Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 2006

György Konrád

Budapest 1956

Zum 50. Jahrestag

„Wo waren Sie am 23. Oktober 1956, und was haben Sie am 4. November 1956 gemacht?” fragte mich zu Anfang der neunziger Jahre in einer Kleinstadt eine junge Journalistin, die mit ihren Gedichten, Reportagen, Leitartikeln und Nachrichten aus dem gesellschaftlichen Leben das Wochenblatt ihrer Kommune füllte. Am 23. Oktober hatte ich keine Waffe in die Hand genommen, am 4. November dagegen schon. Doch warum das so gewesen war, darauf wußte ich so plötzlich keine Antwort.

Am ersten Tag der Ereignisse erinnere ich mich an einen schönen, hellen Vormittag. An dem Tag hätte die erste Nummer der neu herausgegebenen Monatsschrift für Literatur und Politik -Életképek, zu deutsch Lebensbilder - erscheinen sollen, in deren Redaktion ich als Volontär tätig war. Ich saß in einem Eckzimmer der Andrássy út, niemand außer mir war zugegen, die anderen waren zu irgendeiner Versammlung gegangen. Es mochte gegen zehn gewesen sein, ich gewährte mir noch einen Aufschub, bevor ich mich an die Lektüre dilettantischer Manuskripte gesetzt hätte. Eine tiefe Schublade steckte voll von Gedichten rundköpfiger Lohnbuchhalter und den Leidensgeschichten schnurrbärtiger Tierärzte. Ein ansehnlicher Lebenslauf begann etwa so: „Wir waren zu zehnt und hungerten oft.” Jeder Stellen- oder Studienbewerbung mußte ein Lebenslauf beigefügt werden. Schon im zweiten Satz hatte die präzise Angabe zur Klassenzugehörigkeit der Eltern zu stehen. Ich begann für gewöhnlich so: „Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie.” Deshalb gelangte in den Namenslisten von Schule und Universität neben meinen Namen der Buchstabe X. Was bedeutete: klassenfremd, unzuverlässig, kann gerade noch geduldet, doch gemäß lokalen Beschlüssen auch relegiert werden. Bei den anderen einladende, anständige Buchstaben: A für Arbeiter - gleich Elite, B für Bauer - auch gut, aber nicht so sehr, AG für Angestellte - weder kalt noch warm, I für Intelligenz – muß noch überprüft werden. Aber X! Verdächtig allein schon wegen der Form des Buchstabens. Ein anständiger ungarischer Name fängt nicht mit einem X an, das X ist ein kosmopolitischer Buchstabe. Ich war ixig, ein schädliches Element, was mir keine Neuigkeit war. Auch früher schon hatte ich Buchstaben neben meinem Namen stehen: entweder ein J. oder die drei Lettern Isr., je nachdem, ob sie es für notwendig erachteten, meinem Namen die schroffere Anmerkung „Jude” oder die sich zierende „Israelit” hinzuzufügen, sie, die willfährigen Zusammensteller von Namenslisten, die zur rechtschaffenen und zuverlässigen Mehrheit gehörten und vielleicht sogar ihre Freude daran hatten, die Bösen in ein Register aufzunehmen.

  Plötzlich fand ich mich im Demonstrationszug wieder, ich war vom Gehweg heruntergetreten und hatte mich den Jugendlichen zugesellt, die mir mit ihren damals schmaleren Köpfen ähnelten. Manche hakten sich unter und warteten an jeder Straßenecke darauf, daß der Staatsschutz anrücken und die Marschkolonne auseinandertreiben würde. Viele lehnten sich zum Fenster heraus; neugierige, erschrockene, ermutigende Gesichter. Der Zeitungsverkäufer verließ seine Nische; die Zeitung zog durch die Straßen. Mit einer Fahne in der Hand durfte man auch bisher schon durch die Stadt ziehen, allerdings nur an staatlichen Feiertagen, um vor der Tribüne die Parteiführung hochleben zu lassen. Ein Naturwunder, wie sich die Bevölkerung innerhalb einer Stunde in ein Volk verwandelte. Schluß mit der Erstarrung, wir haben sehr wohl ein Recht auf die Straße. Eigenartig, nun haben sie Angst vor uns und nicht wir vor ihnen. Auf ein Blatt Papier kannst du schreiben, was du willst, und an einen Baumstamm heften. Eine Rhetorik ist zusammengebrochen. Aufruhr der Sprache, ein jeder ist Journalist, die ganze Stadt eine einzige Wandzeitung. Volksfest der Unbotmäßigen. Was gestern noch verboten war, das ist heute erlaubt, einzig deshalb, weil wir es tun und niemanden um Erlaubnis fragen. Die vielen ängstlichen einzelnen haben sich zusammengerottet, rufen verschiedene Losungen und ermuntern sich so gegenseitig zu mehr Selbstvertrauen. Der erotische Zauber der Masse verführt die Polizisten, denen nicht im Traum einfällt zu schießen, sie verschmelzen mit den anderen. Die eigenen Worte lehnten sich gegen das Regime auf: Revolution, das galt in der Schule als ein schönes Wort, nun bitte, da habt ihr sie. Auch für das Volk kommt einmal seine Stunde. Für wen immer andere gesprochen haben, der will nun etwas sagen. Das ist keine Stunde der Nüchternheit. Daß sie lügen und wir applaudieren, das ist der Lauf der Dinge. Wenn das Volk die Herrschaft der Lügner ablehnt, dann ist es ein Feind der Volksmacht. Doch jetzt wird dies von einer ziemlich großen Menge ausgesprochen. Gesindel! Geht nach Hause! Sie gehen nicht. Warnschüsse. Die Menschen schießen zurück. Die Monster sind gegen die Kugeln gefeit. Alpdrücken! Binnen weniger Stunden löst sich alles, was über Jahre naheliegende Ordnung der Dinge gewesen ist, in nichts auf.

  Unter leichtem Vorbehalt bin ich in der Menge mitgetrottet. Zwar gab es Gründe dafür, dabei zu sein, doch ich bin schon zu den Demonstrationen am 1. Mai zusammen mit Hunderttausenden aus Zwang und auch aus Höflichkeit mitmarschiert. Unter den Organisatoren des jetzigen Umzugs befand sich manch einer, der auch schon zu meiner Gymnasialzeit mit begeisterndem Eifer an der Seite der Marschkolonne entlanggehastet war und von Zeit zu Zeit gerufen hatte: Ein Lied! Oder die erste Zeile eines politisch gerade linientreuen Liedes angestimmt hatte. Auch jetzt waren sie zur Stelle. Von einem Auto aus dirigierten sie die Menge, verhielten sich wie Eingeweihte. Diesmal allerdings tauchten auf Schritt und Tritt tonangebende Neulinge auf und rückten mit ihren Ideen heraus. Wer die Neigung verspürte, sich als Produzent von Losungen hervorzutun, der stieß auf ein dankbares Publikum. Gleich ob er ein kleines Gedicht oder einen ungeschickten Reim kreierte, seine Invention fand Verbreitung. Doch das reichte nicht, etwas mußte getan, angezündet, niedergerissen werden! Zuvor hatte es auch in Posen Feuer gegeben. Ist ein anständiger Bauernaufruhr vorstellbar, ohne daß ein Schloß in Brand gesetzt wird? Über die rot-weiß-grüne Fahne herzufallen und in der Mitte das Wappen mit Ährenkranz, Hammer und fünfzackigem Stern herauszuschneiden oder herauszubrennen, war eine relativ billige Lösung. Doch daß die restlichen Teile der Fahne unversehrt blieben, während das runde Wappen herausgebrannt wurde, dazu bedurfte es eines gewissen Sachverstands. Jedes Handwerk hat seine geschickten Hände. In solchen heftigen Szenen fühlte ich mich nicht heimisch, ebenso wie ich auch zuvor nicht die Rundtänze lauter Lächelns auf dem Flur der Universität ertragen hatte. Mich machte der Kollektivkult nicht trunken, von meinen Kommilitonen, die sich lautstark in einer Aktion vergessen hatten, zog ich mich zurück. Die Erinnerung an die Umzüge bündelte sich in mir, auch die, von denen ich abgehauen war; sie machten eine Mehrheit aus. Jetzt machte ich mich nicht aus dem Staub. Es kam vor, daß einer eine Weile mitmarschierte, dann gefiel ihm die Sache nicht, und er kehrte der Marschkolonne den Rücken. Die Straßenbahn stellte ihren Betrieb ein, vom Bürgersteig winkten alte Frauen und Babys im Kinderwagen. Am lautstärksten und begeistertsten waren diejenigen, die auch schon 1949 bei der kommunistischen Machtübernahme, den Verstaatlichungen und dem Ausbau der absoluten Macht laut und begeistert gewesen waren. Der Dichter macht große Gesten, mit wohltönender und tiefer Stimme ruft er: „Leute, das ist eine Revolution!”

Ich würde mich eher als geduldig bezeichnen, keineswegs als kämpferisch oder gar revolutionär. Meine Einfalt geht allerdings mit Eigensinn einher. Die Maschinenpistole trug ich eher wie ein Bürger seinen Regenschirm, der ja gebraucht werden könnte, sicher ist sicher. In meiner Erinnerung an die zum Sturz des Regimes führenden Demonstrationen wechseln Bilder von Unbeholfenheit mit religiös weihevollen Bildern einander ab. Die einst winzige, fast nicht existierende Opposition schwillt zu einer mächtigen und angsteinflößenden Kraft an. Es bedarf kaum einer Organisation, die Menschen kommen von selbst auf dem Platz zusammen, ein inneres Gebot beordert sie dorthin. Es gibt Helden, die in solchen Zeiten die Fahnenstange umklammern, sich vor die Gewehrmündungen stellen, das Hemd aufknöpfen und mit entblößter Brust schreien: „Schieß, wenn du es wagst!” Solchen Situationen bin ich ausgewichen. Jedenfalls konnte ich die Erfahrung machen, daß es Wellen gibt, in denen die natürliche Angst um das Leben abnimmt, die Menschen heiter und berauscht hinab ins Nichts steigen, Mütter mit Kindern die Fahne durch den Kugelhagel tragen. Die Revolution ist ein Fest freiwilliger Opfer. Kein normales Phänomen. Obwohl geschossen werden, obwohl es sogar ein Salvenfeuer geben könnte, versammeln sich viele Menschen auf dem Platz. Und dann beginnt das symbolische Tauziehen. Wer ist entschlossener, wer moralisch stärker? Und siehe, am einen Ende ziehen zusehends mehr, am anderen zusehends weniger. Das Gleichgewicht kippt. Ansonsten vorsichtige Menschen harren mit todesverachtendem Mut auf dem Platz aus, verströmen eine festliche Stimmung. Auf dem Platz stehen, das genügt nicht. Es gilt, von einem Symbol zum anderen zu ziehen, Statuen umzustürzen, Gefängnistüren zu öffnen, die Nachrichtenzentrale zu besetzen, Druckmaschinen, das Rundfunkgebäude, das Fernsehen, die Knotenpunkte der Netzwerke. Vom Balkon aus werden Fahnen geschwenkt, und ein humanistischer Wissenschaftler wird hinausgedrängt, um beim Anblick der versammelten und erhitzten Menge erhabene Sätze zu formulieren, wie er es noch nie zuvor getan hat.

Am Tag nach dem Ausbruch der Revolution machte ich nichts Besonderes. Ich saß zu Hause, sprang von einem Radiosender zum anderen, die Nachrichten schwankten hin und her. Ich versuchte, Rechenschaft über den vorangegangenen Tag abzulegen, kaufte Brot und Fleisch ein, für das Kind legten wir eine Milchpulverreserve an, ich suchte den Schriftstellerklub auf, wo ich wegen einiger geschriebener Kritiken Zutritt hatte, von wo ich ein Stipendium erhielt und wo an dem Tag Konserven verteilt wurden. In einem Redaktionsraum klammerten sich vier Männer an die vier Ecken eines Tisches, alle hatten sie einst dahinter gesessen, alle waren sie aus politischen Gründen entlassen worden, alle besaßen sie einen Anspruch auf diesen Schreibtisch. Am dritten Tag gelang es mir, einem aus dem Fenster springenden Wahnsinnigen und einem Salvenfeuer auszuweichen. Um den Verstand zu verlieren, genügte es, Tragbahren zu schleppen. Am vierten Tag ging ich zur Universität, und als ein junger Dichter und Übersetzer schreiend über den Flur rannte: „Jungs! Wer will eine Maschinenpistole haben?” meldete ich mich, und bald darauf stützte ich mich mit meiner MP als Mitglied der aus Studenten sich organisierenden Nationalgarde mit den Ellenbogen auf das Führerhaus eines offenen Lastwagens. Zusammen mit meinen Schriftstellerkollegen, die alle um die zwanzig waren, hätten wir die Redaktion unserer Monatszeitschrift für Literatur und Politik von den Alten übernehmen können, den über Dreißigjährigen. Mein Chefredakteur hatte sich in den Sessel des Ratsvorsitzenden von Budapest gesetzt, das Mehrparteiensystem wurde installiert, wir traten aus dem Warschauer Pakt aus, und es hatte schon den Anschein, daß auch die sowjetischen Truppen abziehen würden, als sie mit weiteren viertausend Panzern einmarschierten und mit ihren Kanonen dorthin feuerten, von wo aus Maschinenpistolen auf sie geschossen wurde, im weiteren Verlauf auch dorthin, von wo niemand auf sie schoß, einfach nur so, um der Sicherheit willen, oder weil es dem Soldaten so gefiel. Generalstreik, permanente Ferien, ein auf die ganze Stadt sich erstreckendes Theater. Wenn sich ein Junge oder ein Mädchen unerwartet dabei ertappten, daß sie ein Gewehr oder eine Tragbahre in der Hand hielten, dann kam ihnen nicht die Zukunft in den Sinn, sie lebten in einer komprimierten Gegenwart, dachten weder an Ruhm noch an Gefängnis. Unter den Kämpfenden waren die aus dem Bergbau gekommenen Sträflinge vielleicht am mutigsten, wie im allgemeinen die aus dem Gefängnis Befreiten, die manchmal sogar noch Häftlingskleidung trugen. Und einige Jungen und Mädchen auf dem Platz, aus den Anstalten heimgekehrte Fürsorgezöglinge. Möglicherweise ist das Jahr 1956 das denkwürdigste meiner Jugend: das plötzliche Schwinden der Angst und die unerwartete Ermutigung. Gehpelze, Persianerkragen, mit Litzen und Tressen besetzte Wintermäntel, alte Husarenuniformen; im Vorzimmer des Ratsvorsitzenden beziehungsweise Oberbürgermeisters waren verschiedenste Trachten anzutreffen. In der Mitte im ersten Stock des Rathauses, im Zimmer des Ratsvorsitzenden, saß mein Chef, der designierte Chefredakteur unserer noch nicht herausgegebenen Zeitschrift, der mit ausladenden Armbewegungen gestikulierende Dichter. Er hatte einfach im Ledersessel hinter dem Schreibtisch des Vorsitzenden Platz genommen und war der erste Mann der lokalen Macht geworden. Unser gemeinsamer Freund, der hervorragende Ethnologe, ließ die um irgendeine Genehmigung Nachsuchenden gemäß einer unergründlichen, rätselhaften und respektablen Logik vor. Der Chefredakteur rief den bisherigen Ratsvorsitzenden an: Es sei besser, wenn er zu Hause bliebe, es werde ihm nichts passieren, zu seinem Schutz wolle er ihm einen mit einer Maschinenpistole bewaffneten Nationalgardisten schicken, einen Studenten wie mich. Der Chefredakteur erteilte den Sekretärinnen Anweisungen und nahm den Stempel in die Hand, als wäre er der Chef des Rathauses. Das wurde allgemein zur Kenntnis genommen. In seinem Vorzimmer wimmelte es von Fremden, alle warteten sie auf eine mit Stempeln versehene Genehmigung, um eine Partei gründen, Geld für die Anfangskosten bekommen und ein Auto, ein Gebäude und was sonst noch alles, worauf man Anspruch erheben kann, beschlagnahmen zu können. Die bewaffnete Jugend priesen sie mit honigsüßen Worten, den frischgebackenen Redakteur, der seine Maschinenpistole unter dem Stuhl verstaut hatte und geduldig auf den drinnen sitzenden Potentaten wartete, mit dem er über ihre Literaturzeitschrift sprechen wollte. Die Herren bekamen ihren Stempel, ich aber konnte beobachten, zu welchem Mantel welche Rhetorik gehörte. Ohne die beharrliche Tollkühnheit der Draufgänger von der Straße hätten sich die Herren dort im Vorzimmer nicht so hoffnungsvoll herumdrücken können. Die Familienväter, die sich von ihren Einzimmerwohnungen auf den Weg in die Fabriken gemacht hatten, mußten viel geschluckt haben, bevor auch sie sich überraschend zu den Straßenkämpfern gesellten. Nicht zu vergessen auch die Szenen jenen Tages vor dem Budapester Parteigebäude: das Aufhängen der auf der Erde liegenden, halbnackten, mit Füßen getretenen, bespuckten, durch Kugeln und Schläge zu Tode gekommenen Körper. An den Füßen mit dem Kopf nach unten. Die Opfer der Lynchjustiz waren meist Männer des Staatssicherheitsdienstes. Sie mußten dafür zahlen, daß ihre Zentrale so furchteinflößend gewesen war. Doch wenn ich den Toten ins Gesicht sah, hatten diese Überlegungen im Hinblick auf sie keinen Sinn. Alle möglichen umherschwirrenden Helden umringten mich, mit Handgranaten unter dem Gürtel und einer geschulterten Maschinenpistole. Ich verließ den Schauplatz des Geschehens, stahl mich davon.

Um ein starkes Getränk zu mir zu nehmen, ging ich in ein Espresso. Am Klavier saß eine ältere Dame; ihr platinblondes und hoch aufgetürmtes Haar war so vollkommen, als befänden wir uns inmitten der schönsten Friedenszeit. Draußen Getrappel von Füßen, ein Mensch rannte, mehrere liefen ihm hinterher, und an einer Kellertreppe erschossen sie ihn. Im Universitätsgebäude kam mir auf dem Flur mein Lieblingsdozent entgegen, wir blieben für einen Moment stehen: "Humanisten mit Maschinenpistolen?" fragte er. "In Wendezeiten schon. Sicher ist sicher", entgegnete ich, und keinem von uns war ganz klar, wie das zu verstehen war. Abends auf dem Nachhauseweg, eine Armbinde der Nationalgarde tragend und die Maschinenpistole geschultert, baten mich mehrere Frauenzimmer um die Freundlichkeit, dort im zweiten oder dritten Stock, den oder jenen umzulegen, ja, genau dort in jener Eckwohnung. Der volkstümlichen Sehnsucht danach, jemanden hinzurichten, erwies ich mich nicht als gefällig. Ich ging nach Hause, um Radio zu hören, um Erasmus und Tolstoi zu lesen. Auf dem Lenin-, dem heutigen Theresien Ring, fand ich vor der Horizont Buchhandlung Tolstois Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre im Müll. Unter den hinausgeworfenen Büchern, die ihrer Einäscherung harrten, fischte ich dieses hervor; einige Jahre später erschien es unter meinem Lektorat in einer neuen Ausgabe im Ungarischen Helikon Verlag. Daß ich ein wild entschlossener Freiheitskämpfer gewesen wäre, das wäre eine starke Übertreibung. Warum aber wollte ich dann eine Maschinenpistole haben? Dieses pubertäre Verlangen mochte ein Überbleibsel aus der Kriegszeit und den darauf folgenden Jahren gewesen sein. Manchmal stellte ich mir vor, im Treppenhaus würde ein bewaffneter Trupp hochhasten, um uns zu liquidieren. Aus welcher Ecke der Diele würde ich wohl am effektivsten feuern können? Ich zielte ziemlich genau; während der kurzen Ausbildung beim Militär hatte ich sogar den Titel eines Meisterschützen verliehen bekommen. Vera, meine Frau, fand in diesen Tagen Freude am Kochen; auf den Tisch kam eine ausgezeichnete Bohnensuppe mit Nockerln und geräucherter Knackwurst. Vera gab sich mit den Nachrichten zufrieden, die aus der Nachbarschaft und dem Freundeskreis durchsickerten, und verspürte keine allzu große Lust, zusammen mit mir durch die Stadt zu streifen, wo es vorkommen konnte, daß einer mit einem Brot unter dem Arm dasteht und dank einer Panzerkanone einfach nur so sein Kopf verschwindet, während er noch immer dort steht und das Brot an sich drückt. Mir fiel der Körper eines Huhnes ein, das umherflitzte, nachdem ihm der eine Gehilfe schon den auf den Rumpf plazierten Kopf mit der Axt abgehackt hatte.

Ich ging durch die Straßen, in denen sich binnen kürzester Zeit viel Staub und Müll angesammelt hatten. Ich las die überall angeklebten und mit Reißzwecken befestigten Aufrufe. Mehrere forderten entschlossen den restlosen Abzug der sowjetischen Truppen. Und nicht genug damit, daß sie das Land verlassen würden, an jeder Eisenbahnstation sollten sie das heldenmütige ungarische Volk um Verzeihung bitten, das sie mit ihrer unbegründet lange sich hinziehenden Gastrolle und den kürzlichen Schießereien, was uns an das russische Niederwalzen des Freiheitskampfes von 1849 erinnert habe, häßlich beleidigt hätten. Auch im Espresso an der Ecke hörte ich ungestüme Reden. Der Träger eines Mantels mit Persianerkragen  versprach Konrad Adenauers Kommen. Hätte der Überbringer dieser Nachricht doch nur nicht hinzugefügt, daß der Kanzler auf dem Rücken eines Schimmels eintreffen werde. Noch bevor ich nach Hause gegangen wäre (hier und da funktionierte das Telefon, und ich besaß genügend Münzen), informierte ich Vera wie ein Reporter darüber, was ich gesehen und gehört hatte, und suchte den Schriftstellerverbnd auf, wo auch jetzt noch reges Treiben herrschte. Delegationen kamen und gingen, Botschaften informierten sich, es trafen die Mitglieder ein, ein junger Erzähler behauptete, eine Erzählung geschrieben und zwei sowjetische Soldaten erschossen zu haben. Als Begleitmusik zu dieser Behauptung ließ ein älterer Dichter gemäß seiner eigentümlichen Kunst einen skeptischen Furz fahren. Vom Vorstand strömte das Gefühl der Wichtigkeit nach außen: Dort wurden Vorbereitungen getroffen, um eine Erklärung abzufassen und zu veröffentlichen. Ehern und samtweich mußte sie sein, wohlklingend und wie eine Bombe einschlagen: ein Meisterwerk also. Im Restaurant diskutierten einige darüber, wie weit man zurückgehen müsse. Bis zur Einführung des Einparteiensystems, bis 1949 also? Bis 1945, bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen? Oder noch weiter zurück? Bis zum Einmarsch der Deutschen? Oder noch weiter zurück? Wo sollen wir Fuß fassen? Welches ist ein zuverlässiger Ausgangspunkt? Wie weit sollen wir uns zurücktrollen? Sollte es aber keinen geben, könnte dann nicht dieser heutige revolutionäre Tag der Beginn einer neuen Zeitrechnung sein? Der heutige Tag mit seinem Rausch, seiner Wichtigtuerei, der Vorführung und dem Bespucken von Toten? Wieder Tote auf dem Bürgersteig; die Befreiung geht Hand in Hand mit dem Morden. Der eine Reporter hatte Informationen vom Abzug der sowjetischen Panzer, ein anderer wußte es genau umgekehrt, nämlich daß sie kämen. Die Eisenbahner meldeten, auch auf Rädern würden die Raupenfahrzeuge landeinwärts rollen. Woraufhin der Alte, worunter Imre Nagy zu verstehen war, der Ministerpräsident, nur abwinkte und sagte, den Worten der Eisenbahner müsse man keinen Glauben schenken, die würden immer die gut informierten Eingeweihten spielen. Auch er habe einen älteren Vetter bei der Bahn, na ja, wenn von dessen Geschichten jede dritte wahr sei, dann habe Onkel Imre schon viel gesagt. Am letzten Abend, dem 3. November 1956, am Sonnabend, gingen wir zu Fuß zu meinen Eltern zum Mittagessen. Straßenbahnen fuhren keine, bei einer Tasse Kaffee politisierten wir mit meinem Vater, dann hatten wir es eilig, um noch vor der Ausgangssperre nach Hause zu gelangen. An jenem Tag hatte mich eine zuversichtliche Stimmung erfaßt, wir waren eine neutrale, parlamentarische Demokratie geworden, ich durfte mit meinen Zeitgenossen unsere Zeitschrift machen.

Als Ferenc Méreis Leibwächter leistete ich noch ein bis zwei Tage Nationalgardistendienst, hernach, nur noch Träger meiner Maschinenpistole, suchte ich Budapests öffentliche Plätze auf, einige Redaktionen, den Künstlerklub Fészek (Nest) und den Direktor des Zeitungsverlags, ein freundliches rundliches Männchen, der mich sogleich empfing. Beim Betreten des Zimmers hing ich meinen langen, schweren und grell dunkelblauen Mantel, den ich überraschend billig in einem Kommissionsgeschäft hatte erstehen könnnen, am Kleiderständer auf und daneben wie einen Regenschirm die Maschinenpistole. Befreit von der doppelten Last trug ich enthusiastisch den verheißungsvollen Plan zur Erneuerung unserer Zeitschrift vor. Auch mich selbst hatte ich davon, was ich dem Generaldirektor vortrug, überzeugt. Schon stellte ich mir vor, daß Genosse Ács, beeindruckt von meinen Worten, eine Auflagenhöhe von fünfzigtausend Exemplaren und den Offsetdruck versprechen würde, da er unter den fusionierten Blättern unseres als das erfolgreichste beurteilte, unsere Zeitschrift, die am dreiundzwanzigsten Oktober hätte erscheinen sollen, wäre nicht an diesem Tag die Revolution ausgebrochen, wodurch die Ereignisse weit über den Wagemut der ersten Nummer hinausgingen, weshalb wir uns mit einer revidierten neuen Ausgabe hätten melden müssen. Erfüllt von kreativer Zufriedenheit standen wir uns gegenüber, Genosse Ács und ich, sahen zum Eckfenster im ersten Stock des New York Palastes hinaus auf die Ringstraße. Dort versuchten die Leute der Verkehrsbetriebe, die Straßenbahnstrecke instandzusetzen, eine verbogene Schiene geradezubiegen. Wir beobachteten die Arbeit; Genosse Ács kam in Fahrt: "Sehen Sie, mein junger Freund, das habe ich gern, wenn gebaut und nicht geschosssen wird." Mir ging es damit ebenso. Ich sehe nicht einmal gern zu, wenn ein Fasan oder ein Hase getroffen werden. Wie sollte ich es dann mögen, wenn ein Mensch oder eine Mauer zur Strecke gebracht werden und anstelle funktionierender Objekte nur staubiger Schutt bleibt? Mit umgehängter Maschinenpistole besuchte ich den Direktor des Zeitungsverlags, und der entsprach allen meinen Bitten. „Ja, natürlich, wir werden das Blatt in sechzigtausend Exemplaren auf den Markt bringen.

Wir hatten einen familiären Abend, eine neue Wirklichkeit bildete sich heraus: Es gab schon Parteien, Zeitungen und Politker der verschiedensten Schattierungen, das ganze funktionierte bereits von selbst, meine Maschinenpistole würde ich nicht mehr benötigen, dennoch war es beruhigend, daß sie sich dort im Bettkasten befand. Würde jemand im Morgengrauen an die Tür pochen, könnte ich so mit der Waffe in der Hand ruhiger danach fragen, wer da sei. Als Budapest im Morgengrauen des 4. Novembers 1956 vom Geschützdonner der Kanonen aufgeschreckt wurde, lag ich an Veras Seite in dem neben der Küche gelegenen kleinen Zimmer, früher auch Mädchenkammer genannt, in dem schmalen Bett. Vera mochte gegen drei aus dem gemeinsamen großen Zimmer gekommen, vielleicht weil sie fror und nicht verstand, wo ich abgeblieben war, und zu mir unter die Bettdecke gekrochen sein. Die Nacht zuvor hatte ich etwas geschrieben, verwundert darüber, warum etwas, wie beispielsweise das Regieren in einem Mehrparteiensystem, das so viele Jahre nicht natürlich gewesen zu sein schien, mir jetzt natürlich vorkam. Sollte meine Phantasie zu schwach gewesen sein? Halten wir nur das Mögliche für natürlich? Mit starkem Tee hatte ich mich wach gehalten, auch ich fror und versuchte, mich an Vera schmiegend, einzuschlafen. Die alte Couch hatte eine Kuhle, die uns besonders nahe zueinander brachte. Sollten mich Bewaffnete abholen wollen, würde ich schießen, stellte ich mir in der Dunkelheit vor, während ich Vera umschlang.

Auch der Moment des Aufschreckens ist identisch. Frauen und Männer stützen sich gleichermaßen im Bett auf, die Männer geben sich fachkundig, jawohl, Panzerabwehrkanonen des T 54. Dann stellen alle das Radio an und hören sich an, was Jahrzehnte später in jedem Zeitungsartikel zitiert werden wird: „Die sowjetischen Truppen dringen in unser Land ein, mit der offensichtlichen Absicht, die rechtmäßige Regierung zu stürzen. Wir sind an unserem Platz. Unsere Truppen befinden sich im Kampf.” Im Dienstmädchenzimmer herrschte noch Dunkelheit, Aneinanderkuscheln, denn Vera wußte schon, woran ich dachte, noch bevor ich es gedacht haben würde. Wenn unsere Truppen kämpfen, dann springen wir zwar nicht, aber taumeln aus dem Bett. Noch konnte ich nicht wissen, daß sich die rechtmäßige ungarische Regierung, wenn ich die Wohnung verlasse, bereits in der jugoslawischen Botschaft befindet. Vera wußte schon, daß ich nicht untätig bleiben konnte, daß ich mich auf den Weg machen mußte, wenn das Vaterland ruft, weshalb es angebracht war, daß wir uns umarmten, das stand uns zu, denn dort draußen wurde geschossen, auch wenn nicht in unserer unmittelbaren Umgebung. Kluge Leute blieben im Bett, sofern sie nicht die Neugier hinaus zu unbekannten Abenteuern trieb. Bessere Leute machen sich frisch gebadet in sauberer Unterwäsche mit einem weich gekochten Ei und einer Tasse Tee im Bauch auf in die Schlacht. Mit umgehängter Maschinenpistole trottete ich durch das Treppenhaus, wo noch niemand seine Nase hinaussteckte. Hinter einigen Wohnungstüren waren Geräusche zu hören, und dann, als ich vorbeiging, auch knarrende Dielen, während die Gucklöcher auf und zugemacht wurden. Auf der Straße den Blick nach links gerichtet sah ich sogleich eine Panzerkolonne, die über die Ringstraße zog. Eine nicht enden wollende Armada von Panzern ratterte von Ost nach West. Ich zog mich unter die Arkaden des Hauses zurück, doch dann ging ich doch in Richtung Ringstraße. Vom Hausflur aus sprach mich ein Mann an und zog mich zu sich herein. „Wenn sie dich mit der Maschinenpistole sehen, schießen sie dich zusammen.” Wozu eigentlich muß ich unbedingt eine Waffe mitnehmen? Im Universitätsgebäude stehen die Maschinenpistolen kistenweise herum. Vorläufig muß ich erst einmal dorthin gelangen. Ich brachte die Waffe nach Hause und verstaute sie im Bettkasten. Ich bekam noch einen warmen Tee, steckte Maurice Merleau-Pontys Buch Les avantures de la dialectique (Die Abenteuer der Dialektik) in die Umhängetasche und zog erneut los. Auf dem Körút, der Ringstraße, gab es zwischen der Panzerkolonne einen größeren Zwischenraum, einige Fußgänger wagten sich über den Fahrdamm. Soldaten an Maschinengewehren auf dem Dach von Panzerspähwagen sahen sich unvoreingenommen um. Schnell weg, in schmalere Straßen, an den Fenstern und in den Hauseingängen wird spioniert.

Auf einem leeren Grundstück werden von einem Lastwagen aus Waffen verteilt. Ich höre Nachrichten vom erfolgreichen Widerstand der Aufständischen, treffe an der Universität ein, die Torwachen kennen mich, ich gehe in die Nähe des Revolutionskomitees, zum Büro des Dekans, dort haben sich einige versammelt, auch Éva in dunkelblauer Skihose und blaugelbem Pullover treffe ich dort an, diskret würdevoll reicht sie mir die Hand. Was wir dort tun? Nun ja, wir sind einfach nur da, drucken Flugblätter, beraten uns, telefonieren, halten Verbindungen aufrecht, Waffen und Schinkenkonserven gibt es zur Genüge. Noch hatten die Russen die Universität nicht angegriffen, auch wir schossen nicht auf sie. Die öffentlichen Gebäude befanden sich bereits in ihrer Hand, noch gehörte die Universität uns. Ich rufe Vera an, daß ich glücklich angekommen bin und daß vorläufig nicht gekämpft wird. Vera sagt, sie kocht grüne Bohnensuppe, sie hat noch ein bißchen geräuchertes Fleisch. Hier wimmelt es von den Verrückteren unter den Studenten der philosophischen Fakultät, sie schwirren umher und tun sich wichtig, aus unterschiedlichen Gründen meinen sie, ohne sie könne die Geschichte nicht stattfinden. Auch ich gehöre zu ihnen, ich bin nicht allein, einige Blicke ruhen auf mir. Ich glaube, meiner Entscheidung und meinem Handeln kommt moralische Bedeutung zu. Im Krieg geschehen die Dinge nur so aufs Geratewohl, der Mensch ist darauf bedacht, davonzukommen, satt zu werden. Und das gelingt ihm auch gelegentlich, vielleicht gerade auf Kosten seines Gefährten und durch Abschießen mancher feindlicher Personen. Unsere Generation hat all dem, was hinter ihr lag und woran sie sich erinnern mußte, auch wenn es unangenehm war, im nachhinein moralische Bedeutung verliehen.

Am 4. November 1956 spät abends hielt ich zusammen mit der angehenden Malerin Eva Barna an dem einen Fenster der Budapester philosophischen Fakultät, die Maschinenpistolen geschultert, Wache. In der Váci utca war manchmal das Rattern eines Panzers zu hören. Dies der banalere Teil der Sache, der außergewöhnliche Teil war Evas Schönheit und bedeutungsvolle, tiefe Stimme, doch vor allem das, was sie sagte. Camus´ Mythe de Sisyphe, das ich noch nicht kannte, hatte sie im Original gelesen. Den Fremden dagegen hatte ich bereits verschlungen. Eine Erzählung mit erbarmungsloserer Vollkommenheit beginnen zu lassen, ist vielleicht gar nicht möglich. Aus niederen Beweggründen, aus Eifersucht, machte ich zu Camus ironische Bemerkungen. Im Dezember emigrierte Eva und begegnete Camus, korrespondierte mit ihm. Zwischen ihnen nur die Reisekosten, zwischen Eva und mir der Eiserne Vorhang.

Während wir die Straße beobachteten, ich Éva umarmte und mein Kinn ihr Ohr berührte, starrte uns nach einigem Rasseln und einer halben Wende ein Kanonenrohr an, nahm unser Fenster ins Visier. An die Wand der Fensternische gelehnt verfolgte ich, was jenes Kanonenrohr anrichten würde. Es richtete nichts an, verströmte aber den Geruch des Ungewöhnlichen, weshalb es am Fenster stehend angebracht zu sein schien, den Duft der Haare tiefer einzuatmen. Die Zeit des Überwachens ging zu Ende, die Pärchen gingen auseinander, zogen sich in die Seminarräume zurück, nahmen Turnmatten und Decken mit, Éva kehrte zurück zu ihrem Mann, ich sah nicht einmal hin, in welche Richtung sie entschwand, ich hatte im Saal für die Flugblattherstellung zu tun. Dort befand sich die intellektuelle Sektion, auf russisch mußten die Besatzer von ihrem mißlichen Handeln abgebracht werden, sie werden überrascht sein, wenn sie sich auf die Marxsche Wahrheit besinnen, daß ein Volk, das andere Völker unterdrückt, auch selbst nicht frei sein kann. In meiner Fassung gerieten die russischen Sätze ein wenig kompliziert, und der Text war eher eine Abhandlung als ein Flugblatt. Unter gemeinsamer Willensanstrengung wurden meine Ausführungen gekürzt und vereinfacht, und ich stimmte dem höflich zu. Andere Flugblätter schrieb ich an der Universität nicht mehr. Mein Notizbuch war seit Tagen leer geblieben. Eine unproduktive Zeit. Die Nacht verging, weiter weg Aufschreien und Keuchen. Wo ich geschlafen habe, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, vielleicht habe auch ich auf einer Turnmatte ein Plätzchen bekommen oder in dem Raum, wo sich die Militäruniformen und Wattemäntel stapelten. Die Universität blühte in jenen Tagen auf. Im Hof standen den Studentenrevolutionären Lastwagen zur Verfügung, auf der Ladefläche kistenweise Maschinenpistolen, noch eingefettet und in Ölpapier eingewickelt. Enorme Mengen an Verpackungsmaterial und Sägespänen, um die wertvolleren Sendungen zu umhüllen, die Schinkenkonserven und das Pfirsichkompott, von Dr. Otto Habsburg der heldenhaften ungarischen Jugend gespendet. Damals hatte ich das Gefühl, in einem permanenten Kino zu leben, worin die Erscheinungen, jetzt beispielsweise die Russen und die Studenten, diese schnaufenden und schnarchenden Figuren, hereinkommen und hinausgehen, während ich, der umherwandelnde Kinozuschauer, deshalb zuschaue, damit die Dinge gesehen werden und damit es jemanden gibt, der sich daran erinnert, weil das Ereignis erst im nachhinein einen Sinn erhält.

Nachts passierte es, daß jemand während der Waffenreinigung seine Pistole abfeuerte. Obwohl der Raum voll war, wurde niemand verletzt. Ich schlief einige Stunden und konnte mich nicht freimachen von der Frage, was zum Teufel ich hier eigentlich zu suchen hätte. Die Jungen vom Land waren nicht hier. Einige Bergleute vielleicht schon. Mehrere von den aus der Arbeiterklasse stammenden Assistenten des Lehrstuhls für Marxismus-Leninismus hatten sich gleichfalls eingefunden. Und natürlich einige junge Juden: Dichter und Ästheten. Die radikaleren. Der größere Teil des Studienjahrs meinte, die Ereignisse hätten sich nun dahingehend entwickelt, daß es am klügsten wäre sich fernzuhalten. Ich sagte, die sowjetische Einmischung in die lokalen Angelegenheiten sei unfair, weshalb auch ich mich in die lokalen Angelegenheiten einmischen wolle, und zwar ebenfalls bewaffnet. Das sei bis dahin in Ordnung. Doch nun stelle sich die eigentliche Frage, nämlich wer zu erschießen sei. Wir Studenten saßen beisammen, unter uns mochte es auch solche gegeben haben, die schon getötet hatten, doch die Mehrheit sicher noch nicht. Sollten wir die Universität verteidigen? Sollten sie uns ruhig belagern und zusammenschießen, sollten wir zurückschießen bis zur letzten Patrone, bis zum letzten Blutstropfen, sollten wir uns von Zimmer zu Zimmer zurückziehen, sollten wir zulassen, daß die Universität von den Kanonen und den auf dem Gellérthegy, dem Blocksberg, aufgestellten Minenwerfern unter Feuer genommen wird, während wir zwischen den Trümmern alle zugrunde gehen würden? Ob uns die Nachwelt zu Konterrevolutionären oder Heldentoten erklären würde, das wäre schon ihre Angelegenheit. Wie lange muß man Widerstand leisten? Bis zum Tod? Die Studenten der philosophischen Fakultät meinten, die sowjetischen wehrpflichtigen Soldaten trügen keine Schuld. Auch ich hatte zusammen mit ihnen in einer Feldküche gegessen, wo auch wir Nationalgardisten uns hatten niederlassen dürfen, nachdem wir unsere Waffen an der Seite abgelegt hatten. Wir aßen, unterhielten uns, die russischen Burschen sagten das gleiche wie die ungarischen Polizisten, daß sie sich gern heraushalten würden, doch das sei leider nicht möglich, daß sie Sehnsucht nach zu Hause hätten. „Es bricht mir das Herz, Brüderchen, doch wenn ich den Befehl dazu bekomme, dann werde ich auf dein Wohnhaus ballern.” Wir bedankten uns für die Kohlsuppe mit Fleischeinlage, nahmen die Waffen wieder an uns und gingen unserer Wege. Ein jeder blieb mit seinen Zweifeln im Morgennebel allein. Plötzlich lichtete sich der Nebel, und grelles Sonnenlicht fiel auf die Fenster. Sollte das Land weiter streiken? Wie lange? Von hinten als Guerillero auf jemanden schießen, als Heckenschütze, aus einem finsteren Loch, aus einem Dachfenster? Wild entschlossen schießen? Aber auf wen? Auf die Besatzer? Auf die Kollaborateure? Einfach nur so?

Als Reaktion auf meine Ungeduld riet mir das älteste Mitglied des Revolutionskomitees, ich solle mit einer Pistole hinaus auf die Straße gehen, mich umsehen, was in der Stadt los sei, und sollte ich das Gefühl haben, einen Ordnungshüter erschießen zu müssen, dann sollte ich ihn geschickt zur Strecke bringen, mit einem Wort, ich solle experimentieren, ob mir der Terror liege, und solle noch vor Einbruch der Dunkelheit zurückkehren, um den anderen von meinen Erfahrungen zu berichten. Ich solle achtgeben auf mich, sagt mir die bewaffnete Torwache und läßt mich hinaus auf die Straße: „Jetzt wird nicht geschossen, geh da lang!” Ein langhaariger Typ im Tuchmantel trat zum Tor der Universität hinaus und machte sich auf den Weg zu einem Spaziergang durch die Stadt. Pistole, Federmesser, Apfel, Füllfederhalter, Notizbuch – er vergewissert sich durch Beklopfen der Manteltaschen, daß er alles Nötige bei sich hat. Drücke dich an die Wand, dringe ein in den schmutzgrauen Putz! Menschen treiben sich zwischen den Panzern herum, Panzergrenadiere rauchen. In den Backstuben wird gearbeitet, in den Geschäften wird versprochen, daß es Brot geben wird. Vor dem Laden eine lange Schlange, manchmal ist eine Maschinengewehrsalve zu hören, alles drückt sich an die Wand, doch zum Glück ist nicht in dieser, sondern in der Nachbarstraße geschossen worden. Ein Lastwagen mit Brot trifft ein, der Chauffeur erntet anerkennende Blicke, und wer einen ganzen Laib noch lauwarmen Brots ergattern und nach Hause bringen kann, der ist berauscht von seinem kleineren strategischen Erfolg. Johanna, meine ehemalige Französischlehrerin mit silbergrauem Haar, begegnet mir. „Wohin gehen Sie?” Sie hat eine gelähmte Schülerin, der die Französischstunden sehr wichtig sind. „Aber es wird geschossen!” „Der Mensch muß seine Arbeit machen, und irgendwann muß er schließlich sterben!” entgegnet Johanna. Ich treffe den Nachbarn Diósi mit einem prall gefüllten Rucksack auf dem Rücken. „Woher kommen Sie denn, Herr Nachbar?” Er ist in der Jerewan-Bar gewesen und hat dort einige Flaschen guter Getränke eingesackt. In der Rákóczi út sind schon Plünderungen im Gange, die Russen haben die Geschäfte geöffnet, und der Pöbel folgt ihnen auf dem Fuße. Wo es etwas zu plündern gibt, dort finden sich immer Plünderer. Das ist klar. Merkwürdig nur, daß während der Revolution auch der Pöbel keine Geschäfte ausgeraubt hat. Und ebenso merkwürdig, daß herr Diósi ein redlicher Angestellter bei einem Handelsunternehmen ist. Am 6. November scheint sich die Stadt um die Panzergrenadiere herum zu beleben. Der Generalstreik dauert an. Aber die Kinder brauchen Brot und Milch. Jeder hat frei, das viele Volk ist zu Hause geblieben,  die Menschen gehen auf die Straße. Die Personen des Machtapparats in blaugrauen Wattejacken lungern zwischen ihnen herum. Die gleichen Ecken und Gesichter. Um die Panzer muß man einen Bogen machen, mit den Besatzern reden wir nicht unbedingt.

Die Menschen glauben nicht daran, daß man die neu eingetroffenen Truppen dazu wird überreden können, wieder abzuziehen. Wie einem Verkehrshindernis, so weichen sie den Panzergrenadieren aus. An der Straßenecke verschwindende Schritte, Flugblätter vom sowjetischen Stadtkommandanten: „Widerstand zieht harte Vergeltungsmaßnahmen nach sich.” An der Universität begrüßen mich die Wachen. „Was ist los?” „Ratlosigkeit.” Dem Vorsitzenden des im Dekanat residierenden  Revolutionskomitees sage ich, daß ich weder einen sowjetischen Soldaten noch einen ungarischen Kollaborateur erschießen könnte, zumal das eher schädlich als erfolgreich sein würde. Man müßte etwas anderes erfinden. Die Mehrheit vertritt die Meinung, man könne die Besatzer und die Kollaborateure nicht voneinander trennen, da sie alles in der Hand hätten. Was bleibt, das ist die punktuelle Unruhe. Die Mehrheit wird sich den Besatzern fügen. Wenn wir den bewaffneten Kampf fortsetzen, dann werden wir fanatische Attentäter sein. Legen wir die Waffen nieder, dann haben wir die Waffen niedergelegt, was Konsequenzen haben wird, dann werden wir uns auf einen Modus vivendi einrichten, dann wechseln wir zu einer schleichenden Krankheit über, dann entscheiden wir uns für eine vorsichtige und langfristige historische Strategie, dann setzt die beständige und permanente Partie um die verbale Macht ein. Es fand keine heftige Diskussion darüber statt; wenn sie uns angreifen, verteidigen wir uns, doch noch haben sie nicht angegriffen. Dann traf eine Nachricht ein, daß sie auf dem Hof der Hochschule für bildende Kunst einige aufständische Studenten erschossen haben und daß sie auch die Keller in der Nachbarschaft durchkämmen, und was sie dort an Studenten vorfinden, die schleppen sie auf den Hof der Akademie und erschießen sie. Dann kam ein exaltierter Student und forderte uns auf, wir sollten ihn zu einer Neupester Kaserne am Stadtrand begleiten, er habe zwei Lastwagen besorgt, dort sei der richtige Platz für uns. Ich fragte ihn, warum wir dorthin gehen sollten. „Weil sie beschossen werden.” „Von wo?” „Mit Minenwerfern vom Gellérthegy, vom Blocksberg aus.” „Aber von der Kaserne aus kann mit Maschinenpistolen nicht zurückgeschossen werden.” „Nein, zurückschießen können wir tatsächlich nicht.” „Und warum sollen wir dann dorthin fahren?” „Verstehst du nicht? Damit wir zusammen verrecken!” „Das verstehe ich nicht”, entgegnete ich. Éva wollte den Studenten begleiten. Ich hielt sie an der Hand fest, als sie auf das große Rad des Lastwagens klettern wollte.

Mit einer weißen Fahne in der Hand traf ein sowjetischer Offizier ein und überreichte einen Zettel mit einer knappen Botschaft in russischer Sprache. Sollten wir die Universität nicht räumen, würde sie morgen mittels Einsatz von Panzern dem Erdboden gleichgemacht werden. Im eigenen Interesse und dem der Hochschule gehen wir nach Hause, einige Akten nehmen wir an uns und schleichen uns einzeln davon. Waffen, Lastwagen und Schinkenkonserven zurücklassend.

Ich schiebe Wache. An unserer Haustür. Die Maschinenpistole habe ich aus dem Bettkasten nicht hervorgeholt. Zusammen mit einem namhaften Konzertmeister stehe ich Posten und diskutiere mit ihm, einem zurückhaltend grüßenden und zerstreuten Menschen. Dementsprechend äußert er sich auch: „Zu guter Letzt wird der Mensch im Stich gelassen. Das glauben wir nicht, solange es nicht tatsächlich geschieht. Wir Ungarn haben immer auf die Leichtgläubigkeit unserer Führer draufgezahlt. Wir haben den Deutschen geglaubt. Was ist daraus geworden? Wir haben den Russen geglaubt. Was ist daraus geworden? Und jetzt haben wir den Amerikanern geglaubt, daß sie uns helfen und daß die Russen nicht wagen würden einzumarschieren, weil die Weltöffentlichkeit eine große Macht sei. Und was ist daraus geworden? Auch uns selbst werden wir verlassen. Junger Mann, seien Sie mißtrauisch! Vor allem dann, wenn  die Hoffnung lockt. Die Hoffnung bringt einen in die Grube. Das dürfen Sie getrost auch als Weg zum Massengrab verstehen. Ich habe hier die Musik, klammere mich an die Geige. Dadurch bin ich. Sie, wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, haben sich der Literatur verschrieben. Entwickeln Sie eine Geheimschrift!”

Anderentags ging ich zum Schriftstellerverband. In dem einen Zimmer wurden alle möglichen Lebensmittel verteilt. Auch das Redaktionsmitglied der neuen Literaturzeitschrift, das heißt meine Wenigkeit, bekam etwas von den eßbaren Gütern. Die Stadt hatte die Kämpfe bereits hinter sich, als in der Bajza utca erneut Kugeln pfiffen. Auch die Mauer des Gebäudes wird von Geschossen getroffen, doch die als Warnung gedachten Maschinengewehrsalven der Panzerspähwagen fegen eher nur über den Fahrdamm. Wir schalten das Licht aus und beobachten hinter den schweren Vorhängen, wie zwei junge Männer, mit Maschinenpistolen bewaffnet, auf die andere Straßenseite hinüberrennen und über ein niedriges Gartentor springen, doch die vom Vorgarten ins Haus führende Tür ist zweifellos geschlossen. Sie kommen wieder heraus, sehen sich ratlos um, sämtliche Haustüren sind zugesperrt, und keine einzige wird ihretwegen aufgemacht. „Wir müßten sie hereinbitten”, schlage ich vor. „Bist du wahnsinnig geworden? Damit sie von hier aus herumballern? Damit die Panzer hier zusammengezogen werden und das Haus der Schriftsteller unter Beschuß nehmen?” Wir verzichten darauf, die beiden jungen Männer hereinzubitten und sind erleichtert, als sie sich an der Straßenecke aus dem Staub machen. Ringsum in den Regalen viel Papier. Erklärungen, gehobene Diktion, Würde. Noch kommt der eine oder andere Schriftsteller herein. Auch von der russischen Stadtkommandantur trifft eine Grupe ein. Die geistigen Führer werden zum Verhandeln aufgefordert. Diskussionen zwischen Hitzköpfen und Realpolitikern. Kraft steckt darin nicht mehr. Gestikulierendes Gerede. Noch können wir uns nicht vorstellen, daß unsereins aus diesem Haus, aus allen Universitäten und Redaktionen entfernt werden wird. Die Verlierer verlaufen sich in alle Winde und halten nicht an der Gesellschaft des jeweils anderen fest. Für ein kollektives Politisieren wird es eine Weile keine Grundlage geben. Wer vom Volk die Macht übertragen bekommt, der muß die Russen nach Hause schicken und der parlamentarischen Demokratie Raum gewähren. Dieser Weg führt an den Galgen oder ins Gefängnis. Wer von den Russen die Macht übertragen bekommt, der muß polizeilich ein reibungsloses Funktionieren der Besatzung und des Einparteiensystems garantieren. Wir können uns zurückziehen, das ist am klügsten. Der Westen hat uns den Russen übergeben und will unseretwegen keinen Krieg führen. Wir können ein wenig auf sie schießen, als Antwort darauf schießen sie unsere Stadt in Grund und Boden. Der beste Fall wäre der, daß den geschlagenen Massen eine erneuerte Satellitenregierung vor die Nase gesetzt werden würde. Dann verstecken wir uns in einem noch tieferen Winkel, von wo uns keinerlei Neid verstößt.

Nachdem die sowjetischen Panzer auch ein zweites Mal gekommen sind, nun schon in größerer Anzahl und verärgerter als am Abend des Aufbegehrens, sind nach dem 4. November 1956 von den zehn Millionen Ungarn zweihunderttausend weggegangen, zumeist junge Leute, die Hälfte meiner Klassenkameraden, die meisten meiner Freunde und Liebsten, meine Schwester und Vettern. Sechsundfünfziger? Nach kurzen heldenmütigen inneren Kämpfen die Entscheidung: Gehst du? Bleibst du? Wer gehen konnte, ist gegangen, vor etwas Schlechtem westwärts geflüchtet, vor der Vergeltung oder vor dem gleichen, was gewesen und, nun ja, entlarvt worden ist! Bei Schnee und Frost ging die Jugend über die nachlässig bewachte Grenze. Auch Vera telefonierte hierhin und dahin; das Gehörte reichte ihr im großen und ganzen, die Gefallenen, die Verbrannten, die Aufgehängten wollte sie nicht sehen, gleich welcher Nation Söhne sie sein mochten. Von hier sehnte sie sich weg zu vertrauenswürdigeren Völkern. Sie würde nach Paris gehen, um dort englisch und russisch zu unterrichten, sie würde die Grundlagen für unsere Existenz schaffen, eine Wohnung anmieten, wir sollten hinterherkommen, sie würde alles richten, nur gehen sollten wir! Ich sollte nicht so schwerfällig sein! Es kamen die Freunde und Vettern, sie wollten morgen gehen, ich solle mich ihnen anschließen. Ich blieb, ich sagte, ich sei hier in Budapest beständiger als die Regierungschefs. Zwar wollte ich in diesem Strom nicht mitschwimmen, aber ich wollte wissen, was hier in diesen Straßen passieren würde. Aus dieser offenen und nicht zu beendenden Geschichte wollte ich mich nicht herausreißen. Ich wollte nicht geschickt sein, nicht gewöhnlich, ein einfaches Leben wollte ich haben. Die gleichen Treppenhäuser und Cafés, das, was auch bisher schon gewesen war. Von denjenigen, mit denen ich mich in meiner Muttersprache unterhalte, bleiben mehr am angestammten Ort zurück, gehen weniger weg. Noch vor Weihnachten machte sich auch Vera in Gesellschaft meiner Schwester Eva auf den Weg. Sie gelangten sogar bis an die Grenze, überschritten sie bei nächtlichem Schneetreiben, setzten ihren Marsch in der Finsternis zwischen österreichischen Aufschriften fort, doch dann plötzlich erblickten sie wieder ungarische. Vermutlich hatten sie einen Berg gar zweimal umkreist. Sie waren erschöpft. Meine Schwester versuchte es am folgenden Vormittag erneut und schaffte es. Vera kehrte am Weihnachtsabend zurück und gab sich ein wenig unzufrieden, daß ich keinen Weihnachtsbaum aufgestellt hatte. Wir gingen hinunter auf die Straße, fanden noch ein kleines Bäumchen und Schmuck dazu. Es gab Geschenke, ein improvisiertes Abendessen, Kerzenlicht und familiäre Heiterkeit.

1956 bin ich geblieben. Sooft ich die Gelegenheit zum Gehen hatte, bin ich geblieben, habe mich an den Tisch gesetzt und etwas geschrieben. Wenn ich einen großen Entschluß hätte fassen müssen, traf ich lieber keine Entscheidung, ließ die Dinge sich entwickeln, rann mit der Zeit dahin. Ich mußte lernen, mit der Angst als Wegbegleiter umzugehen, damit sie keine Macht über mich gewann. Nach 1957 heftete niemand mehr seine einem Blatt Papier anvertrauten Gedanken mit Hilfe von Reißzwecken an einen Baumstamm. Die Seele drehte sich zur Wand und zog die Decke über den Kopf. Der größere Teil der Erinnerungen war gestorben; sie am Leben zu erhalten erwies sich als unvorteilhaft. Am Ende des Dramas  kommt die Vergeltung: Todesurteile. Im Herbst 1959 war ich als Vormundschaftsbeamter tätig. An einem sonnigen Nachmittag hatte ich in der Száz utca zu tun, die seither zum Teil abgerissen und wieder aufgebaut worden ist. Wenn es in Budapest einen Slum gab, dann waren die Száz utca und die Jobbágy utca in der Nähe des Ostbahnhofs ein solcher. Nicht nur wegen ihrer Schäbigkeit, Armut und Wohndichte sowie ihres großen Anteils an Zigeunern, sondern auch wegen ihrer menschlichen Wärme und Öffentlichkeit. Jeder kannte jeden, die Menschen dort lebten draußen auf der Straße. Als ich um die Ecke biege, ist von allen Ecken und Enden Schluchzen zu vernehmen. Was war passiert? An jenem Tag hatten die Angehörigen ins Zentralgefängnis gehen dürfen, um die Sachen von etwa zehn Jungen und einem Mädchen abzuholen. Man hatte sie aufgehängt. Aufständische von 1956, zumeist noch minderjährig, richtige Draufgänger, die einige sowjetische Panzer gesprengt hatten. Im Frühjahr 1959 wurde die Straße von der Ordnungsmacht umzingelt. Von Haus zu Haus trieb man einen Trupp Jugendlicher zusammen und verurteilte einen Teil von ihnen zum Tode. Zum Zeitpunkt der Urteilsvollstreckung waren sie mündig geworden. Ich hatte bei einer jungen Witwe zu tun, deren Kinder sich herumtrieben. „Woran ist Ihr Mann gestorben?” „Sie haben ihn aufgehängt.” Er war Vorsitzender eines Arbeiterrats in einem Bergwerk gewesen und hatte nicht einmal eine Pistole besessen. Ein Mensch, der getötet wird, fügt sich einer geheimen Dramaturgie; der zum Tode Verurteilte nimmt ernsthaft teil an der Zeremonie. Worin unterscheidet sich das Besteigen eines Schemels unter der herabhängenden Schlinge von den sonstigen Bewegungen, vom Stillgestanden, von den hinten verschränkten Händen? Hat sich der Mensch an den formalen Rahmen des Gefängnisses gewöhnt, redet er nur, wenn er gefragt wird, und schweigt, wenn er nicht gefragt wird. Wenn sie unbedingt das Leben des Gefangenen haben wollen, dann sollen sie es eben haben, bringen wir die Sache hinter uns!

Aufzeichnungen aus dem Jahr 1986: Tagtäglich bekomme ich Besuch von Journalisten aus dem Westen, zu 1956 gebe ich ein Interview nach dem anderen, nehme an Gedächtnisveranstaltungen teil. Meine Schriftstellerkollegen hatten ein Schweigegelübde abgelegt, enthielten sich jeglicher leichtsinniger Äußerungen. Meine Nachmittage sind verplant, es kommen die Italiener, die Deutschen, die Holländer, die Schweden, Gott weiß, was sie antreibt. Nur Geächtete wie meinesgleichen sind bereit, offen und überhaupt mit ihnen zu reden. Es besteht ein Bedarf an internationalem Pathos. Den versorgen wir jetzt mit einigen Nährstoffen. Einige – ungarische, tschechische, polnische und ostdeutsche Dissidenten – haben zum Gedenken an 1956 eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Aber nur wir. Die braven national Empfindenden gaben keinen einzigen Mucks von sich. Am Stammtisch der dicken Schriftsteller wird darüber nachgegrübelt, welche Retorsionen diese gemeinsame Erklärung nach sich ziehen könnte. Das Politbüro ist beleidigt, spricht von einer Eskalation und denkt über Vergeltungsmaßnahmen nach. Polizisten patrouillieren zu zweit oder dritt durch die Straßen. Gerüchten zufolge sollen Kampfgruppen in einer Stärke von sechzigtausend Mann nach Budapest beordert worden sein. Motorisierte Polizisten in Lederjoppen belästigen die Autofahrer. Ein Taxifahrer meint, es sei, als hätte man sie mit Tigerfleisch gefüttert, man könne sie nicht besänftigen. Im Radio brüsten sich alte Führer damit, daß sie vor dreißig Jahren einen Sieg errungen hätten. Die bewaffnete Niederschlagung der Revolution ist für sie ein Sieg. Wen wir aufhängen, den haben wir besiegt. Auch Massenverhaftungen sind ein Sieg und auch die Tatsache, daß zweihunderttausend Menschen in den Westen geflüchtet sind. Ordnung und Gesetzlichkeit herrschen für sie nur dann, wenn sie und nur sie an der Macht sind. Doch die Autorität ist altersschwach geworden, neue Kräfte drängen sich vor dem Tor, die Kádár-Ära naht sich ihrem Ende. Wer gestern noch Kádárs Bleiben wollte, weil nach ihm nur Schlimmeres kommen könne, der würde sich nun freuen, wenn er abdankte. Alle mahnen sie Veränderungen an, es wächst die Ungeduld, es folgt eine Beschleunigung der Entwicklung, es müßte etwas geschehen, noch aber herrscht Ängstlichkeit vor, wenn auch gemischt mit Zorn. Die Vorsichtigeren scharen sich um die Mutigeren, die ja vielleicht etwas in Gang setzen könnten. Aus der Zeit von 1956 erinnere ich mich an das plötzliche Schwinden der Schreckhaftigkeit, an das unerwartete Mutigwerden. Inzwischen ist die Revolution von 1956 klassisch geworden. Sie ist das einzige Ereignis von welthistorischer bedeutung, das wir in diesem Jahrhundert gemacht haben. Es könnte ja möglich sein, daß wir die Sache nun, ohne einen einzigen Blutstropfen zu vergießen, zum Erfolg führen könnten.

Imre Nagy, der bisher loyale, maßhaltende und professoral auftretende Ministerpräsident der Revolution, ist mit Billigung seines Nachfolgers János Kádár am 16. Juni 1958 aufgehängt worden. Seine Gebeine sind an unbekanntem Ort verscharrt worden, in einem vernachlässigten und unbezeichneten Winkel des Zentralfriedhofs zusammen mit anderen zum Tode Verurteilten. Am zweiunddreißigsten Jahrestag der Hinrichtung forderten einige hundert Menschen eine ehrenvolle Bestattung und Demokratie. Wir Oppositionellen waren in der Pester Innenstadt am Gedenklicht Graf Lajos Battyánys, eines anderen hingerichteten ungarischen Ministerpräsidenten, zusammengekommen. Den Impulsen der Gummiknüppel des polizeilichen Überfallkommandos folgend setzten die Demonstrierenden ihre Zusammenkunft auf immer wieder anderen Plätzen fort, so daß sie durch die ganze Innenstadt zogen. Dreiunddreißig Jahre später, am 16. Juni 1989, fand die eigentlich Beerdigung statt. Neben Imre Nagy und einigen seiner Mitangeklagten bestatteten wir einen unbekannten Aufständischen in einem namenlosen Sarg. Ungefähr hundertfünfzigtausend hatten sich auf dem Heldenplatz versammelt. Frühmorgens beratschlagten wir noch am Telefon mit unseren Freunden, ob wir die Kinder mitnehmen sollten.

Überall in den Medien und in Gesellschaft wurde damals viel von der Revolution gesprochen. Eine Lücke in den Lebensläufen hatte sich gefüllt, im Spiegel der Erinnerung erblickten wir das Gesicht unserer Jugend. Die Getöteten wurden wieder lebendig. War es der Nation nicht vergönnt, souverän zu sein, der legitime Ministerpräsident hatte die Möglichkeit dazu gehabt. Im Wissen darum, was er zu erwarten hatte, und in Kenntnis der Mentalität derer, die seinen Richtern befehlen würden, bekannte er sich nicht schuldig und bat nicht um Gnade, er tat, was er tat, er stand zu seinem Wort. Ungarn gehörte nicht mehr dem Herrn über die lustigste Baracke, nicht mehr dem damals schon geistesverwirrten János Kádár. Statt für einen lebenden bewaffneten Vater hatte sich das Land für einen toten Vater als Wappen entschieden, für den Gehenkten, für Imre Nagy. Um sich so entscheiden zu können, bedurfte es einer gewissen Befreiung. Nicht lange danach starb auch János Kádár, und die unterdrückte Erinnerung an die Revolution entfaltete sich aus den Aktenmappen des unter Verschluß gehaltenen Materials. Wir erinnerten uns an die gemeinsame Geschichte, die sich so sehr in unseren Privatgeschichten spiegelte. Die von Erinnerung belasteten Aktivitäten sind durch und durch mitteleuropäischer Natur. Wir trauerten um die Getöteten, die Kugelspuren auf lebensfähigen Körpern, um den Helden ebenso wie um den Toren. Diese gigantische, kollektive Wiederbeerdigung war ein symbolischer Wendepunkt. Die Demokratie ist nach Ungarn zurückgekehrt.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke