Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1938

Georg v. Ottlik

Ein Judengesetz in Ungarn

Georg von Ottlik (1889 Budapest - 1966 Paris) war der erste "Nichtjude" als Chefredakteur des Pester Lloyd (1937-1944). Ihm fiel die praktisch unlösbare Aufgabe zu, seine Kollegen vor dem wachsenden, sich immer mehr institutionalisierenden Antisemitismus in Ungarn zu beschützen. Nach ersten Quotierungen für bestimmte Berufe schon ab 1934 (es gab in Ungarn schon in den 20ern Judengesetze), auch dem des Journalisten 1935/36, folgten 1937/38 mehrstufige Judengesetze. Die Hatz gipfelte ab der deutschen Besetzung 1944 schließlich in Deportation und Vertreibung unter tätiger Mithilfe der ungarischen Nazis.

Auch etliche Autoren und Redakteure des Pester Lloyd wurden in Auschwitz, auf dem Weg dorthin und in anderen Lagern ermordet. Chefredakteur József Vészi, einst Gründer der Literaturbewegung "Jung-Ungarn" und Doyen der Budapester Journalisten, musste 1937 wegen seiner Herkunft seinen Posten räumen. Georg von Ottliks Motivation war daher zuerst die Rettung der Zeitung in stürmischer Zeit. Der publizistische Einsatz des Liberalkonservativen entsprang aber lesbar auch der Überzeugung, dass Ungarn sich durch seine Haltung letztlich nur selber schadet. Er würde Recht behalten.

Den Exodus einer der tragenden Säulen des Intellekts hat das Land bis heute nicht verwunden. Ottlik bediente sich bei seinem Beitrag gegen die Judengesetze dem Argument, dass das großteils assimilierte Bildungsbürgertum jüdischer Abstammung nachweislich - und in seiner Zeitung nachlesbar - die glühendsten Patrioten Ungarns stellte. - Sie hatten aber zwei "Geburtsfehler", die ihnen letztlich die Existenz kosteten: sie sprachen Deutsch und blieben Humanisten. Ersteres störte die ungarischen Nationalisten schon immer, letzteres war ihr Todesurteil. Auch Ottlik verließ aus Protest gegen den Einmarsch der Nazis in Ungarn 1944 seinen Posten. Der "alte" Pester Lloyd, der noch bis Ende 1938 verfolgten Autoren eine Bühne bot, verkam in der Folge zum Instrument des Reichspropagandaministeriums und ging mit den Nazis unter. m.s.

9. April 1938

Selten noch fiel dem gewissenhaften, nach Gerechtigkeit strebenden ungarischen Publizisten eine so heikle, unerfreuliche Aufgabe zu, als heute, da er über den neuesten Gesetzentwurf zu schreiben hat, der in das ungarische Corpus Juris aufgenommen werden soll. Er hat die Motive zu suchen, die ein solches Eingreifen gegen Recht und Billigkeit, die Schaffung solcher Gegensätze zu den edelsten ungarischen Traditionen vom Gesamtinteresse der Nation her gesehen rechtfertigen können. Die ungarische Rechtsentwicklung stand stets im Zeichen der absoluten Rechtsgleichheit und des unpersönlichen Rechtes. Eine Gesetzesnorm für eine Menschengruppe, für eine Klasse, hat es im ungarischen Corpus Juris nie gegeben. Der Entwurf, der heute im Parlament eingereicht wurde und demnächst in Gesetzeskraft erwachsen soll, stellt eine Rechtsschöpfung dar, auf die wir Ungarn, stets stolz auf unseren Rechtssinn, immer mit wehmütigem Bedauern zurückblicken.

Wir wissen, dass diese neuartige Gesetzgebung durch eine in einem Teil der öffentlichen Meinung erzeugte Sturzflut geradezu unausweichlich geworden ist. Seit einigen Jahren wurde hier eine leidenschaftliche Wühlarbeit mit antisemitischen Schlagworten getrieben, denen man einen christlichen Charakter beimessen wollte. Von einer vielhundert Jahre alten christlichen Tradition durchdrungen, frage ich mich, was an diesen Schlagwörtern und an diesen Zielsetzungen christlich sein oder genannt werden mag? Man suche hier weder eine christliche, noch eine moralische Rechtfertigung, man suche hier weder Recht noch Gerechtigkeit: es waltet hier das Gesetz der politischen Notwendigkeit, die einen solchen Eingriff in die rechtliche und wirtschaftliche Struktur unseres Landes vielleicht als unumgänglich erscheinen ließ - das will ich und muß ich leider zugeben. Die gesamte geschichtliche Entwicklung der Menschheit sucht offenbar nach neuen Formen der staatlichen und der gesellschaftlichen Struktur, nach neuen Formen der Lebensäußerung. Wir Ungarn sind mit einer nicht ganz ausgeglichenen gesellschaftlichen Struktur von dieser Springflut erfaßt worden. Nationale Ziele kreuzen sich hier mit krassen materiellen Interessen, die in einer stürmischen Weise Befriedigung erheischen. Und was immer da von Sühne und Verbrechen gesprochen wird, das alles sind nur Ausflüchte, die von wirklichem Wahrheitsgehalt der Geschehnisse weit entfernt sind.

Es ist vielleicht am Platze und auch billig und richtig, wenn vom rein nationalen Gesichtspunkte aus an dieser Stelle wieder einmal festgestellt wird, was das ungarische Judentum für Ungarn bedeutet und in diesem Land geschaffen hat. Vor allem hat es, wenn auch nicht allein geschaffen, so doch zu einem Großteil zur Schöpfung jenes finanziellen und wirtschaftlichen Rüstzeugs beigetragen, das die Blüte Vorkriegsungarns herbeigeführt und das im Nachkriegsungarn unsere Widerstandskraft gestählt hat.

Es war jene emsig arbeitende, erfindungsreiche anpassungsfähige Schicht Ungarns, die, wenngleich natürlich nicht selbstlos, sondern gewiß wohl auch im eigenen Interesse, eine Aufgabe auf sich genommen und bewältigt hat, der das in einer anderen Gedankenwelt lebende Ungartum damals ablehnend gegenüberstand. Sie beteiligte sich aber auch schöpferisch am Kulturleben Ungarns: überall, wo es gilt, kulturelle Werte zu schaffen, sehen wir stets und immer jene Schichten in der ersten Reihe, oft auch allein zu Opfern bereit, die heute zurückgedrängt werden sollen. Heute wächst jedoch allmählich eine neue Generation in neuen Ideen heran. Das Staatsoberhaupt Ungarns hat unlängst wiederholt die beherzigenswerte Mahnung an die Jugend dieses Landes gerichtet, sich von älteren Vorurteilen befreit, den wirtschaftlichen Laufbahnen zu widmen, um allmählich Wissen und Sinn für diese Betätigung aufzubringen.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die so reiche und vielseitige Begabung unseres Volkes auch diese Aufgabe wird bewältigen können und daß der Ungar aller Klassen in nicht allzu langer Zeit auf allen Posten des wirtschaftlichen Lebens seinen Mann wird stellen können. Er muß aber dazu im Bewußtsein dessen erzogen werden, daß er nur dann im wirtschaftlichen Wettbewerb erfolgreich sein kann, wenn er das Erringen einer Position nicht als ein Privileg, sondern als die gebührende Belohnung unermüdlichen Fleißes, gesunden Wissens und ehrlicher Strebsamkeit betrachten wird. Darum muß auch jetzt noch vor den moralischen Folgen einer Gesetzgebung gewarnt werden, die im Gegenteil dazu geeignet ist, Belohnung und Erfolg für etwas in Aussicht zu stellen, was einem ohne Mühe, ohne Kraftentfaltung in den Schoß fällt. Es fragt sich, ob eben die Aufmunterung, die der erste Ungar an uns, seine Stammesgenossen, gerichtet hat, nicht ins Gegenteil gekehrt werden kann, wenn aus dem wirtschaftlichen Fortkommen ein unter allen Umständen zugesichertes Privileg werden soll.

Zweitens muß auch auf die nicht geringen materiellen Gefahren hingewiesen werden, die im wirtschaftlichen Leben dadurch entstehen können, daß geschulte Köpfe und geübte Hände nicht auf Grund des Verdienstes, sondern auf Grund der Abstammung eventuell gezwungenermaßen ersetzt werden. Die wirtschaftliche Struktur eines Staates ist nicht wie eine wohlgeordnete Bureaukratie, ein Geld produzierender Apparat, in dessen Rahmen an soundviel Schreibtischen und Amtsposten gearbeitet wird, und das Ergebnis immer gewährleistet erscheint, auf welche Weise und in welchem Maße man auch da und dort und überall diejenigen, die gewisse Stellen besetzt halten, austauscht oder ablöst. Das sind gewiß auch Momente, die bei der Anwendung des Gesetzes  entsprechend in Betracht gezogen werden müssen und wir möchten der Hoffnung Ausdruck verleihen, daß, wenn der Gesetzgeber auch gedrängt und geschoben wird, Anwendung und Anpassung an die neuen Verhältnisse derart erfolgen werden, daß durch sie mit den Einzelschicksalen nicht auch der heikle Wirtschaftsorganismus des Landes selbst mitgeschädigt werde.

ir sind bloß darüber erstaunt, daß jene Mitglieder der ungarischen Regierung, die über die Struktur und die Zusammenhänge des ungarischen wirtschaftlichen Apparats wohl im Reinen sein müssten, die Rolle und Leistungen der durch diese Gesetzgebung schwergetroffenen Schicht in der produktiven Arbeit Ungarns nicht gehörig zu würdigen vermochten. Es dürfen ferner sowohl die heutige Regierung und die heutige Gesetzgebung Ungarns, als auch das Ungarn von morgen nicht vergessen, daß Humanität und Toleranz zu den traditionellen Grundpfeilern unserer nationalen Persönlichkeit gehören.

Wohl sind wir gezwungen, uns vor der Notwendigkeit zu beugen, möchten aber sowohl die Regierenden, als auch die Gesetzgeber Ungarns warnen, aus der Not eine Tugend zu machen und die ungarische Gesetzgebung zum Ausdruck wechselnder politischer Stimmungen und Schwankungen stempeln zu wollen.

Das ungarische Judentum geht gewiß den bittersten Zeiten entgegen, die es auf diesem Boden je erlebt hat, seitdem es sich der ungarischen Gastfreundschaft anvertraut hat. Ich zweifle nicht daran, daß es diese harte Probe bestehen wird: es wird nun in der Not und in der Bedrängnis seine Solidarität mit dem gesamten Magyarentum unter Beweis stellen können. Wie es einst freudig und begeistert die ungarische Kultur angenommen, sich dem ungarischen Ethos angeschlossen hat, so wird es jetzt zeigen müssen, daß es sich nicht allein in der Zeit der Blüte mit seinem einstigen Wirtsvolke identifiziert, sondern auch in den schweren Augenblicken mit ihm eins bleibt, in dem die Ungarn – der Not gehorchend – sein Betätigungsfeld eindämmen und seinem Aufblühen eine Schranke setzen. Es muß dabei darauf vertrauen, daß das Ungartum von einem schwere innere Störung bewirkenden Problem befreit, nunmehr mit strenger Hand und mit einer seinem Charakter würdigen Energie daran gehen wird, im eigenen Haus Ruhe und Ordnung  aufrechtzuerhalten und den Gesetzen mit unerbittlicher Strenge jedermann gegenüber Geltung zu verschaffen. Wenn das heute doch erschütterte moralische, seelische und rechtliche Gleichgewicht des gesamten Ungartums wiederhergestellt sein wird, dann werden wir einst dem in altem Glanz neuerstandenen Ungarn wiedergeeint und durch keinen Zwist getrennt, einem neuen Aufblühen entgegengehen. Bis dahin heißt es für das ungarische Judentum, wie es für alle Ungarn seit vielen Jahrhunderten stets hieß:

Kein andres Stück der weiten Welt,
als dies steht offen dir:
Ob Segen oder Qual dein Los,
lebst du und stirbst du hier.