Aus dem Archiv des Pester Lloyd

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(c) Pester Lloyd / Archiv

 

Aus dem Pester Lloyd von 2007

György Konrád

György Kurtág - Nachruf, Trauerrede?

Für mich ist er lebendiger denn je. Mein enges Arbeitszimmer in St. André: seit Monaten vollgestopft mit seinen Kompositionen, Schriften und Gesprächen, mit den über ihn verfaßten Aufsätzen und Gedenkschriften; immer wieder lese ich die Partituren, höre mir alle für mich zugänglichen Schallplatten und Aufnahmen an.

Vor mir das Lebenswerk – vielleicht auch sein Leben. Ständig möchte ich ihm etwas erzählen; auch davon, was ich nach Jahrzehnten von seinen Werken endlich verstanden habe. Vielleicht gibt es ja Zusam- menhänge, die nur ich jetzt entdecke. So viele Fragen würde ich ihm stellen. Manchmal geben die nachfolgenden Arbeiten darauf eine Antwort, ein andermal mag es hoffnungslos sein, nun, da er sich selbst nicht mehr äußern kann, eine Erklärung zu finden.

Heraufbeschwören möchte ich den Menschen, wie auch Sie ihn gekannt haben mochten. Ich muß andere zu Hilfe rufen, die seine Züge klarer darstellen können als ich. „Man mußte ihn reden hören, wenn möglich auch sehen“, schreibt Wolfgang Sandner (FAZ, 17.06.06), indem er auf Ligetis lebendige und ausdrucksstarke Gesten hinweist, „er beherrschte die seltsame Kunst der Sprachpolyphonie. Wer das Glück hatte, die wundersame Art seiner sprachlichen Ausdrucksweise mitzuerleben, war danach in der Lage, seine Musik besser zu verstehen. Denn in seiner Sprache konnte man eine frappierende Kongruenz zu den Partituren entdecken: die gleichen wuseligen Klangfigurationen, die Assoziationsfülle, das Weithergeholte, nur Angetippte, das sich dennoch auf irgendeine magische Weise zu einer komplexen Spracharchitektur türmte. Ligeti war ein Gesamtkunstwerk.“

Eine Erinnerung aus dem Nachruf seines engsten Freundes in den letzten sechs Lebensjahren, des Neurobiologen Gerhard Neuweiler: „...er begann, mich zu fragen, was ich gerade machte... Er fragte, und ich antwortete, er fragte nach, und ich antwortete, er bohrte tiefer und tiefer..., er glich einem Vulkan, der immer neue Ideen, Anregungen, Zweifel, Fragen ausspuckte... Er zwang mich zu genauerem Nachdenken, zum Nachforschen, und führte mich durch seine inquisitorische Neugierde in neue, für mich unerwartete Zusammenhänge in meinem eigenen Fach.“ In meiner Privatmythologie schreibe ich diese Art des Bohrens dem Sokrates-Ligeti zu. Ja, die Neugier!

Jetzt zitiere ich seine Worte aus dem Jahr 1993: „So verschieden die Kriterien für die Künste und die Wissenschaften auch sind, Gemeinsamkeiten gibt es insofern, als die Menschen, die in diesen beiden Bereichen arbeiten, von Neugier angetrieben werden. Es gilt, Zusammenhänge zu erkunden, die andere noch nicht erkannt haben, Strukturen zu entwerfen, die bis dahin nicht existierten.“

Diese nur den Großen der Renaissance eigene „unstillbare Neugier, die Euphorie des Kennenlernens und Verstehens, die schier atemberaubende Geschwindigkeit des Denkens“, wie es der ungarische Komponist László Vidovszky formuliert, das Nie-sich-Begnügen mit dem Erreichten, immer gleich auf der Suche nach neuen Wegen des Ausdrucks. Zugleich entsteht aus den Erfahrungen der Musikgeschichte von Machaut bis heute die echte Ligetische Poesis. „Die Wissenschaften wurden“ für ihn „ebenso eine wahre Quelle der Inspiration“ (Vidovszky). Mit Lobanova spricht er über die „Paradoxa und Schönheiten der mathematischen Denkweise...“ Und die Literatur, die Künste... Von Kleist bis Krúdy, von Proust bis Weöres, Hölderlin und Kafka, Shakespeare und Lewis Carroll, der Joyce des Finnegans Wake, von Beckett und Ionescu zu Borges der Labyrinthe, von Bosch bis Piranesi, von Cézanne bis Miró und Escher – was alles spiegelt sich in dieser Musik!

Unsere Bekanntschaft und Freundschaft begann vor zweiundsechzig Jahren. Die Aufnahmeprüfung für das Fach Komposition an der Budapester Musikakademie in den ersten Septembertagen 1945 war für mein ganzes Leben bestimmend. Wir warteten darauf, aufgerufen zu werden. Währenddessen blätterte ich in seinen Partituren. Ich erkannte, wie hoch sein Wissen, seine Reife und seine musikalische Phantasie über mir standen. Für ein Leben schloß ich mich ihm an. Bis 1956, solange er noch in Budapest lebte, verband mich mit ihm eine enge Freundschaft: Ich durfte Zeuge der Entstehung seiner Werke sein, teilhaben an seinem Leben, auch Zeuge seines Kennenlernens mit Vera durfte ich sein und Trauzeuge dann der 1952 stattgefundenen Heirat.

Sein Leben empfinde ich als eine einzige Einheit. Ein unendlich weitverzweigtes Oeuvre, zusammengehalten von der TREUE. Treue vor allem zur Kindheit.

a) Sein frühkindlicher Urtraum: reglose Texturblöcke, die allmählich und unbemerkt sich wandeln, von innen indes wimmeln, sich winden, fast schon bereit, musikalische Strukturen zu bilden. Dies wird für Jahrzehnte einer seiner musikalischen Grundtypen, die in ihrer reinsten Form in den chromatischen Riesenclusters und mikropolyphonen Geflechten seiner Atmosphères aufscheinen; später in den in ihrer Vollkommenheit unerreichbaren flehentlich klagenden Stimmenfaszikeln der Kyrienfuge des Requiems (1962-1965).

b) Kylwyrien, sein imaginäres Land, an dem er im Alter zwischen fünf und dreizehn Jahren baut. Er zeichnet farbige orohydrographische Karten, die man auch als Miró-Gemälde akzeptieren könnte, erfindet die kylwyrische Sprache und Grammatik, Geographie, Geschichte, naiv utopisch die rechtliche und gesellschaftliche Anlage Kylwyriens. Aus Kylwyrien folgen seine Aventures und die Nouvelles Aventures (1962/1965). Hierin artikuliert sich sein zweiter musikalischer Grundtypus: lauter Humor, dramatische Wenden, unerwartetes zuckendes Aufblitzen und ebenso unerwartetes Innehalten, Aggression und Beklommensein, die 3 Sänger formen aus einem nicht-existierenden phonetischen (superkylwyrischen?!) Sprachmaterial durchaus menschliche Beziehungen. Die zwei Aventures wollte er in einem einzigen Opernprojekt vereinen: Kylwyrien, so sollte der Titel lauten. Glücklicherweise ist stattdessen Le Grand Macabre geboren worden! Im Dies Irae des Requiems entfalten sich aus diesem Grundton – auf dem Siedepunkt eines Jüngsten Gerichts von Hieronymus Bosch oder Hans Memling – die Bilder der mittelalterlichen Sequenz: von Verzweiflung bis zur Beklemmung, vom Tragischen bis zur Groteske.

c) In Krúdys Erzählung – gleichfalls ein frühkindliches Leseerlebnis – eine alte Witwe; die Wohnung, in Dämmerschein getaucht, mit antiken Uhren vollgepfropft, die unregelmäßig und durcheinander schlagen, doch mit ihrem Tönen eine einzigartige Atmosphäre schaffen. Aus dieser Kindheitserinnerung und der Erfahrung mit dem Poème symphonique für 100 Metronome entwickelte Ligeti einen neuen Scherzo-Typus, über den bereits die Tempo- und Charakterbezeichnungen Auskunft geben: Come un mecanismo di precisione (Streichquartett Nr. 2, III) oder Movimento preciso e meccanico (Kammerkonzert III). Die Uraufführung des Poème symphonique für 100 – mechanische – Metronome von 1962 ging in einem Skandal unter. Schon der auf die Blütezeit der Romantik hinweisende Titel und die Gegenüberstellung der von selbst mechanisch schlagenden Metronome wirkten als Provokation, als „épater le bourgeois“. In den späteren Konzerten dann zeigte sich, über die Tollkühnheit des Unternehmens hinausgehend, auch die Poesie des Werks, wenn die auf verschiedene Geschwindigkeiten eingestellten und gleichzeitig in Gang gesetzten Metronome anfangs ein undurchdringliches Geflecht bilden und die Struktur schließlich mit dem Verstummen der auf das schnellste Tempo eingestellten Maschinen (die am frühesten ablaufen) immer übersichtlicher wird. Die Schläge der zwei langsamsten, als „Solisten“ allein zurückbleibenden, Metronome wirken wie ein ergriffener lyrischer Abschied.

Die letzten Minuten. Vera und Lukas sind bei ihm. Der Atem wird langsam, stockt, setzt von neuem ein, wird noch langsamer. Lukas: „Wie das Ende des Metronomstücks.“ ...der Atem wird langsam, hält inne. Zum Nachmittagskonzert am Tage der Trauerfeier das Poème Symphonique. Verblüffend, tragisch, beckettartig.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke