Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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Aus dem Pester Lloyd von 1938

Karl Sebestyén

Giftbecher und Osterglocken - Meditationen eines Einsiedlers

Karl Sebestyén, geb. 1872, war mehr als zwanzig Jahre in der Redaktion des Pester Lloyd im Ressort Theater und Literatur leitend tätig. Sein vornehmliches Engagement galt dem Nationaltheater. Sebestyén war bist 1923 Direktor der Budapester Schauspielakademie und ein international anerkannter Shakespeareforscher und Übersetzer der Werke Gerhard Hauptmanns. Noch bis 1938 besprach er hartnäckig in Deutschland verbotene Literatur und kämpfte vehement gegen den zunehmenden Nazi-Einfluss an ungarischen Bühnen. Mit seiner bewegenden Abwandlung des Faustmonologes in dem Essay „Giftbecher und Osterglocken” verabschiedete sich Sebestyén 1938 verbittert von seinem Publikum und starb noch vor der Befreiung 1945 in Budapest. m.s.

Heinrich Faust, Doktor aller vier Fakultäten, sitzt zu spät nächtlicher Stunde allein in seinem Studierzimmer. Ist er ein Abkömmling des  Magiers und Abenteurers, dessen Unsterbliches die Engel dem erbärmlichen Mephistopheles entlockt haben? Oder gar eine Reinkarnation des alten Zauberers selbst? Es wäre ein Wunder. Den nichts vom alten Urfaust ist an ihm und um mehr ihn zu erkennen. Man und Milieu haben sich gründlich gewandelt. Doktor Heinrich Faust befaßt sich nicht mehr mit physikalischen und chemischen Experimenten. Verschwunden sind die Gläser, Büchsen, Instrumente die das Studio verunziert haben. Verschwunden Rad und Kämme, Walz und Bügel. Und auch der hohle Schädel der ihn einst angegrinst. Weg sind die Bücher die ihm den Atem versetzten, das Denken mit dem eigenen Kopf hinderten, alle Torheiten und Laster der Vergangenheit überlieferten und verewigten. Dieser Dr. Faust braucht keine Bücher mehr. Ihn hat die Sorge angehaucht und er ist erblindet. Erblindet und todmüde, von der Welt längst abgeschieden und ganz in sich versunken. Er at sich zu einem Schema des reinen Denkens hypostasiert. Und gar dünn und kraftlos sind die Fäden, die ihn noch an das irdische Dasein binden.

Dr. Faust ist im Begriffe diese dünnen Fäden aus einer Machtvollkommenheit entzweizuschneiden.

„Ich bin nur durch die Welt gerannt, ein jed Gelüst ergriff ich bei den Haaren. Ich habe nur begehrt und nur vollbracht, und abermals gewünscht und so mit Macht mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig, nun aber geht es weise, geht es bedächtig.“  Bedächtig? Nein, so ging mein Ahnherr, der wirkliche Dr. Faust, dem Grab entgegen. Ich aber habe mein Lebenskonto abgeschlossen und mit einem jähen Ruck werde ich an der Pforte angelangt sein, vor der Jedermann zurückschrickt, wenn er vermeint, hier auf dieser Erde noch etwas zu suchen zu haben.

Ich habe nichts zu suchen hienieden. Ich habe Zeit meines Lebens mit Geistern verkehrt; mit dem Geist der Erde, dann mit dem Geist, der stets vereint. Wo sind sie hin? Zerstoben ist das freundliche Gedränge. Und was die Welt gegenwärtig beherrscht, ist alles eher denn Geist. Vor vierundvierzig Jahren hat die Materien  dem Geist den Krieg erklärt. Da erhob die Zivilisation stolz, überheblich, unduldsam und ungeduldig ihr Haupt, um die Kultur zu vernichten. Niemals in der Geschichte der Menscheinheit sind sich diese Feinde, die ja liebende, sich gegenseitig unterstützende, ergänzende, befreundete Geschwister sein sollen, so erbritterlich gegenüber gestanden wie in den letzten vier Jahren. Millionen wurden niedergemetzelt, noch mehr Millionen zu Krüppeln, gemacht durch die  Kraft technischer Mittel, teuflischer Erfindungen, Errungenschaften der Zivilisation.

Dann kam über uns der Friede. Und der Friede erwies sich viel blutrünstiger als der grausamste Krieg. Und wieder stand die Materie auf, um den Geist zu bestürmen. Große Völker wurden entehrt, niedergeschlagen, geknechtet, alles durch die Gewalt der Friedensinstrumente. Der Hungerkrieg sollte vorgesetzt werden, Mütter und Kinder darben, Greise den Bissen Brot vermissen, um die Rachegelüste irrsinniger Machthaber zu befriedigen. Und zu guter letzt übernahm Satan die Herrschaft über die Welt: der Satan, Geld genannt. Das Geld höre auf, das Symbol des Wertes, das Mittel des Warenverkehrs zu sein. Es entwickelte sich zu einer selbstzwecklichen Macht. Es wurde zu einem Würgengel, der den sieghaften Fuß auf die Brust der niedergestreckten Menschheit setzt.

Wo ich hindenke, - denn hinsehen kann ich ja nicht – überall Finsternis. In Ländern wo angeblich Friede herrscht, sitzt das Jus Martiale auf dem Throne, von rohen Schergen bewacht und bedient. Zerrissen ist das alte Corpus Juris, entrechtet sind die althergebrachten Rechte und Gerechtsamen. Zerschnitzen sind die alten Bande, die die geistigen Menschen aller Länder zu Mitgliedern eines Gemeinwesen höherer Ordnung geweiht hatten. Jeder dieser Unglücklichen fristet sein ärmliches, zielloses, sinnloses darein vereinsamt, Mensch ohne Brüder, Kämpfer ohne Mitkämpfer, argwöhnisch gegen die Schicksalsgenossen. Gegen sich selbst.

Das Leben hat aufgehört, für uns ein Leben zu sein. Die Meinesgleichen sind alle Blind, nur haben sie noch das Bewusstsein ihrer Blindheit nicht erkannt. Was bleibt mir übrig? Die Kunst des Sterbens. Was „der letzte Römer“ der Marcus Brutus konnte, kann ich auch. Ich werde mich wohl nicht in mein Schwert stürzen, wie Brutus, aber seit Jahren sammle ich sorgsam ein Gift, das in kleiner Dosis verabreicht, als Heilmittel bekannt und benutzt ist. Ich brauche keine kristallene Schale, um mir den Todestrank fertig zu machen. Ein schlichtes Glas, mir stets zur Hand, wird schon den Dienst tun, den ich von ihm verlange...

Dr. Faust nimmt das Glas, das halb mit Wasser gefüllt ist und schüttelt das Pulver hinein. Seine toten Augen erglänzen in unheimlichen Strahlen. Das Gesicht erhellt sich, einem lebhaften rot weicht die Blässe. Es wird ihm so klar im Kopfe und so leicht ums Herz, wie nie i seinem Leben. Er steht auf und mit wackeren Füßen begibt er sich zum Fenster; behutsam tastet er sich an das Fenster heran, um es zu öffnen, und von der belebenden Frühlingsluft, von der erwachenden Welt der Wirklichkeiten letzten Abschied zu nehmen. Das Fenster geht auf. Und in das Zimmer strömen unaufhörlich und unaufhaltsam  gewaltige Klangwellen. Die Osterglocken ertönen. Die Orgel der nächstliegenden Kirche entsendet die klingenden, tönenden Wogen. Und nun erschallt der Gesang männlicher und weiblicher Chöre und verkündet die gute Botschaft:

Christ ist erstanden!
Selig der Liebende,
Der die betrübende
Heilsam` und übende
Prüfung bestanden!

Der Dr. erbleicht, und lässt das Glas aus der Hand gleiten. Erschüttert muß er, der Ungläubige bekennen: „Christ ist erstanden!“ Und jedes Jahr feiert er seine Auferstehung. Und mit ihm und in ihm der reine Geist. Mögen die bösen Feinde des Göttlichen noch so wüten; mögen die Waffen Krieg anstiften und Frieden diktieren; mag sich der Satan auf seinem throne noch so unbändig gebärden: der endliche Sieg gehört dem Geist! Er wurde vors Gericht geladen, verhöhnt, mit der Dornenkrone gekrönt; er musste selbst sein Kreutz, auf den schmalen, schwachen Schultern auf den Berg Golgatha schleppen; und er litt als Mensch Unmenschliches und stöhnte auf dem Kreuze: „Eli, eli, lama sabaktani.“ Und er atmete die Seele aus und wurde vom Kreuz heruntergenommen und begraben. Aber er ist auferstanden! Und wird immer auferstehen! Und ihm gehört der endliche Sieg.

Und der blasse Dr. lächelt verklärt. Seine Augen sind längst erloschen. Und doch ist er in diesem Augenblick sehend geworden. Nun mag er gehen, wie Simon, der den Herrn um seine Entlassung bittet, nachdem er des Herrn ansichtig geworden.