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Aus dem Pester Lloyd von 2004

György Konrád

Das Antlitz Europas

Über Amerikas Dominanz und die kulturelle Identität Europas

György Konrád: Budapest - 1956

Warum brauchen wir eine europäische Vereinigung? Wir brauchen sie, um als Europäer, zerfallen in Nationen und Bündnisse, nicht mehr die jahrtausendealte Tradition blutiger Kämpfe fortzusetzen. Wir brauchen die europäische Vereinigung, damit keinem einzigen europäischen Staat die Möglichkeit gegeben wird, mit den anderen in einen Krieg verwickelt zu werden, denn durch die Assoziierung werden sie alle gezwungen, sich selbst zu disziplinieren. Wir brauchen die europäische Vereinigung, damit wir als Staatsbürger der Union auf deren gesamtem Territorium rechtliche Gleichstellung genießen und unbehelligt kommen und gehen und arbeiten können. Mir bedeutet es eine große Freude, daß auch mein Land als Mitglied in die Gemeinschaft der europäischen Nationen aufgenommen wird. Dieser Zusammenschluß bietet auch den geistigen Heimarbeitern wie meinesgleichen mehr Raum, um sich zu entfalten.

Unangenehme Erfahrungen hat mir persönlich zumeist mein eigener Staat mit seinem nationalsozialistischen und kommunistischen Extremismus zuteil werden lassen. Tatsache ist, daß derartiges von ihm erst die deutsche und dann die sowjetische Führung erwartet hat. Gleichwohl ist es die heimische Administration gewesen, die mit großer Selbständigkeit für die erfolgten Unannehmlichkeiten zuständig gewesen ist. Die Auswahl, in wessen Namen man uns unterdrücken kann - im Namen der Nation, der internationalen Arbeiterklasse oder irgendeiner Religion - ist nicht allzu groß. Die durch Europa hindurchziehenden Ideenströme können vielleicht das eine oder andere Land verrückt machen, fünfundzwanzig Länder jedoch nicht.

Mein antipolitischer Ausgangspunkt rät zu ironischer Wachsamkeit. Deshalb gefällt mir eine europäische konstitutionelle Beschränkung nationalstaatlicher Souveränität. Und es gefällt mir auch, wenn die urbane und die dörfliche Gesellschaft innerhalb des Nationalstaats sich selbst verwaltet. Sowohl von außen wie auch von innen gilt es, die Mächte zu kontrollieren. Für mich bedeutet die EU größere Sicherheit und Freiheit, einen weiterreichenden Horizont und umfassendere Erfahrungen. In der Europäischen Union sind wir den lokalen Verblendungen weniger ausgeliefert, auf dem internationalen Arbeitskräftemarkt bewegen wir uns ungezwungener, und weder die Informationen noch das Kapital müssen wegen politischer Hindernisse an den Grenzen unseres Landes haltmachen.

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Eine Beschränkung der lokalen nationalen politischen Klasse halte ich
für wünschenswert, weil mein Vertrauen zu ihr nur mäßig ist.

Nationale Politiker gibt es viele in Europa, europäische wenige. Die in der Union tonangebenden Regierungs- und Staatsoberhäupter vertreten am europäischen runden Tisch meist Eigeninteressen, verlieren ihre Wähler nicht aus den Augen, erhoffen sich Zustimmung von zu Hause. In Vertretung ihrer von den heimischen Populisten angeforderten nationalen Ziele müssen sie in der Eskalation der Diskussionen ausdauernd sein und reichlich aus der gesamteuropäischen Phraseologie schöpfen. Daran ist moralisch nichts Verwerfliches; darin sind sich alle gleich. Innenpolitische Motivationen werden zu außenpolitischen und gesamteuropäischen Interessen umformuliert. Dennoch wäre es möglich, daß sich in der Rivalität der Stimmen, Ansprüche und Argumente ein praxisorientierter Kompromiß herausbildet, eine Annäherung dessen, was recht und billig ist.

Hitlers und Stalins Staat haben hinter der stolzen Fassade nationaler Souveränität mit seinen Einwohnern getan, was sie wollten. Ich würde mich freuen, wenn die europäische Assoziation die Macht der nationalen politischen Klassen sowohl von oben als auch von unten beschnitte. Daß der Name der einen oder anderen Person die Geschichte meines Vaterlands prägen sollte, erscheint mir nicht wünschenswert. Die Politiker heißt es im Auge zu behalten; auf dem Gipfel sind sie gern allein. Mit ihrer Position geht die Versuchung einher, möglichst viel Einfluß und Macht zu erwerben. Das ist keine moralische, sondern eine funktionale Frage, deren Klarblick kein noch so demokratischer Moralismus verschleiern kann. Eine Beschränkung der lokalen nationalen politischen Klasse halte ich für wünschenswert, weil mein Vertrauen zu ihr nur mäßig ist.

Es gibt einen rechten und einen linken Populismus. Beide neigen sie zum Etatismus, und beide sympathisieren sie mit der Teilung Europas in Koalitionen, Bündnisse und Achsen. Die politische Klasse ist an der europäischen Integration interessiert und auch nicht. Die eigene Macht setzt sie mit den Lebensinteressen der Nation gleich. Von Ausländern hereingeredet zu bekommen, das mag sie nicht. In der Union werden die Politiker eher zuverlässige Fachleute sein als charismatische Führer. Auf den Bildschirmen werden wir sie weniger zu sehen bekommen; weder die Erwartungen noch die Ablehnungen werden sich auf sie konzentrieren.

Jene wiederkehrenden Fragen nationalstaatlicher Intimität, wer staatliches Kapital wie - zum Teil in eigenes - Privatkapital verwandelt hat, interessieren mich nur aus einer gewissen Distanz. Sowohl auf der rechten wie auch auf der linken Seite sind Moral und Praxis der Selbstbeschränkung unterentwickelt. Den Eindruck habe ich. Als gesellschaftliche Gruppen mit eigenen Interessen, als redistributive Bürokratien, die um Ziele, Ausmaß, Verhältnisse und das Wie der zentralen Umverteilung Diskussionen führen, betrachte ich die nationalen politischen Klassen lediglich wegen ihrer strukturellen Rolle. Wem sollen sie Mittel entziehen und wofür diese ausgeben? Zugunsten einzelner gesellschaftlicher Gruppen und zum Nachteil anderer fällen sie Entcheidungen, die mit verschiedenen Ideologien und Verhaltensweisen gerechtfertigt werden.

Ein Abbau der Bürokratie liegt nicht im Interesse der Bürokratie. Doch selbst wenn sie glauben sollte, daß sie sich darum bemühen müßte, wäre ein solches Bestreben nicht von Erfolg gekrönt. In Ungarn beispielsweise hat bisher noch jeder System- und Regierungswechsel ein konkretes zahlenmäßiges Anwachsen der öffentlichen Angestellten mit sich gebracht. Was einen sarkastischen Geist zu der Einsicht veranlassen könnte, daß sich diese Zuwachsrate demgegenüber, was die an der Macht befindliche Partei sagt, gleichgültig verhält. Gleich ob die Rechte oder die Linke oben sind, die Steuerzahler müssen immer mehr öffentlich Bedienstete unterhalten. Freilich stimmt es, daß auch sie Steuern zahlen. Die Zahl der Beamten hat zugenommen, auch ihr Gehalt, während uns das Einkommen der Schriftsteller sozusagen abhanden gekommen ist.

Der Anschein, wonach auch die Europäische Union vor allem eine Angelegenheit der Politiker wäre, ist keine wirklich verlockende Aussicht. Doch das macht nichts, sollen sie sich doch damit ruhig beschäftigen. Zum Glück verheißt die EU den nationalen Politikern eine weitere Karriere und auch eine Ausweitung ihres Kompetenzbereichs. Ich wage der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß mit der EU-Mitgliedschaft eine größere Transparenz einhergehen möge, in deren Folge auch die Politik eine bürgerliche Entwicklung nimmt, ihr Stil professioneller wird, während unsere Gesellschaften erwachsener werden. Daß ich von der Europäischen Union eine wesentliche Verbesserung der Lage der schöpferischen Intelligenz erwarten würde, so weit geht mein Optimismus schon nicht mehr. Für alles wird es Subventionen geben, nur nicht für die Kultur. Wenn ich die Zahlen recht verstehe, dann ist für die Unterstützung kultureller Zwecke in der Union sogar weniger als ein Tausendstel des Etats vorgesehen.

Suchen wir aber eine Antwort auf die Frage, was Europa zusammenhält, dann sage ich ohne zu zögern, seine symbolische Kultur, die Künste, das Schreiben, und in diesem Rahmen die religiöse und profane Literatur, die Jahrhunderte, ja Jahrtausende früher entstanden ist als die wirtschaftliche und politische Allianz Europas.

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Der Anschein, wonach auch die Europäische Union vor allem eine Angelegenheit der Politiker wäre, ist keine wirklich verlockende Aussicht.

Wenn es den Regierenden gelingt, mit der spekulativen Öffentlichkeit in einen inhaltsschweren Dialog einzutreten,  so können wir von Festtagen in der Politik sprechen. Es ist wichtig, daß der Intelligenz in der Europäischen Union eine adäquate Rolle zugestanden wird. Gebraucht wird auch ein Gegengewicht, gebraucht werden Positionen, die über eine Autoriät verfügen und von denen - gesetzlich verankert - kein Weg zur Regierungsgewalt führt. Gebraucht werden Wissenschaftler und Künstler, die nach einer Abstimmung am runden Tisch Stellungnahmen abgeben, an denen die Öffentlichkeit interessiert ist. Die Einberufung derartiger Fach- und Ethikkommissionen gehört häufig auch heute schon zum politischen Leben. Es muß Standpunkte geben, deren Bedeutung nicht in der Zahl der Anhänger, sondern im Text selbst und in der geistig-moralischen Autorität der Verfasser liegt.

Der Berater ist kein hauptamtlicher Politiker, und das will er auch gar nicht sein. Aber ihn interessieren die öffentlichen Angelegenheiten, und er hat dazu eine Meinung. Nicht durch Wahlen oder Ernnenung gelangt er zu seiner Position, sondern durch Berufung. Der Politiker verfolgt eigene Interessen, er unterliegt einer Parteidisziplin und ist seiner Partei notwendigerweise verpflichtet. Demgegenüber unterliegt der Runde Tisch der Berufenen keiner Verpflichtung. Die Infrastruktur dieser Körperschaft würde unvergleichlich weniger kosten als das Europäische Parlament mit seinen fünfundzwanzig offiziellen Sprachen. Auf der Bühne der europäischen Entscheidungen sollten neben den Gewählten und Designierten die Berufenen eine wichtige Rolle erhalten, damit die Öffentlichkeit den Dialog zwischen Politikern und den von diesen unabhängigen Intellektuellen mit größerer Aufmerksamkeit verfolgen kann.

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Wie soll Europa aussehen, wie soll es nicht aussehen? Weder aggressiv noch verweichlicht sollte es sein. Eine führende Macht und einen führenden Staatsmann gibt es in Europa nicht. Kein einziges Land ist imstande, Europa zu führen. Von einer Führungsrolle zu träumen wäre unbegründeter Machtdünkel. Die Rechtsstaaten schulden sich gegenseitig Solidarität. Sich überall auf der Welt der Tyrannei entgegenzustellen, heißt die demokratische Zivilisation aufrechtzuerhalten und zu stärken. Dazu sind sie moralisch verpflichtet, und das liegt in ihrem strategischen Interesse. Die Religion des Bürgers ist Privatsache, der Respekt vor dem Recht ist eine öffentliche Angelegenheit. Ob du die Spielregeln akzeptierst oder nicht, das ist die Frage.

An der Stelle des einstigen Eisernen Vorhangs hat es vor den Weltkriegen keinerlei zivilisatorische Kluft gegeben, deren symbolische Krönung Stacheldraht und Minensperre gewesen wären. Die Einverleibung Mittel- und Osteuropas in das sowjetische Reich ist durch keinen gesellschaftlichen Wandel begründet gewesen, sondern vielmehr durch den militärischen Status quo: Wer was erobert hatte, durfte es als seines betrachten. Die russische Okkupation war eine Reaktion auf die deutsche Okkupation und stimmte mit der Logik des Wettrüstens der Großmächte überein. Die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat diese Logik ohne größeren Blutzoll aufgerieben und die militärische Lage Europas seiner gesellschaftlich-wirtschaftlichen Lage angepaßt. Überverstaatlichte Länder schlüpften aus dem unbequemen Harnisch und streckten sich statt nach Osten dem Westen zu, wo dieser sich natürlich anbot.

Die Westorientierung ist eine langfristige, eine jahrtausendealte grundlegende Geschichte. Vor den beiden Weltkriegen indes gab es zwei westliche Lager, die zum Krieg gegeneinander rüsteten. Gleich welchem wir uns anschließen würden, unausweichlich wären wir in den Krieg hineingezogen worden. Beide westliche Bündnisse versprachen enorm kostspielig zu sein. Das östliche noch mehr. Aber allein auf eigenen Füßen zu stehen war uns, den kleinen Ländern, nicht möglich. Aus dieser Sackgasse führte kein vernünftiger Weg heraus. Die Mittel- und Osteuropäer trugen dann fast für ein halbes Jahrhundert noch die Last des Zweiten Weltkriegs, wovon sich die Westeuropäer wesentlich früher befreien konnten. Die westlichen Alliierten, in erster Linie Amerika, hatten ihnen diese Last von den Schultern genommen.

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Antiamerikanismus ist Populismus, der gleichermaßen Großmannssucht
wie Minderwertigkeitskomplexe beinhaltet.

Europa von Amerika loszulösen heißt, Europa auseinanderzureißen. Zu den verschiedensten amerikafeindlichen Tendenzen können wir nur eines sagen, nämlich daß Amerika der deutschen nationalsozialistischen, der sowjetischen und der chinesischen kommunistischen Expansion die Stirn geboten hat, allen totalitären Versuchen also, und über sie die Oberhand gewonnen hat. Im echten Interesse der östlich von Deutschland und westlich von Rußland lebenden kleineren Nationen, aber selbst in Rußlands Interesse, liegt es, daß der Westen nicht zweigeteilt sein und nicht in zwei sich fremd werdende demokratische Bündnisse zerfallen soll. Der Zweite Weltkrieg resultierte daraus, daß Europa durch zwei Bündnisse gespalten worden war. Vor 1945 waren die Mitteleuropäer Opfer des deutschen Sonderwegs. Über diesen Weg kamen - retour - die sowjetischen Truppen und blieben fast ein halbes Jahrhundert lang. Somit ist es verständlich, daß wir nicht die geringste Lust verspüren, zum Instrument der Rivalitäten zwischen größeren Nationen zu werden. Ich bin überzeugt davon, daß die atlantische Solidarität für den föderativen Fortbestand der Demokratien unentbehrlich ist. Ohne die Angelsachsen wäre Europa heute entweder nationalsozialistisch oder kommunistisch oder aber geteilt beides. Antiamerikanismus ist Populismus, der gleichermaßen Großmannssucht wie Minderwertigkeitskomplexe beinhaltet.

Die Amerikaner haben an zwei Weltkriegen teilgenommen. Obwohl sie nicht allzu viel Lust dazu hatten, haben sie aus Bündnisloyalität zu Großbritannien gehalten und den Kriegsausgang entschieden. Sowohl in Deutschland als auch in Japan haben sie demokratische Rahmenbedingungen geschaffen. Durch ihre Präsenz haben sie diese jungen Demokratien vor der espandierenden sowjetischen beziehungsweise chinesischen Diktatur beschützt. Man kann sich nicht damit zufriedengeben, daß nur die USA weltpolitische Verantwortung tragen soll.

Ein Schmieden einer europäischen Achse gegen die USA ist für uns Mitteleuropäer ein gefährlicher Abstecher. In Westeuropa scheint Amerikafeindlichkeit linksorientiert zu sein, in Osteuropa eher rechtsgerichtet, ja, rechtsradikal. Die antiamerikanische Phraseologie vermischt sich mit antiisraelischen und antisemitischen Redensarten. Wer in Europa von einer Achse spricht, der hat den Zweiten Weltkrieg vergessen. Europas Auseinanderfallen liegt nicht im Interesse der Mitteleuropäer. Die Einheit des Westens ist für uns etwas Gutes. Eine erforderliche Wahl zwischen zwei westlichen Lagern wäre für uns eine Katastrophe. Deshalb wägen wir die Argumente der führenden amerikanischen und europäischen Politiker höflich ab. Doch keine ambitiöse Regierung welcher großen Demokratie auch immer sollte von uns erwarten, daß wir uns auf ihre Seite schlagen und uns gegen eine andere große Demokratie wenden. Die eigentliche Richtschnur ist also der Weltverband der Demokratien. Auch füreinander sind sie das, jene zuverlässigen Länder, von wo die Menschenrechtsorganisationen nichts Konkretes zu melden haben. Wer Europa gegen Amerika einstimmen will, tut der Europäischen Union nichts Gutes.

Die politisierende Alltagssprache wird wahrscheinlich zusehends von einem Europa als Ganzem besetzt oder zumindest vom Verhältnis der Union zu den anderen Teilen der Welt, zu anderen Mächten. Es klärt sich, was wir für wie wichtig halten sollten. Und müssen wir die zwischen den Weltmächten bestehende Kräftehierarchie überhaupt klären? Müssen wir unsere Kräfte beim Armdrücken messen, wie es meine Söhne getan haben und noch immer tun und wie auch, wozu leugnen, einige Male ich es getan habe? Muß es entschieden werden, wer der Stärkere, der noch Stärkere und der Stärkste ist?

Hinsichtlich des geschichtlichen Lebensalters und der Bevölkerungszahl, das heißt der menschlichen Kraftquellen, sind China und seine südostasiatischen Nachbarn am stärksten. Hinsichtlich der militärischen Stärke, um ihren Willen durchzusetzen, sowie hinsichtlich des wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Potentials stehen die Vereinigten Staaten an erster Stelle. Der Verkehr zwischen den Kontinenten auf dem Stillen Ozean übersteigt bei weitem den auf dem Atlantischen Ozean. Hinsichtlich Pluralität, Urbanität, Lebensstandard und Lebensqualität jedoch dürfte Europa den ersten Platz einnehmen, Europa, das sich am ehesten selbstkritisch betrachten kann und dessen Wirtschaft nicht hinter der Amerikas zurücksteht.

Zum Prahlen hat Europa
weder Grund noch Recht.

Demgegenüber hat sich Europa im vergangenen Jahrhundert mit den beiden Weltkriegen gleich zweimal einen Sündenfall zuschulden kommen lassen und sich auf abstoßendste Weise in das Bett der Tyranneien gelegt. Zum Prahlen hat Europa weder Grund noch Recht. Obwohl ich gern sagen würde, daß der europäische Humanismus unser Zauberstab sein könnte, genügt ein Blick auf die eigenen biographischen Erfahrungen und die meiner engeren und weiteren Umgebung, um mich von keinem ruhmredigen kollektiven Selbstbildnis betören zu lassen, um die Kehrseite des Selbstlobs zu sehen, das verruchte Böse, die kleinkarierten Lieblosigkeiten, statt guter Taten Versäumnis, statt Nachdenken Puffen und die ausgemusterten moralischen Eigenschaften als bestimmende und schicksalsschwere Gegebenheiten der Politik.

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Das von uns in Europa für wahrscheinlich Gehaltene, die Machtexaltation - jene Leidenschaft, von der die Staatsmänner ebenso in Versuchung geführt werden, wie eine angenehme Vergnügung vom Betrunkensein -, kann keine grandiosen Fieberträume und Tobsuchtsanfälle produzieren. Das sage ich zutiefst überzeugt davon und in Anerkennnung dessen, daß ich an der Schwäche des Optimismus leide. Die Rolle des Räsoneurs paßt besser zu jenem Europa, das die ganze Welt erst entdeckt und dann kolonisiert, schändlichste Bruderzwiste ausgetragen hat, um eine Entscheidung darüber herbeizuführen, wer der Stärkste sei, Erklärungen dazu akzeptiert hat, wen es zu hassen gelte. Der Teufel gewährt denen, die ihn anbeten, das tägliche Haßpotential. Da Europa Gelegenheit hatte, vor sich selbst vom Entsetzen gepackt, vom Rausch geheilt zu werden, sich nach deren Ausleben in den Leidenschaften auszukennen, die Manövrierfähigkeit zu praktizieren und sich ihrer zu schämen, wird es unwahrscheinlich, daß gemeinsamer militärischer Elan das politische Europa mit sich reißen könnte.

Je kürzer eine Verfassung ist, desto besser ist sie angeblich. Sollen sich doch die Nachkommen wegen der Auslegung den Kopf zerbrechen. Diese Verfassung gehört uns, der jetzt zur Diskussion verabschiedete Text. Laut Kritikern soll sie zu lang und zu didaktisch sein. Ich hege keinen Zweifel, sie ist unvollkommen wie wir, die Europäer von heute, von denen man sagen könnte, sie überschätzten sich und wollten mehr, als zu erreichen sei. Doch selbst das relativ Wenige ist viel, denn ebenso wie es dem Übel vorbeugt, kann es dieses vielleicht sogar heilen. Es setzt die Tötungsziffern herab und gestaltet die Rahmenbedingungen unseres Lebens menschenwürdiger. Wie auch immer, mit der Annahme der keineswegs vollkommenen gemeinsamen Verfassung überschreiten wir den Rubikon und tun unser Bestes und Klügstes. Deshalb werde ich am 14. April 2004 eine gute Flasche Rotwein aufmachen, um meiner Freude darüber Ausdruck zu verleihen, daß auch wir Ungarn Bürger der Europäischen Union geworden sind.

Und wenn Zugehörigkeit und Zusammenhalt ein gewohntes Faktum werden, so daß wir in unserer Freude nicht mehr unaufhörlich zum Rotweinglas greifen, dann werden wir uns gelegentlich auch von außen sehen, nüchtern wie nach der Hochzeit, ja, melancholisch, denn der zwischenstaatliche Akt, daß die Politiker und die hochrangigen Staatsbeamten mehr auf Reisen sein und mehr miteinander reden werden, ist sehr erfreulich, füllt aber unser Leben nicht aus. Allerdings werden dadurch Ängste vor einem europäischen Krieg, der auch uns mit sich reißen würde, beseitigt. Was keine Kleinigkeit ist. Europa ist skeptisch, vorsichtig und neigt vermutlich dazu, höflich auch mit dem zusammenzuleben, was es verurteilt oder im häuslichen Umfeld anderer das nicht einmal verurteilt, was es daheim nicht tolerieren würde. Auf dem Balkan haben wir letztens lernen können, daß dort, wo Menschen gewohnheitsgemäß und instinktiv der Tradition der Blutrache folgen oder wo Religiosität oder nationale Gedankenspiele in rasenden Wahnsinn umschlagen, wo demagogische und schlaue Figuren imstande sind, den Volkszorn zu lenken, wo Aufrichtigkeit ein Synonym für Blödheit ist, wo Rache Verpflichtung, der Kompromiß dagegen eine Schande ist, viel Geld  für internationale Verwaltung aufgewendet und der ins Leben gerufene Rechtsstaat beunruhigend fragil sein wird.

In demokratischen Rechtsstaaten lebt nur eine Minderheit der Menschheit. Für diese demokratische Minderheit lohnt es zusammenzuhalten, über die eigene gemeinsame Sache, Verantwortung und Strategie möglichst offen nachzudenken. Freiheitsrechte und relativer Wohlstand hängen miteinander zusammen. Wenn die Demokratien den armen Ländern helfen wollen, dann müssen sie dort eine demokratische Entwicklung, Bewegung und Opposition unterstützen, damit die Hilfe nicht versickert und zu Gunsten der Diktatur, bewaffneter Kräfte, anwachsender Bürokratisierung verschwendet wird, für etwas, wodurch nur die Schulden erhöht werden, die Armut jedoch nicht abnimmt.

Gleich ob es gelingt, die Demokratie auf der Erde zu verbreiten oder nicht, schade wäre es, würde denjenigen, die sie um einen hohen Preis errungen haben, die Lust daran abhanden kommen. Es wäre ein Fehler, würden sie sich davon als Kriterium für Entscheidungen entfernen und sich aus Geltungsbedürfnis mit Diktaturen gegen andere Demokratien verbünden. Aus Diktaturen kommend betrachtet der Mensch verdrießlich lächelnd seine Kollegen im Westen, die ihren kritischen Standpunkt gegen ihre eigenen Regierungen oder den Westen als System mit Kritiklosigkeit gegen Nicht-Demokratien verknüpfen. Das Hineinrutschen in die Rolle des strategischen Gegners anderer Demokratien halte ich für ein Anzeichen politischer Verblendung und Werteverwirrung.

Europa trägt Verantwortung. Es muß sich mit der eigenen
kollektiven weltpolitischen Bedeutung abfinden.

Daß letztens die Außenminister dreier europäischer Mittelmächte, dreier maßgeblicher Länder unter Anwendung von Druck im Iran etwas erreicht haben, was den Vereinigten Staaten, der stärksten Weltmacht, nicht gelungen ist, ist beachtenswert. Stärke verlockt zu Drohungen, wodurch die sensible Arbeit erschwert wird. Im Entstehen begriffen ist eine Arbeitsteilung; Militärschläge obliegen Amerika, Europa kritisiert, zögert, erhält den Frieden, beteiligt sich an Hilfsaktionen, jedoch maßvoll, und wird nicht von Wir-Pathos erfüllt.

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Seit dem 11. September 2001 ist so manches geschehen. Beispielsweise hat sich herausgestellt, daß die Rivalität zwischen Washington und Moskau als eines grundlegenden Zivilisationskonflikts und eines bestimmenden Faktors der Weltpolitik endgültig Schnee von gestern ist. Ein Betrachter, der vor dem 11. September ins Schattenreich eingegangen ist, konnte nicht so bildhaft sehen wie wir, was globaler Terror eigentlich bedeutet. Daß dieser Anblick ein Ausgangspunkt für das Denken der Amerikaner geworden ist, ist vorstellbar. Es hat sich herausgestellt, daß die Welt sie nicht für so liebenswert hält, wie sie gedacht haben, und daß sie selbst ihre Unverwundbarkeit überschätzt haben.

Wer kollektiv zum Objekt eines heiligen Krieges wird, der gewinnt Klarheit darüber, daß der eine mit dem anderen etwas zu tun hat. Mit dem Vormarsch des Islams artikuliert sich allmählich die alte und neue Alternative: Der Gegensatz zwischen religiösem und weltlichem Staat, wovon man glaubte, damit sei es vorbei, hat sich erneuert und mit Leidenschaften aufgeladen. Fragwürdig geworden ist das fundamentale Prinzip des demokratischen Rechtsstaats, der die Wahl zwischen Glauben und Unglauben der persönlichen Entscheidung des Staatsbürgers überläßt. Wenn andere öffentliche Angelegenheiten und Privatangelegenheiten miteinander verwechseln, so kann das kein Grund dafür sein, uns an ihre Fersen zu heften. In Rechtsstaaten lebende Schriftsteller wünschen sich nichts weniger, als daß die Literatur das Dienstmädchen der Theologie und mittelbar der Staatsmacht sein sollte.

Nach Beilegung der sowjetisch-amerikanischen Konfrontation schien es eindeutig zu sein, daß die USA die einzige Weltmacht sein würde, die sich behauptet hatte. Wirtschaftlich und kulturell ist Europa ein ernsthafter Rivale, auf militärischem Gebiet jedoch nicht. Stärke ist allerdings nicht identisch mit dem Vernichtungspotential. Auch beharrliche Überlebensfähigkeit ist eine große Stärke. Es hat sich herausgestellt, daß die Stärke nicht nur in den Waffen liegt, sondern auch im Glauben und in den Leidenschaften, weshalb davon überall etwas vorhanden ist. Man kann Schulen betreiben, in denen auch schon die kleinen Jungen töten und Märtyrer sein wollen. Der islamistische Radikalismus ist begeisterungsfähiger als der Westen, ist stärker im Schüren jenes Feuers, von dem die Selbstmordattentäter angetrieben werden. Die Rede ist von einem Todesurteil gegen den westlichen Individualismus.

Jede Epoche hat ihren eigenen Wahnsinn. Vergangen ist die Gefahr des Nazismus, vergangen ist die Gefahr des Kommunismus. Und nun kommt der islamistische Terrorismus, dessen Selbstmordbomben seine heiligen Krieger, die sich selbst vernichtenden Vernichter sind? Eigenartig muß es sein, als lebende Bombe unter anderen Menschen auf dem Markt umherzuwandeln. Die Bombe glaubt, Gott erwarte von ihr die Explosion. Der dem Leben verbundene freie Bürger betrachtet diese Bomben, als wären sie fünfbeinige Lämmer. Studierte Menschen sind sie. Was ist in sie gefahren? Sind sie ergriffen von der Untergrundbewegung der Suche nach einem heiligen Tod? Avantgarde? Elitedivision? Totenkopflegion? Erhält der Terror irgendeine geistige Unterstützung? Soll der Terror ein anerkannter religiöser Dienst sein? Milliarden gegen Milliarden? Sollen wir in den Abgrund schauen?

Gemäß seinen Traditionen setzt sich Amerika schwer in Bewegung, doch wenn ihm plötzlich ein Nasenstüber verpaßt wird, erhebt es sich, blickt sich um. Angeblich hat es Verbündete. Wo sind sie? Doch auch eine andere Philosophie steht ihm im Weg, die erst sagt, mit Drohungen sei etwas zu erreichen, doch sehr viel nicht, weshalb es vielleicht weiser sei, diejenigen, die sich zum Kampf gegen uns rüsteten, zu verführen, statt den Stock gegen sie zu erheben. Amerika war gezwungen zu begreifen, daß der neue Terrorismus keine politische Bewegung ist, die Ziele und Forderungen verfolgt, daß er keine Zugeständnisse will, sondern symbolische Vernichtung, Abschlachtung, Erniedrigung. Verhandeln kann man, wenn beide Seiten gewisse Spielregeln anerkennen. Der amerikanische Präsident ist zu der Schlußfolgerung gelangt, daß man mit Terroristen nicht verhandeln kann. Noch ist es nicht gelungen, mit ihnen eine zuverlässige gemeinsame Sprache zu finden. Darauf zu vertrauen, daß sie sich an die Spielregeln halten könnten, ist nicht gerechtfertigt. Gemeinsame humanitäre Aspekte gibt es nicht. Auch eine Strafe nicht. Denn die Selbstmordkämpfer erlegen sich selbst eine diesseitige, irdische Strafe auf.

Ob sich Amerika und Europa zum muslimischen Glauben bekennen, das ist nicht die Frage, vielmehr geht es darum, ob es in den muslimischen Ländern eine Demokratie geben wird. Auch in der islamischen Welt klopft die Demokratie, wenn auch nicht laut, an die Tür. Wenn sie sich mit Japan und Indien verträgt, warum sollte sie dann mit anderen muslimischen Ländern unvereinbar sein?

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Amerika gehört die Stärke, Europa die Kontemplation? Amerika die Axt, Europa die Schere? Zur Verkettung der Welt gehört die gemeinsame Aufrechterhaltung der Ordnung. Annehmbarer Militarismus bedeutet den Schutz der Menschen, sie gegen anarchische bewaffnete Gruppen zu verteidigen oder gar gegen den eigenen terroristischen Staat. Mit wem bin ich solidarisch? Es gehört sich, mir diese Frage zu stellen: Mit denjenigen, die mehr Freiheit wollen und deshalb verhaftet oder sogar getötet werden, oder mit denjenigen, die an der Spitze von militaristisch, ideologisch, geistlich oder anderweitig bestimmten Diktaturen stehen?

Wenn sich Rechtsstaaten zu Komplizen demagogischer Willkürherrschaften machen, so kann ich daran nichts Achtenswertes erkennen. Sympathie gegenüber postkolonialistischen Diktaturen der Dritten Welt habe ich zu keiner Zeit empfunden, das allein schon deshalb nicht, weil sie groteske Kopien jener zwei Diktaturen sind, die ich Gelegenheit hatte kennen zulernen. Nach meiner Befreiung aus den Trümmern zweier Diktaturen spüre ich nach keiner einzigen davon Heimweh. Und die Parodie davon vermag ich nicht als brandneue Erfindung zu sehen. Man kann Extremismus verschiedenster Art ausbrüten, man kann auf immer wieder neue Weise grausam sein, Angst machen, verdummen. Wir haben verschiedene Despotien gesehen. Trotz aller Unterschiedlichkeit ähneln sie sich bis zur Lächerlichkeit. Wenn von einem x-beliebigen Land die Rede ist, sollten wir nicht versäumen, mit langweiliger Ausdauer zu untersuchen, ob man dort das Regierungs- und Staatsoberhaupt legal kritisieren und ablösen darf, ob es dort Prozesse wegen staatsfeindlicher Hetze gibt, ob dort demagogische Hetze gegen irgendeine Gemeinschaft betrieben wird, gegen ein Volk, eine Religion, eine Menschengruppe, eine Nationalität, eine Klasse, und ob es in den Medien von ihnen heißt, sie seien das Hindernis für das Glück der großen Mehrheit, ja, sogar deren Unglück, Blutsauger, Vampire.

Die bewaffnete Intervention gegen Regime,  die nach außen und innen
Terror anwenden, kann heute keinen Weltkrieg auslösen.

Rechtsstaaten und Tyranneien voneinander zu unterscheiden ist nicht sonderlich schwer. Regime, in denen sich die Regierung äußerer und innerer Kontrolle entziehen kann, wo Schriftsteller und andere Zivilisten als Vergeltung für ihre kritischen Texte eingesperrt werden, wo der Begriff des intellektuellen Verbrechens existiert, wo die Verhaftung fast automatisch mit physischer Folter einhergeht, wo die Führer bei Scheinwahlen immer und immer wieder mit annähernd hundertprozentiger Zustimmung in ihrem Amt bestätigt werden, nun, solche Regime können wir zweifellos als Tyranneien betrachten, die sowohl für die eigenen Staatsbürger wie auch für die Nachbarvölker gefährlich sind.

Es gibt nationale Administrationen, die unwürdig sind, Macht auszuüben. Es wäre gut, würde an Orten, wo Menschen in großer Zahl getötet werden und das von der Regierung entweder nicht zu verhindern oder sie gar selbst dafür verantwortlich ist, die Regierungsgewalt vorübergehend von der internationalen Gemeinschaft überwacht werden, solange es nicht gelingt, einen lokalen Staat aufzubauen, der dem Recht die nötige Achtung bekundet und für seine Durchsetzung sorgt. Eine national-ethnische Gemeinschaft, die nicht über einen solchen Staat verfügt, bedarf einer demokratischen Wende, wenn man so will, einer Revolution. Die Welt und verschiedene ihrer Regionen brauchen eine internationale Ordnungsmacht, die hingeht und Ordnung macht, den mörderischen Apparat von der Oberfläche verschwinden läßt, sobald irgendwo die ungesetzliche Gewalt kulminiert.

Ich kann keine überzeugenden Argumente dafür erkennen, weshalb wir die nationale Souveränität mörderischer Willkürregime respektieren sollten. Wenn es die internationale Gemeinschaft für richtig befand, in Bosnien und im Kosovo die Regierungsverantwortung zu übernehmen, dann könnte es sein, daß auch anderswo solche Schritte notwendig werden. Es ist kein Verbrechen, nach Freiheit strebenden Kräften gegen Diktaturen durch Druck von außen zu helfen. Die Souveränität diktatorischer Regierungen, die den Terrorismus idealisieren, rechtfertigen und insgeheim oder offen unterstützen, kann suspendiert werden. Der Terrorist hat gegen die Person nichts einzuwenden; als Opfer ist ihm auch der Säugling recht. Sollen wir den Selbstmordattentäter, der im Interesse dessen, möglichst viele Menschen ohne Ansehen der Person zu ermorden, auch das eigene Leben aufopfert, als Märtyrer betrachten? Wird das Verbrechen dadurch gemildert, daß jemand im Namen einer vermeintlich hehren Idee tötet? Oder wiegt es gar noch schwerer, weil der Mord mit Lügen überhäuft wird?

Die internationale Aufrechterhaltung der Ordnung ist eine kollektive Arbeit. Man kann sich daran beteiligen oder hinter dem Rücken der anderen verkriechen. Die bewaffnete Intervention gegen Regime, die nach außen und innen Terror anwenden, kann heute keinen Weltkrieg auslösen. Früher genossen Staaten, die den Terrorismus unterstützten, Schutz, denn militärisches Vorgehen gegen sie hätte eventuell zu einem nuklearen Weltkrieg mit der anderen Supermacht führen können.

Was könnte man im Interesse dessen tun, daß ein möglichst großer Anteil der Menschheit in der eigenen Heimat freie und unangreifbare Bürger sein dürfen? Daß in Ländern, in denen die Bevölkerung auf diese ihre Würde verzichtet, Armut, Gewalt und Vernachlässigung herrschen, ist deutlich zu sehen. Freie Länder müssen über eine abgestimmte und in der Weltpresse diskutierte Strategie verfügen. Daß sie Despotien nicht mögen, müssen sie nicht verheimlichen. Jene Strategie, die der Westen in den achtziger Jahren gegenüber dem Osten angewendet hat, ist zu gebrauchen gewesen und könnte fortgesetzt werden. Im Hintergrund lauerte die adäquate militärische Stärke, die einem eventuellen sowjetischen militärischen Abenteuer entgegensteuerte. Für ausgesprochen effektiv halte ich im Rückblick die auf Werten basierende, kommunikative Zersetzung: Radio- und Fernsehprogramme, Büchersendungen, Besuche, Einladungen, normalen Handel, Tourismus, wodurch das Nachrichten- und Redemonopol geschwächt wird, die unter einer Diktatur Lebenden dagegen in ihrem Bestreben, auch selbst vor dem eigenen Staat keine sonderliche Angst haben zu müssen, gestärkt werden. Zersetzung, Übergabe und Austausch von Informationen und Ausbau eines individuellen Beziehungsgeflechts sind kostspielig, aber dennoch billiger als militärische Interventionen und die damit einhergehende Besatzung. Außerdem konzentrieren sich die Bemühungen nicht auf einen einzigen Punkt und ziehen die Kräfte nicht von anderen Flecken der Erdkugel ab.

Diese Strategie ist auch gegenüber dem Sowjetreich erfolgreich gewesen, hat sich als großzügig erwiesen. Ihr Erfolg bestand darin, daß die Gemeinschaft der miteinander in einen Dialog eingetretenen Menschen erweitert worden ist, indem der geschäftsmäßige Verhandlungsstil durch eine radikale Rhetorik ersetzt worden ist. Für ein sehr wirkungsvolles Moment halte ich die Rückmeldung der inneren Kritik in einem Staat, der über seine Medien eine strenge Kontrolle ausübt. Rückblickend glaube ich, der Sender Radio Free Europe ist wirkungsvoller gewesen als das in Reserve angehäufte Raketenarsenal. Er hat den heimischen Demokraten das Wort erteilt, ihnen ein Forum geboten und sie ausländischen Partnern gegenübergestellt.

Ohne Amerika gäbe es heute in Europa keine Demokratie. Wenn jemandem der gegenwärtige amerikanische Präsident nicht gefällt, so lohnt es, sich im Bewußtsein dessen zu beruhigen, daß auch dieser Präsident die Chance hat, daß die amerikanischen Bürger für die Zukunft an seiner Statt einen anderen wählen werden. Was soll ich von einem Europäer halten, der den amerikanischen Präsidenten mehr verachtete als den irakischen, der schrecklich viele Menschen foltern und töten lassen hat?

Auch der Stärkste braucht die Anderen

Größe und Verunsicherung passen zusammen. Die Amerikaner fanden sich mit einer abstrakten Vernichtungsabsicht konfrontiert. Das machte sie betroffen. Als Antwort strahlte ihr Blick Härte aus. Es kommt vor, daß wir auch damit Schuld auf uns laden, wenn wir nicht zurückschlagen und die Schutzbedürftigen - und sei es mit Waffengewalt - verteidigen. Die Amerikaner können sich die Reaktionen der anderen schwerer vorstellen als die Europäer, so sehr sind sie von sich selbst umgeben. Am Zeitungskiosk findest du nur amerikanische Blätter, im Radio hörst du nur amerikanische Stimmen. Die Rückmeldungen der Umwelt nicht zu bemerken ist in Europa schwieriger. Diese Fähigkeit könnten wir vielleicht als Wahrnehmung der Nachbarschaft bezeichnen. Legen wir von Budapest eine kurze Autostrecke zurück, befinden wir uns bereits außer Landes.

Es kann vorkommen, daß wir uns zwischen internationalem Recht und fundamentalen Menschenrechten entscheiden müssen. Für mich bestand die Frage nicht darin, über welche Mengen an Waffen von dieser oder jener Art der irakische Diktator verfügte, sondern darin, ob er seine Untertanen  und die Nachbarn töten läßt oder nicht. Die Besetzung Afghanistans und des Irak kann auch als Präventivschlag angesehen werden, als Beispiel dafür, daß äußerer und innerer Terror Bestrafung nach sich zieht. Geschlossene Systeme müssen geöffnet, Fenster und Türen darin eingebaut werden.

Den Polyzentrismus abzulehnen und den Monozentrismus mit aller Macht zu wollen, ist ein vergeblicher Ehrgeiz. Auch der Stärkste braucht die anderen. Auch die urbane Gesellschaft besitzt mehrere Köpfe, Verdichtungen, autoritäre Zentren. An vielen Orten sehe ich Elitegipfel, Gipfel, wie vom Flugzeug aus das Gebirge. In Wirklichkeit geht kein wirtschaftlicher und kein militärischer Wettbewerb vor sich, sondern ein geistiger. Wer sieht die Welt genauer? Europa wird ausnutzen, was es hat, seine pluralistische geistige Kapazität. Europa wird gezwungen sein, seine Vielfalt zu mögen, denn darin besteht die Stärke des mehrgeschossigen Menschen gegenüber dem ebenerdigen Menschen. Davon aber, was wir von der Gedankenfreiheit gelernt haben, dürfen wir uns für keinen einzigen Augenblick abwenden, denn daraus würde nur Schande und Lächerlichkeit resultieren.

Europa hat in der Welt genug zu tun, wenn es seinen Beruf ernstnimmt, denn es kann nichts anderes geben als sein Wesen, sein Wissen, das es gefiltert, wofür es gelitten hat. Nicht nur von der gemeinsamen Herausforderung ist die Rede, sondern auch von der Chance des gemeinsamen Projekts. Weder Amerika noch Europa können es sich auf Dauer erlauben, gegeneinander zu arbeiten. Daß dieses Verhältnis absolut nicht einfach ist, das allerdings ist eine Tatsache. Beispielsweise auch deshalb nicht, weil Amerika als einziger großer Nationalstaat anzusehen ist. Vergebens drückt auch schon sein Name einen Plural aus, die Entscheidung einer Regierung und eines Präsidenten artikuliert den Willen des Ganzen. Das vielköpfige Europa muß erst seine vielen Köpfe zusammenstecken. Eine zeitaufwendige und schwungmindernde Prozedur. Das Später bedeutet kein Niemals.

Die Staaten nehmen eine Haltung an, die zu ihrer Größe passend ist. Den Bürgern großer Staaten ist ebenso anzusehen, daß ein großer Staat hinter ihnen steht, wie den Bürgern kleiner Staaten, daß ihre Heimat klein ist. Sowohl der eine als auch der andere besitzt seine eigene charakteristische Mentalität und damit einhergehende Verhaltensmuster. Ich würde mich nicht auf eine Prophezeiung einlassen, daß es keine Zeit geben wird, in der die Unterschiede den anderen nicht nervös machen könnten.

Bürger eines kleinen Staates zu sein, bedeutet etwa, daß wir von unserer Kleinheit viel reden, Angst haben, sie könnte ländliche Zurückgebliebenheit bedeuten. Niemand sollte den Kleinen für provinziell halten; wir trösten uns mit unserer inneren Tiefe und den rätselhaften Intimitäten. Oder wir prahlen gar. Schön am Großen ist meiner Meinung nach, daß es groß ist, schön am Kleinen, daß es klein ist. Und fast ist das tatsächlich so, nur daß dem Großen seine Größe seltener auf den Geist geht als dem Kleinen seine Kleinheit. Die Kleinheit, das Unterlegensein, das Zurückrutschen zu den Schwächeren ist ein kaum zu vergessender Grund, um beleidigt zu sein. Aber auch die Größe, sollte der Große nicht entsprechend seiner Größe behandelt werden.

Daß die europäischen Verbündeten hinter dem Rücken Amerikas immer verdrießliche Bemerkungen machen werden, ist logisch. Und in der Natur der Sache liegt es auch, daß den amerikanischen Partner das ironisch herablassende Benehmen der Europäer verletzt. Die Beziehung wird nie ganz ungetrübt sein, denn der Raumkultur erscheint die Zeitkultur immer beengt, während der Zeitkultur die Raumkultur immer formlos erscheint. Doch daß die vergleichende Kulturforschung erhebliche Unterschiede wahrnimmt, ist kein Grund, daß wir einander den Rücken kehren.

Ein zwei Meter großer und auch in seiner Kunst groß zu nennender amerikanischer Romancier sagte in Paris in der Aula der Sorbonne: "Schon immer war ich ein großer Freund Frankreichs und der französischen Kultur." Das hätte ein finnischer, ein griechischer, ein österreichischer oder ein ungarischer Romanautor nicht ohne das Risiko der Lächerlichkeit sagen können. Worüber ich mich auch freuen kann. Jeder ist mit dem zufrieden, was er hat.

(Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke)