der christlichen Jugend zwar in der heimischen Industrie der Broterwerb gesichert werden müsse, dabei aber keine Gewalt angewendet werden dürfe. Das klingt zwar beruhigend. Aber zwischen Gewalt und Gewalt gibt es einen Unterschied. Wenn auch von seiten der Regierungsgewalt kein Machtwort angesprochen wird, so kann immerhin eine Vorgangsweise in Anspruch genommen werden, die man mit dem Ausdruck „douce violence“ zu bezeichnen pflegt. In den meisten Fällen wird wohl auch diese Vorgangsweise genügen, um den gewünschten Erfolg zu erzielen.

Begreiflich ist daher die Unruhe, die der blaue Fragebogen in ungarischen Wirtschaftskreisen hervorruft. Eine einzige gerechte Lösung würde es für dieses Problem geben. Wenn man durchaus erreichen will, daß in der Industrie die verschiedenen Glaubensbekenntnisse nach ihrer Verhältniszahl zur Gesamtbevölkerung beschäftigt seien, so möge man das gleiche Prinzip auf der ganzen Linie zur Anwendung bringen, also auch im Verwaltungsdienst, im Justizdienst und in allen übrigen Zweigen des bürgerlichen Erwerbslebens. Wenn aber eine bestimmte Bevölkerungskategorie – trotz der in den Gesetzen verankerten bürgerlichen Rechtsgleicheit – aus der Beamtenschaft des Staates, der Munizipien und der Gemeinden, aus dem Lehrberuf in den Mittelschulen, aus dem richterlichen Dienst praktisch ausgeschlossen ist, so geschieht denen, die jetzt auch noch aus der Privatwirtschaft verdrängt werden sollen, in der sie bloß einen bis dahin leeren Raum eingenommen haben, ein blutiges Unrecht, für das sich keine Rechtfertigung findet.

Das ist die Konsequenz, die aus Gabriel Zsilinszkys Ruf vom anderen Ufer zwangsläufig gezogen werden muß. Die ungarischen Industriellen haben auch bisher alles getan und werden auch in Zukunft ihr Bestes tun, um der beschäftigungslosen ungarischen und speziell christlichen Jugend eine angemessene Unterkunft zu sichern. Man braucht ihnen das nicht erst von oben einzuschärfen; sie wissen, daß dies auch ihrem ureigensten Interesse entspricht. Je freier und gesünder sich Industrie und Handel entwickeln, desto sicherer wird ihre Nachfrage nach Arbeitskräften sich steigern. Das Verschärfen alter und das Aufrollen neuer Gegensätze auf sozialem Gebiete ist aber nicht der Weg, der zur gedeihlichen Entwicklung der Privatwirtschaft führt.

Sonntag, 23. Februar 1936, Leitartikel