(c) Pester Lloyd / 26 - 2009 POLITIK 27.06.2009 _______________________________________________________
Zum Thema: Abgefrühstückt: 20 Jahre Paneuropäisches Picknick - im “Best Western Pannonia”!
Kommentar
Ungarn: Rechts und billig
20 Jahre danach: Thanksgiving in Budapest - eine Reisewarnung
Die Staats- und Regierungschefs aus Deutschland, Österreich, Slowenien, sogar aus
Finnland (weil sie zur gleichen Sprachgruppe gehören?) sind nach Budapest gekommen, auf einem abgesperrten Kossuth-Platz vor dem Parlament und darinnen
wird gefestredet, anschließend in der Staatsoper gefestaktet. Es ist also nicht zu befürchten, dass die Staatsoberen irgendetwas von der Lebensrealitiät in Ungarn mitbekommen müssen.
Einweihung einer weiteren Kranzabwurfstelle für die Wende. Hier durch Außenminister
Frank-Walter Steinmeier und seinen ungarischen Amtskollegen Péter Balázs Anfang Juni am Budapester Außenministerium. Foto: Auswärtiges Amt
Heute vor 20 Jahren schnitten die damaligen Außenminister Ungarns und
Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, in einer für die Medien inszenierten Aktion symbolisch den "Eisernen Vorhang" zwischen beiden Ländern durch. Begonnen hatten
die Ungarn bereits im Mai damit, doch das Foto von den beiden schnippelnden Politikern setzte sich als das Startsignal für alles Kommende durch. Die Macht der
Bilder siegte über die Chronologie und man darf und sollte einmal darüber nachdenken, warum die PR-Maschine stärker ist als die kollektive Erinnerung einer Volksbewegung.
Heute feiert man jedoch nicht diesen PR-Gag, sondern überbringt seinen Dank an
"die" Ungarn für ihren völkerverbindenden Verrat am Ostblock im Interesse einer freiheitlichen Grundordnung. Freilich könnte man auch sagen, die Ungarn haben
einmal mehr die Drehtür als letzter betreten, um als erster vorne wieder raus zu kommen. Doch wie immer die Motivation Einzelner war, dahinter stand ein
kollektiver Wille und es bleibt die Leistung, tausenden freiheitsliebenden Menschen aus der DDR einen Ausweg ermöglicht zu haben. Dafür darf man einmal, auch
hundertmal Danke sagen, das ist nur recht und billig.
Experiment geglückt und gescheitert
Ungarn ist heute ein Beispiel dafür, dass die sich an die Wende anschließende
Integrationspoltik des Westens unter der Haube der EU weitgehend geglückt ist. Die Ungarn sind von widerspenstigen Gulaschkommunisten zu jenen marktkompatiblen
Fast-Food-Konsumenten geworden, welche der freie Markt so gern hat. Das Land hat in vielen Bereichen aufgeholt, wurde zur verlängerten Werkbank und zum
Zukunftsmarkt der westlichen Industrien, manch ungarischer Kleinunternehmer hat es sogar ohne kriminelle Energie zum angesehenen, wohlhabenden innovativen
Mittelständler geschafft. Doch, zwei oder vier Beispiele sind bekannt. Auch die Shoppingcenterquadratmeter pro Kopf sind nur noch knapp 30% hinter dem westlichen Stand.
Ungarn ist heute ein Beispiel dafür, dass die sich an die Wende anschließende
Integrationspoltik des Westens unter der Haube der EU weitgehend gescheitert ist. Was ist Freiheit ohne Chancengleichheit, was ist Wachstum wert, dass versickert,
was, wenn die Armut mitwächst? Ungarn ist ein Opfer westlicher Gleichgültigkeit geworden, die in den östlichen Ländern nur einen Markt gesehen haben und,
medienseitig, die Herkunftsregion von Schwierigkeiten. In Form von "Ostdiebesbanden", "Alkolenkern" etc. Wie es den Menschen in Osteuropa wirklich
geht, interessiert doch kaum jemanden wirklich. Das merkt man auch an Ton und Form der zwanzigjährigen Danksagungen. Sie beweisen, dass man sich eigentlich
nichts zu sagen hat. Den Ton geben ohnehin andere an.
Riesige Volksverarschung nationaler und sozialliberaler Gaukler
Ungarn ist auch an sich selbst gescheitert. Die Spaltung des Landes in ein
"nationalkonservatives" und ein "sozialliberales" Lager, ist ja nichts weiter als das Ergebnis einer riesigen Volksverarschung, die vorgaukeln soll, irgendjemand könnte
den entfesselten Turbokapitalismus an die Leine legen. Die einen logen und lügen mit nationalen Parolen, die anderen lockten mit EU und Globalisierung. Beide Seiten
betrogen und bestohlen das Land, und wenn sie es doch manchmal ehrlich meinten, waren sie unfähig, die richtigen Entscheidungen zu treffen oder durchzusetzen, so
dass Ungarn mit Ausbruch der Krise derart geschwächt war, dass es unter allen Ostländern am ehesten drohte zusammenzubrechen.
Heute muss es durch milde Gaben gestützt werden, die soziale Kälte hat das ganz
Land gepackt, Nazis werden zu wählbaren Bürgern und bestimmen den Ton und den Gegner, vernachlässigte Minderheiten fürchten zum Teil um ihr Leben. In den
wichtigsten Disziplinien eines "demokratischen Gemeinwesens" hat Ungarn aber verloren oder versagt. Eine wehrhafte Zivilgesellschaft gibt es nicht, Ungarn
bräuchte eigentlich eine neue Demokratiebewegung, so wie vor 20 Jahren.
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Rechts und billig. Das ist uns Ungarn heute. Der Forintkurs versüßt uns den Urlaub,
aber Vorsicht: wenn Sie sich am Balaton billig braun braten lassen, achten Sie darauf, wo sie sich anschließend aufhalten. Es gab vor Jahren dieses ausladende
T-Shirt "Magyar vagyok - nem túrista" (Ich bin Ungar, kein Tourist). Vor allem wenn Sie neben der frisch gebräunten Haut auch noch zu dunklen Haaren neigen, raten
wir zum Tragen eines T-Shirts mit der Aufschrift: "Túrista vagyok, nem cigány (zsídó, "kommunista")." (Ich bin Tourist, kein Zigeuner, Jude, "Kommunist"). Man
weiß hier heute nie.
Die westlichen Delegationen mit ihren Staats- und Regierungschefs, die heute nach
Ungarn gekommen sind, um sich zu bedanken, sollten sich - gemeinsam mit den politischen und wirtschaftlichen "Eliten" Ungarns - lieber entschuldigen. Für ihr
eigentliches Desinteresse und die Beschränkung auf das Ökonomische. Dafür, dass man Ungarn nicht früher davor gewarnt hat, dass der Kapitalismus, wenn er nicht
an der kurzen Leine gehalten wird, eine gefährliche Droge und Waffe ist. Dafür, dass man ein Volk durch merkantile Umerziehung und gemeingefährlichen
Populismus allmählich seiner menschlichen Attribute und seiner Würde beraubt. Wenn man einmal darüber spräche, was man außer Reisefreiheit und Aldi alles nicht
erreicht hat in den zwanzig Jahren, dann hätte dieses Thanksgiving in Budapest auch einen Sinn und nicht nur einen äußeren Anlass. Aber dazu wird es nicht kommen, da ist das Protokoll davor.
Marco Schicker
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