Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1938

Felix Salten

Ein kleines Schicksal

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Die ganze Geschichte dauerte nur drei Tage, doch während der kurzen Frist erfüllt sich scheinbar die Sehnsucht eines jungen Lebens, um im nächsten Tempo kläglich zu scheitern. Eben an ihrer Erfüllung. Draußen, am Saum des Wienerwaldes betritt ein junger Mensch das kleine Sommerhäuschen, das über den Winter vermietet werden soll.  Die Eheleute denken zum ersten Male daran, jemanden hier hereinzusetzen, keineswegs, weil sie das Mietgeld brauchen; sie wollen das schöne kleine Haus das so hübsch möbliert ist, im Winter nur nicht alleine lassen Nun steht der Herbst vor der Türe, das Ehepaar wird wieder in die Stadtwohnung ziehen und hat ein Inserat in die Zeitung gegeben. Da kommt auch schon der junge Mann.

Er mag sechsundzwanzig Jahre alt sein, ist sympathisch und sagt, das er Konrad heiße. In das Häuschen verliebt er sich in den ersten fünf Minuten. Konrad erzählt sehr viel; er plaudert zutraulich und man hört, dass er der einzige Sohn der Kreistierarztes von Graz ist, der Liebling seiner Eltern, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Diesen Winter soll er in Wie noch dasjenige an Tierarzneikunde studieren, woran es ihm bis fehlt. Er muß sich vorbereiten der Nachfolger seines Vaters zu werden. Nett und glaubhaft, nicht wahr?

Wärme und Heiterkeit verbreitet Konrad. Jedes zweite Wort lautet „mein Papa“ jedes erste „meine gute Mama“. Der liebevoll dankbare Sohn zärtlicher Eltern gewinnt natürlich die Herzen der Eheleute, die selbst Erwachsene Kinder haben. „Mein Papa wird zu allem Ja sagen“ erklärt Konrad, „er wird sich freuen, dass ich so reizend wohne; na und meine Mama wird überglücklich sein, wenn sie mich hier besucht!“ Er kann das kleine Haus nicht genug loben, und er spricht im Meer darüber wie Papa und Mama seine Wahl billigen werden.

Das Telephon unterbricht ihn. Jemand erkundigt sich nach dem Mietpreis. Da gerät Konrad in Aufregung. „Verhandeln sie mit niemandem,“ bittet er, „ich nehme das Haus mit der Garage. Jawohl, mit der Garage! Wissen sie mein Papa hat zwei Autos einen großen und einen kleinen Wagen. Den kleinen gibt er mir gern. Ich muß nur ein bisschen drum betteln. Mein Papa verweigert mir nie etwas“. Ohne zu feilschen, erlegt Konrad sofort die Miete für drei Monate. Er drängt sie dem Hausherrn förmlich auf. Dann jubelt er: „Nun bin ich daheim! Bis der Kleinwagen kommt fahre ich mit der Straßenbahn zur Universität Es ist ja nicht weit.“ Der Hausherr antwortet: „Universität?  Dort haben sie nichts zu suchen. Das Tierarzneiinstitut ist ihre Hochschule. Da haben Sie’s von hier viel weiter.“ Konrad lacht: “Das hätte mein Papa mir wohl sagen können. Egal! Er ist so zerstreut, der Gute! Halt Überarbeitet.”

Als Konrad endlich fortgegangen ist, reden der Herr und die Dame noch eine Weile von dem rasch abgeschlossenen, freilich nur mündlichen Vertrag, der aber doch nicht bezweifelt werden kann, weil ja das Geld für drei Monate vorausgezahlt ist. Die beiden haben keine Erfahrung, was das vermieten betrifft; sie wundern sich. Es heißt immer, wie schwer das hält eine Wohnung anzubringen. Und jetzt sind sie das einsam gelegene Sommerhäuschen so leicht los geworden. Nun, sie hatten eben Glück; derlei kommt zuweilen vor. Ganz flüchtig taucht, die Frage zwischen ihnen auf, ob sie nicht vor dem Vermieten Erkundigungen über Konrad hätten einholen sollen. Sein Anzug war sauber, doch eher ärmlich. Einen Augenblick fällt es ihnen auf, wir gut situiert der Vater Konrads sein müsse, um den Sohn solch ein Leben u bieten. Offenbar besitzt der Kreistierarzt Privatvermögen. Damit wäre alles geklärt, auch der Standart von zwei Autos. Na am nächsten Tage will der junge Man seinen Koffer bringen, da wird er wohl seine Papiere Zeigen. Im übrigen ist gar nichts riskiert; die dreimonatige Miete, einen stattlichen Betrag, hat er immerhin erlegt. Wozu also weiter Nachgrübeln?

Der junge Man findet sich richtig mit einem umfänglichen Koffer  ein. Das Haus muß in Ordnung gebracht werden, bevor er, etwa in zwei, drei Tagen darin Wohnen kann. Er wird von der Dame um etwaige Wünsche gefragt, doch Konrad hat keinen einzigen Änderungswunsch. Die Dame sagt, sie wolle einige Spitzendeckchen von den Tischen entfernen, den für einen jungen Mann dürften diese kaum passen. Aber Konrad wiederspricht lebhaft. Die Spitzendeckchen sollen unbedingt bleiben. „Meine gute Mama wird sehr viel Freude an ihnen haben.“ Konrad ist heute vom Haus noch viel entzückter als gestern, spricht noch inniger von Papa und Mama, so das man sich eigentlich geniert, ihn aufzufordern, seine Papiere zu zeigen. Man lässt ihn in dem Zimmer, wo er künftig schlafen wird, allein. Nach einer Stunde geht er fort, trägt einen neuen Anzug, erkundigt sich welches Hotel man ihm für die kurzen zwei, drei tage empfiehlt, dankt sehr ergeben, und nimmt fröhlich, begeistert einstweilen Abschied. Ein angenehmer harmloser Mensch. An den Herrn Kreistierarzt in Graz zu schreiben, hat man noch Zeit.

Aber drei Tage später folgte überraschende Aufklärung. Das Ehepaar befand sich schon in der Stadtwohnung, als vier Herren angemeldet wurden. Zwei davon hatten ehrsame schwarze, bäuerliche Kleidung, die beiden anderen waren auch ohne Legitimationsbescheinigung als Kriminalbeamte zu erkennen. Sie kamen wegen Konrad, der gar nicht Konrad hieß, sondern anders. Er stammte auch keineswegs aus Graz, hatte keinen Papa und keine Mama. Von seiner Gemeinde im nördlichen Niederösterreich, war er durchgegangen und hatte das Bargeld der dortigen Sparkasse mitgenommen. Dreißigtausend Schilling. Die beiden Gemeindevertreter, breitbehagliche Männer, zeigten kummervolle Mienen. Die Kriminalbeamten belehrten den Hausherrn, er müsse zwar eine Durchsuchung des Sommerhauses dulden, doch er sei zu einer Rückerstattung des empfangenen Mietbetrages nicht verpflichtet. Der Herr aber übergab freiwillig den ganzen Betrag zu Händen des Bürgermeisters. Draußen am Rand es Wienerwaldes, in dem Zimmer, das Konrad eine Stunde nur gehört hatte, fand sich, gut versteckt, der größte Teil des defraudierten Kapitals. Achtundzwanzigtausend Schilling. Der Bürgermeister meinte zu seinem Kollegen: „Alsdann is’ der Schad’n  net gar so bedeutend.“ Und ihre Gesichter wurden einwenig heller.

Man erfuhr die trübselige Lebensgeschichte des vermeintlichen Konrad. Ein Findelkind, das Eltern niemals gekannt hatte, wuchs er unter fremden Menschen auf, dort, in der Gemeinde, die nun durch ihn etwas über tausend Schilling einbüßte, wurde er so erzogen, wie man arme Doppelweisen eben erzieht. Aus Mildtätigkeit, ohne jene Liebe, die nur eine Mutter, nur ein Vater zu geben vermag. Trotzdem erwarb er gewisse Sympathien. Er war brav, war klug, lernte fleißig, und da man vertrauen zu ihm hatte, wurde er mit der Zeit als Gemeindesekretär angestellt. In diesem Amt bewährte er sich jahrelang,, bis... „Ich versteh’ gar nicht, was ihm eig’fallen is,“ sagt der Bürgermeister, während er das gefundene Geld einsteckte, das ihm die Kriminalbeamten überreichten. Konrad war nämlich nach Hause Gefahren, gleich am anderen Tage, an dem er „sein Zimmer“ für eine Stunde genossen hatte. Er legte dem Bürgermeister ein Geständnis ab und saß nun, statt in der Gemeindekanzlei, im Gemeindekotter, wo er darauf wartete, dem nächsten Landesgericht eingeliefert zu werden. Ja, was war ihm nur eingefallen?

Die Meinungen über Konrad sind geteilt. Manche sagen, er wollte ein paar Wochen flott leben. Und fügen hinzu, ein Hochstapler ist er schon, ein Verbrecher, der das erstemal nicht viel Courage aufbrachte. Aber die Dame hat unterdessen Konrads Gebetbuch gefunden und dieses Gebetbuch lässt die abschätzigen Meinungen doch zu hart erscheinen. Zerlesen und verbraucht ist das Gebetbuch. Viele Stellen sind angestrichen, der Name Mutter der Name Vater, mit Rufzeichen versehen. Alle Gebete der Kinder für die Eltern, der Eltern für die Kinder mit Blaustift umringelt. Und vorn, eingelegt, ein Gebet der Reue, das Konrad abgeschrieben hatte. Sehr beredsam sprach dieses Gebetbuch von der tiefen, nie erfüllten, unerfüllbaren Sehnsucht des Konrad nach Mutterliebe, nach einem Vaterhaus; es war der Spiegel seiner Seele. Ein glückloser Einsamer, hatte der junge Mensch geträumt, wurde von seinem Traum aus der Bahn gerissen, wollte den Traum verwirklichen, erwachte sehr bald und zeigte sich sogleich bereit, zu sühnen. Eine Verbrechernatur scheint er nicht, sonst hätte er wohl anders gehandelt. Das Verbrechen bleibt gleichwohl. Doch der es beging, ist ein kindliches Gemüt, naiv, und seine Phantasie ist dumm. Schweres hat Konrad gelitten, bevor er strauchelte. Er wurde dann noch weit unglücklicher. Längst ist das gerichtliche Urteil über ihn gefällt. Man kennt es nicht. Doch man hofft, seine schnelle Reue, seine Umkehr zur Nüchternheit des Daseins und ein milder Richter haben es dem Konrad ermöglicht, wieder auf den Weg des ehrlichen Lebens zu kommen.