Aus dem Archiv des Pester Lloyd

zurück zur Startseite

 

 

 

(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 1999

László F. Földényi

Die Revolution "wittere ich, wie ein Hund das Erdbeben"

Ein Nachruf zum 150. Todestag von Sándor Petöfi

Der Autor wurde 1952 in Debrecen geboren; er ist Kunsttheoretiker, Literaturhistoriker und Essayist. László F. Földényi arbeitet seit 1991 als Dozent am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaften in Budapest.

Keiner wollte glauben, daß er mit fünfundzwanzigeinhalb Jahren gestorben ist. Umsonst beteuerten die Zeugen, daß sie gesehen hätten, wie der unbewaffnete Dichter auf dem Schlachtfeld von Segesvár von russischen Lanzern erstochen wurde; man konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, ihn verloren zu haben. Legenden begannen sich um ihn zu ranken. Bald sah man ihn verkleidet auf einem abgelegenen Gehöft auftauchen, bald erkannte man ihn in einem wandernden Bettler. Und als schließlich jede Hoffnung zerronnen war, erfand man für ihn das schrecklichste aller Schicksale: Petöfi läßt sich deshalb nicht blicken, weil er in einem Bleibergwerk im fernen Sibirien schmachtet. Diese Legende ließ sich nicht mehr widerlegen. Noch vor kurzem, in den 1990er Jahren, brach eine Expedition nach Sibirien auf, um sein Skelett aufzuspüren. Was man natürlich nicht fand. So ergeht es dem Toten der Nation. Er hat keine Leiche, weil er selbst überall gegenwärtig ist.

Keiner konnte sich damit abfinden, daß es Petöfi nicht mehr gab. Das ungarische Volk erwartete seine Rückkehr wie den Messias. Obwohl man auch ihm, wie dem echten Messias, kurz vor seinem Tod viel Unrecht zugefügt hat: man nannte ihn verrückt, wahnsinnig, verbreitete das Gerücht, er sei ein russischer Spion, ja verdächtigte ihn sogar, heimlich einen slowakischen König auf den ungarischen Thron setzen zu wollen - er, der wie kein zweiter jeden König am Galgen sehen wollte und Kaiser Franz Josef bei dessen Krönung mit einem der aufrührerischsten Gedichte der Weltliteratur grüßte, das den Titel trägt: "Hängt die Fürsten auf". Warum er gerade mit einem slowakischen König verdächtigt wurde? Weil sein Vater, seine Mutter Slowaken waren. Und doch wurde er der größte aller ungarischen Dichter.

Nicht erst nach seinem Tod, sondern schon zu Lebzeiten. Kein Dichter außer Byron war zu Lebzeiten in seiner Heimat so bekannt wie Petöfi: kaum war er zwanzig, als sein Bildnis schon das ganze Land schmückte, seine Bände immer neue Auflagen erreichten und schon zu Lebzeiten eine Straße nach ihm benannt wurde - noch heute gibt es kein Dorf und keine Stadt in Ungarn, in dem es nicht mindestens eine Petöfistraße gäbe -, und es gab keinen, der seine Dichtungen nicht gekannt hätte. Selbst die Analphabeten lallten seine Gedichte. Petöfi erlebte wiederholt, daß Gedichte, die er ein paar Monate zuvor verfaßt hatte, in den verschiedenen Landesteilen bereits als Volkslieder gesungen wurden.

Kein Wunder also, daß man die Nachricht seines Todes nicht geglaubt hat. Er war schon zu Lebzeiten eine Legende. Er galt nicht einfach als Dichter, sondern als Naturwunder. Die Laufbahn und das Leben des 1823 geborenen Dorfjungen sind märchenhaft: Wie der Märchenprinz brach auch er auf, um das Glück zu finden, aber nicht nur für sich, sondern für sein ganzes Volk. Er nannte sich eine "Feldblume der Natur". Aber er war auch ein Komet, der in die damalige ungarische Literatur einbrach, bevor sich seine Schriftstellerkollegen überhaupt besinnen konnten, und schon als zwanzigjähriger Junge als der größte Dichter der Nation galt. Er wischte jede stillschweigende Übereinkunft beiseite, akzeptierte keine Regeln und erschütterte die zeitgenössische ungarische Literatur, die bis zu seiner Ankunft nie bis zu den tiefsten Schichten durchdringen konnte, in ihren Grundfesten.

Das Geheimnis von Petöfis unerhörter Beliebtheit bestand vor allem darin, daß er der erste war, der die Literatur im eigentlichen Sinn des Wortes volkstümlich machte. Nicht indem er sich zum Volk niederbeugte und in einer gekünstelten, idealisierten Volkssprache zu ihm plapperte - wie dies später ein Jahrhundert lang zahlreiche Petöfi-Epigonen taten -, sondern indem er das Volk emporhob. Er war der erste, der in den einfachen Menschen das Bewußtsein weckte, was es eigentlich bedeute, ein Volk zu sein. Was das Wort "Heimat" bedeute. Und damit verbunden, das Wort "Freiheit". Denn er konnte beide nicht voneinander trennen. Als Nachfolger der englischen lake poets und der Lieddichter der deutschen Romantik führte auch Petöfi die einfache Alltagssprache, die von Schwulst befreite Ausdrucksweise in die ungarische Literatur ein. Aber im Gegensatz zu ihnen sah er - als Kind einer späteren Generation und Vorbote der 1848er Revolutionen - das Volk nicht nur als Mythos, als eine verschwommene und konturlose Masse, die den Blick des Dichters in die Vergangenheit schweifen läßt, sondern als eine gesellschaftliche Schicht, eine Klasse, einen politischen Faktor. Seine Empfänglichkeit für die volkstümliche Tradition verband er mit einer sozialen Sensibilität und ließ dadurch vor dem ungarischen Volk, das bis dahin nicht einmal für voll genommen wurde, Weiten aufblitzen, wie sie seitdem in Ungarn niemand mehr aufgezeigt hat.

Er war jedoch nicht nur sensibel für Soziales, sondern auch radikal. Sein Radikalismus erinnert in vielerlei Hinsicht an Shelley, den er las und schätzte; doch im Gegensatz zu Shelley blickte er nicht in platonische Höhen, sondern dachte auch als Dichter über konkrete politische Lösungen nach.

Vor allem wollte er den Abgrund zwischen der Nation und dem Volk überbrücken, ein Ziel, das seit den 1830er Jahren in ganz Europa auf der Tagesordnung stand, aber gerade in Ungarn mehr als in jedem anderen Land eine dringliche Aufgabe war. Ungarn vermißte schmerzlich die Voraussetzungen einer bürgerlichen Gesellschaft; das Land, das gemessen an Westeuropa schon damals großen Nachholbedarf hatte, war gekennzeichnet durch die feudale Gesellschaftsordnung. Auch vor Petöfi gab es Bemühungen, das Volk emporzuheben; ein guter Teil des ungarischen Adels war aufgeschlossen für Reformen und wollte das Volk als Verbündeten auf seiner Seite wissen - vor allem, um mit seiner Hilfe die Unabhängigkeit des Vaterlandes von den Habsburgern zu erringen.

Petöfi jedoch stellte sich auf die Seite des Volkes, indem er sich mit der gleichen Geste gegen die Aristokratie wandte. Den Begriff der Nation, der sich bis dahin auf den Adel beschränkte, dehnte er auch auf das Volk aus. Doch damit im Körper der Nation auch für das Volk Platz war, mußte man die Adeligen zurückdrängen. Oder gar hinausschaffen. In einem Brief schrieb Petöfi: "Wenn das Volk einmal in der Dichtung herrscht, ist es nicht mehr weit, bis es auch in der Politik herrscht, und das ist die Aufgabe des Jahrhunderts, das zu erringen das Ziel einer jeden edlen Brust, die es satt hat, mitanzusehen, wie Millionen als Märtyrer leben, damit einige Tausende dem Müßiggang und Genuß frönen können. Zum Himmel mit dem Volk, zur Hölle mit der Aristokratie!"

Kein Wunder, daß er eine ebenso beliebte wie gefürchtete Gestalt der ungarischen Literatur war. Die einfachen Menschen sahen einen Messias in ihm, der jedoch - gleich dem ursprünglichen Messias - nicht nur die Aussöhnung, sondern auch die Spaltung, den Kampf verkündete und die Bühne der ungarischen Literatur und des öffentlichen Lebens mit dem "Schwert der Zerstörung" betrat. Wie kein anderer Dichter der Zeit in Europa vermochte er das Volkstümliche mit dem Revolutionären zu verbinden, konnte er seine Empfänglichkeit für Nation und Vaterland mit dem gesellschaftlichen Radikalismus, dem Liberalismus vereinbaren. Er war ein Patriot, indem er zugleich durch und durch ein Kosmopolit war. Die ungarische Literatur und die ungarische, politische Kultur sind seitdem unfähig, diese natürliche Einheit zu verwirklichen - die Volkstümlichkeit und der soziale Radikalismus, der Patriotismus und der Liberalismus stehen sich bis zum heutigen Tag feindlich gegenüber. Petöfi war der erste ungarische Dichter, für den die Einheit der beiden natürlich war. Das machte ihn so einzigartig in der ungarischen Dichtung seiner Zeit - und deshalb konnte er der erste ungarische Dichter werden, den man nur am Maßstab der von Goethe verkündeten Weltliteratur messen kann.

In die Weltliteratur ging er über die Dichtung ein - doch seine Dichtung stellte er nicht in den Dienst der Weltliteratur, sondern der Weltrevolution. In dem Gedicht "Die Dichter des 19. Jahrhunderts", einer ars poetica, sieht er die wichtigste Aufgabe des Dichters darin, das Volk nach Kana zu führen, so lange bis sich der uralte Menschheitstraum der vollkommenen Gleichheit vollendet hat.

Erst dann, wenn jeder gleichberechtigt
Platz nehmen darf am Tisch der Welt,
erst dann, wenn jeder gleichermaßen
sein Teil vom Überfluß erhält,
wenn durch die Fenster aller Hütten
das Licht der Bildung Einzug fand,
erst dann ist's Zeit für uns zu rasten,
erreicht ist das Gelobte Land.

Was auffällt, ist: der wichtigste Vertreter der kommunistischen Idee in den Augen Petöfis, und darin erkennen wir ihn als würdigen Nachfolger Shelleys, ist nicht der Politiker, nicht der Berufsrevolutionär, sondern der Dichter. Der Dichter, schreibt er, ist eine "Fackel für den Weg", den Gott der Menschheit vorangestellt hat. "So führt das Volk voran, ihr Dichter, / durch Feuer, Flut und Wüstensand!", spricht er. Dieses 1847 verfaßte Gedicht ist eine Proklamation der Avantgardedichtung; es nimmt trotz des biblischen Tons und des Titels (Die Dichter des 19. Jahrhunderts) die Überzeugung der Dichtung der Avantgarde im 20. Jahrhundert vorweg. Petöfi war vor allem offen für die Idee der Revolution - "ich wittere sie, wie ein Hund das Erdbeben", schrieb er -, doch konnte er sich keiner Bewegung anschließen. Er blieb eine autonome, souveräne Gestalt der ungarischen Politik und Dichtung, die sich während des ungarischen Freiheitskampfes von 1848/49 genauso gegen Kossuth wenden konnte, wenn es sein mußte, wie gegen die verhaßten Österreicher.

Am 15. März 1848, dem Tag der ungarischen Revolution, deklamierte das ganze Volk sein Gedicht, und dieses Gedicht, das Nationallied, das sofort in zahlreiche Sprachen, so auch ins Deutsche übertragen wurde, wurde mit einem Schlag das bekannteste Gedicht der ganzen ungarischen Literatur. Petöfis Radikalität konnten jedoch auch seine engsten Gesinnungsgenossen nicht folgen, und schon einen Monat später, im Mai 1848, begannen sie ihn zu ächten. Die Unerbittlichkeit, die aus seiner Dichtung strömte, ließ sich in der Welt der Politik in der Tat nicht lange aufrechterhalten. Sein an Saint-Just und Marat gemahnender Republikanismus war auch in der damaligen europäischen Literatur unbekannt; selbst Heine, der Petöfi so hochgeschätzt hat, war resignierter, bitterer, ironischer als er. Kein Wunder, daß das Gedächtnis der Nachwelt bemüht war, Petöfi die Tiefe zu nehmen, seine Gestalt ins Klischeehafte, ja Kitschige umzustilisieren.

Die späteren Generationen feierten ihn als den Dichter von Volksliedern, verheimlichten jedoch seine Radikalität; priesen seine Liebesdichtung, nahmen jedoch nicht zur Kenntnis, daß viele seiner Gedichte nicht salonfähig sind; sangen seine gemütvollen Weinlieder und verschwiegen seine anarchistischen, auch Haß verströmenden Gedanken.

Das konnte auch nicht anders sein in einem Land, das kaum zwei Jahrzehnte nach der Niederschlagung des Freiheitskampfes von 1848 mit seinen Bezwingern, den Österreichern, handelseinig wurde. Petöfi hat nie mit jemandem gehandelt. In der österreichisch-ungarischen Monarchie hat man den alten Franz Josef am Ende des 19. Jahrhunderts ausnahmslos geliebt, obwohl dieser den ungarischen Freiheitskampf von 1848/49 blutig niedergeschlagen hatte. Wer hätte sich da getraut, Petöfis anläßlich Franz Josefs Krönung verfaßte Ode "Hängt die Fürsten auf" laut vorzutragen, in der er mit einem solchen Haß über die gekrönten Häupter schreibt, wie es in der europäischen Literatur nur noch in einer anderen Ode zu finden war, in Heinrich von Kleists gegen Napoleon gerichteteter Dichtung Germania an ihre Kinder.

Habt ihr noch nicht gelernt, daß Haß, nur Haß
den Königen gebührt? Voll ist ihr Maß!
Könnt ich verteilen meinen Haß an euch,
der mir die Brust zersprengt, ich tät's sogleich!
Wer sich zu hassen scheut, zahlt ewig drauf!
Zerschlagt die Throne, hängt die Fürsten auf!
 
Verderbt sind sie, ihr Herz ist kalt und leer,
schon niederträchtig von der Mutter her,
ihr Lasterleben spricht dem Volke Hohn.
Schwarz ist die Luft von ihrem Atem schon,
noch aus dem Grab stinkt diese Pest herauf.
Zerschlagt die Throne, hängt die Fürsten auf!

Aber nicht nur sein politischer Radikalismus wurde allmählich zum Tabu. Die Nachwelt wollte auch mit der Tatsache nicht konfrontiert werden, daß er, der Dichter der Gemeinschaft par excellence auch zutiefst einsam sein konnte. Seine Begeisterung war mindestens so mächtig wie sein Lebenshaß, ja seine Todessehnsucht, die ihn zum Nachfolger Novalis', zum Zeitgenossen Baudelaires und Schopenhauers, ja zum Vorläufer Nietzsches werden ließ. Er war ein naiver Dichter im Schillerschen Sinne; doch fehlten auch die sentimentalen Züge bei ihm nicht. 1846 schrieb er sein Gedicht Mein Schicksal, schaff mir Raum, das mit den Worten beginnt:

Mein Schicksal, gönne mir, sinnvoll zu leben,
zu wirken für der Menschheit Wohl!
Weh mir, wenn ungenutzt die reine Flamme,
die in mir brennt, verlöschen soll!

Doch innerhalb einer Woche schrieb er auch sein Gedicht Welthaß, das er mit den Worten schloß:

Verschiedne Wirkung hat der Gram auf uns,
verblüffend komisch ist das oft sogar,
verfinstern kann er ganz ein helles Herz
und schneeweiß färben rabenschwarzes Haar.

Petöfi wäre jedoch nicht Petöfi gewesen, hätte er neben seiner Anbetung des Volkes, Freiheitsliebe und Verpflichtung für das Leben nicht auch seiner Lebensunlust, seinem Welthaß und seinen Ängsten kosmische Ausmaße verliehen. In seinem Gedicht Feentraum schrieb er:

...Vielleicht hat sich die Erde
verkleinert nur? Gewiß war: Ich empfand,
daß alsogleich in ihrem wärmsten Teile,
im Herzen, eine Leere auch entstand.
Diesen Gedanken erweitert er bald darauf in einem Vierzeiler so:
Wenn sich ein solcher Sturm zusammenballte,
Daß er den Himmel auseinanderrisse,
Und diesen Erdball durch die Spalte
Hinunter schmisse!

Die Gespaltenheit der Person ist für ihn genauso untrennbar verbunden mit der großen Gespaltenheit des Weltalls, wie er an anderer Stelle sein persönliches Glück nicht von Kana und der Weltfreiheit trennen kann. Oder hier ein anderer seiner Vierzeiler:

Was droht mir denn? Was soll mit mir gescheh'n?
wie fiel ich dieser Ahnung nur zum Raube?
Mir zuckt das Herz in konusiv'schen Weh'n -
Wie ein geköpftes Menschenhaupt im Staube.

Heine schrieb, daß Petöfi, zu seinem Glück und zum Glück seiner Nation, die Hamletschen Züge fehlten. Heine kannte jedoch nicht alle Gedichte Petöfis. In seinem Gedicht Licht schrieb auch Petöfi selbst, daß es für ihn nicht auf die Frage "Sein oder Nichtsein" ankäme, sondern ob der Mensch seinen Mitmenschen von Nutzen ist oder nicht. Dennoch mündet das Gedicht in den Nietzscheschen Gedanken der ewigen Wiederkunft und endet so:

Geht unser Weg
nicht ewig auf und ab?
Entsetzlicher Gedanke!
Wen er noch nicht befallen hat,
den hat's vor Kälte nie geschaudert,
der weiß noch nicht, was frieren heißt.
Ein warmer Sonnenstrahl
scheint eine Schlange mir dagegen,
die kalt wie ein Eiszapfen
auf unsre Brust sich legt,
um unsern Hals sich wendet und
abschnürt den Atem in der Kehle...

Dieses Gedicht nimmt den Nietzscheschen Gedanken der kalten Räume vorweg. Vergessen wir nicht: Nietzsche hat mehrere Gedichte Petöfis vertont. Petöfis Gedanken des Welthasses tangieren jedoch auch die Gedanken Schopenhauers; und seine Angst atmenden Dichtungen stehen der Philosophie Kierkegaards nahe, der gerade 1844 sein Werk Der Begriff Angst schrieb.

Petöfi lebte mit jeder Nervenfaser in seiner Epoche. Er war nicht nur der große Lyriker der ganz Europa begeisternden Ideen der Revolution von 1848; auch der zeitgleich mit den revolutionären Gedanken auftretende, die moderne, europäische Literatur bestimmende, resignative Ton war ihm nicht fremd. Das Geheimnis seiner Größe besteht darin, daß er diese beiden Standpunkte niemals gegeneinander ausgespielt hat: er wurde genausowenig ein politischer Programmdichter wie ein Lyriker der Décadence. Er war einer jener seltenen Dichter des 19. Jahrhunderts, die ihr allerpersönlichstes Ich und ihr gemeinschaftliches Ich niemals voneinander getrennt haben. Ein gutes Beispiel dafür bietet eines seiner schönsten und beliebtesten Gedichte, Die Theiß, das vom liebsten Fluß der Ungarn handelt. Das Gedicht beginnt mit der Beschreibung des sanften, liebenswürdigen Flusses, der das Symbol ätherischer Ruhe und Zuverlässigkeit sowie des ungarischen Bodens ist. Doch am Ende des Gedichts entfesselt sich plötzlich der glatt dahinfließende, an einen Mutterschoß erinnernde Fluß und überflutet seine Dämme. Die letzten Zeilen des Gedichts lauten:

Und schon wogte Wasser wie ein Meer,
hatte schon die Dämme übersprungen,
war schon übers Feld ins Dorf gedrungen!
Rasend kam die Theißflut angerollt,
als ob sie die Welt verschlingen wollt!


Die Theiß, seit jeher ein Symbol für Ungarns geographische, geistige, natürliche und seelische Einheit, ist für Petöfi sowohl ein "naiver" als auch ein "sentimentaler" Fluß. Zuverlässig und uferlos, berechenbar und furchterregend, liebenswürdig und hassenswert. Sie ist schön und erhaben, weckt idyllische Vorstellungen, löst aber auch Entsetzen aus. Sie ist urtümlich und modern. Wie auch Petöfis Dichtung. Wie sie nur einmal in einem Jahrhundert entsteht, wenn überhaupt. Und die deshalb auch rätselhaft und geheimnisvoll ist.

Niemals hat jemand Petöfis Begabung und Größe in Frage gestellt. Und dennoch müssen wir, wenn wir ehrlich sind, zugeben, daß Petöfi tot ist. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist eine so umfassende Verflechtung der privaten und der gemeinschaftlichen Sphäre wie sie seine Dichtung charakterisierte, nicht mehr nachvollziehbar. Wir preisen ihn, wir feiern ihn, doch insgeheim hüten wir uns vor ihm. Vielleicht entstanden nach seinem Tod deshalb so viele Legenden über ihn - mit einer in der Ferne heimatlos umherirrenden, im Nebel entschwindenden Legende ist es leichter zusammenzuleben als mit dem lebenden Dichter, der seinen Zeitgenossen so viele Unannehmlichkeiten verursacht hat. Wäre er wirklich auferstanden oder tatsächlich aus einem sibirischen Bleibergwerk heimgekehrt, wäre es ihm gewiß so ergangen wie Dostojewskis Christus in der Geschichte mit dem Großinquisitor: nach seiner Auferstehung erschrak das Volk sosehr vor ihm, daß es ihn gleich wieder kreuzigte.

Auch Petöfi hätte es leicht so ergehen können. Er wartete also nicht mit seinem frühen Tod. Mit dreiundzwanzig Jahren, zwei Jahre vor seinem Ende, sagte er sich das sichere Ende voraus:

Ein Angsttraum quält mich: Sterben müssen
in dumpfer Stube, in den Kissen;...
Nicht solchen Tod, der mir zum Spott,
nicht solchen Tod gib mir mein Gott!
...laß mich fallen im Kampf,
vorstürmend durch Feuer und Dampf!
Dann möge mein Herzblut verrinnen,
dann scheide ich glücklich von hinnen!
Und sollt sich ein Todesschrei mir noch entringen,
dann mag im Kanonengedröhn er verklingen,
verwehn mit dem Pfeifen von schwirrendem Stahl,
mit unseres Sieges Trompetensignal!
Der Hufschlag der Pferde
stampf ein in die Erde,
was von mir noch blieb, wenn nur siegreich die Schlacht,
die frei von Tyrannen uns endgültig macht! -
Wenn glorreich dann der Morgen angebrochen,
dann sammelt ein die Splitter meiner Knochen
und kommt, mit feierlichen Trauerchören,
mit schwarzbeflorten Fahnen, uns zu ehren,
gemeinsam all die Helden zu begraben,
die für die Weltfreiheit ihr Leben gaben.
Aus dem Ungarischen von Akos Doma

Petöfi-Zitate aus dem Ungarischen von Martin Remané und Josef Steinbach