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(c) Pester Lloyd / 26 - 2009 POLITIK 23.06.2009
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Flügelkampf der lahmen Enten

Ungarns Sozialisten haben nichts mehr zu gewinnen

Bei den ungarischen Sozialisten rumort es vor ihrem Parteitag am 4. Juli gehörig. Während jüngere, reformorientierte Gruppen der MSZP zum Sturm auf die Parteispitze blasen, meinen die eingesessenen Parteioberen, man bräuchte nur einen feschen Spitzenkandidaten und geschlossene Reihen. Manche hoffen auf einen Linksruck, weg von der "Milliardärs- und Privatisierungspartei", zurück zu einer echten Sozialdemokratie. Andere sagen eine langanhaltende Agonie voraus. Auch vorgezogene Neuwahlen sind längst nicht mehr nur ein Thema der Opposition.

Der Fidesz braucht seine sonst täglich wiederholte Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen kaum noch bemühen, denn mittlerweile diskutieren auch viele Sozialisten nicht mehr das Ob, sondern nur noch das Wann. Beobachter rechnen damit, dass nach dem Durchwinken der Steuergesetze und des Budgets für 2010, am Parteitag die Initiative zur Auflösung des Parlamentes und zur Ausrufung von Neuwahlen für den Herbst folgen könnte.
 

“Was haben wir jetzt zu tun?” fragte die MSZP leichtsinnig auf einem ihrer Wahlplakate. “Sich zum Teufel scheren...” antwortete (sehr freundlich übersetzt) ein Bürger. Die Stimmung gegenüber den ungarischen Sozialisten trifft er damit genau.

Es setzt sich also auch bei den Parteioberen mit dem hartnäckigsten Sitzfleisch allmählich die Einsicht durch, dass die MSZP durch das Zeitspiel eines weiteren Klammerns an der Macht nichts mehr zu gewinnen hat. Mit dem Hinweis auf die Unterstützung der "Expertenregierung" in Krisenzeiten beim Volk noch zu punkten, daran glauben nur noch ganz sture Einzelgänger. Das Desaster bei der Europawahl, mit nicht einmal 18%, war für die meisten doch zu deutlich. Zu verlieren ist praktisch auch kaum noch etwas. Ein reinigendes Gewitter erwartet das ganze Land. Der nationalkonservative Fidesz, dem eine Zweidrittelmehrheit vorhergesagt wird, kann dann zeigen, ob er neben blockieren und schimpfen auch regieren und die Krise managen kann. Die Selbstentzauberung wird ernüchternd werden, so hoffen es die Sozialisten.

Leben oder sterben lassen

Bei der MSZP konzentriert sich jetzt alles auf den Parteitag am 4. Juli, die Flügelkämpfe der lahmen Enten sind schon voll im Gange. Geht es nach den reformwilligeren Genossen, vor allem aus den MSZP-Hochburgen Südungarns, wird der Kongress zu einer Art Stunde Null. Wie schon berichtet, bereiten einige den offenen Sturz der Parteispitze vor, um eine personelle Kompletterneuerung zu erreichen, die, einhergehend mit einem neuen Programm, das Soziale in den Mittelpunkt rückt und so einen Neustart der MSZP ermöglichen soll.

Parteichefin Ildikó Lendvai und weitere altgediente Kader, wie Sozialminister Péter Kiss, der, hätte er noch Haare, als graue Eminenz der Partei zu bezeichnen wäre, sehen das freilich etwas anders. Ihre Intentionen sind grob zusammen gefasst die: Zusammenhalt, programmatische Geisterfahrt, (da man die Wahl ohnehin kellertief verlieren wird, kann man ja alles versprechen) und echte Erneuerung erst nach der Wahl. Dann in der Opposition.

Richtig unwirsch werden die Funktionäre, wenn da irgendwelche Jungspunde die Tagesordnung mit einer Vertrauensabstimmung über die Parteiführung bereichern wollen. Das sei ja keine Veranstaltung, wo jeder seine privaten Wünsche auf die Tagesordnung bringen könne, verriet Kiss sein demokratisches Verständnis. Ildikó Lendvai, die erst seit gut zwei Monaten die Partei führt, hat vor allem die Suche nach einem geeigneten Spitzenkandidaten als Aufgabe gestellt, nicht zuletzt auch, um von ihrer Personalie abzulenken. Für die jüngeren Parteimitglieder ist der Kurs der Alten tödlich. Für sie geht es darum, den Schnitt so schnell und radikal wie möglich zu machen, um nicht auszubluten. Leben oder sterben lassen, um es cineastisch-brutal auszudrücken.

Auch der Fraktionschef der MSZP im Parlament, Attila Mesterházy, der eher als Reformer gilt, hat nun zur Geschlossenheit aufgerufen. Am Dienstag erklärte er, dass die Uneinigkeit einer der größten Fehler der Linken sei, zu der er die MSZP offenbar gezählt wissen will. Es brauche nun Teamgeist und keine Einzelkämpfer.

Damit kritisierte er direkt auch verschiedene wichtige und unwichtige Parteimitglieder, die sich jetzt in der Öffentlichkeit zur möglichen oder nötigen Strategie der Partei äußern. So hat Fraktionskollege Tibor Szányi offen "ein Abbiegen nach links" und einen "kompletten Führungswechsel" gefordert. Mesterházy ermahnte den Kollegen, ebenfalls öffentlich, dass man so etwas in der Fraktion bepsrechen sollte. Pikant an der Sache: Mesterházy gilt selbst als Kandidat für den Parteivorsitz, spielt also, taktisch geschickt, auch eigene Ambitionen herunter.
 

Ob die Zeit der MSZP-Chefin Ildikó Lendvai schon bald wieder abgelaufen ist, steht noch nicht fest. Die Zeit der erhobenen Zeigefinger ist für die Sozialsiten aber allemal vorbei.


Hoffnungsträger, Übergangspapst oder Lendvais Schoßhündchen?

Als ein Hoffnungsträger könnte László Botka, derzeit Bürgermeister von Szeged und Vorwahlkampfleiter der Partei, aufgebaut werden. Da für die MSZP keinerlei Gefahr besteht den Ministerpräsidenten stellen zu müssen, könnte die Partei, ohne dass die Machtambitionen diverser Großköpfe beschnitten würden, einen relativ unkorrumpierten, recht beliebten Provinzpolitiker wie Botka als Übergangspapst walten lassen, der das soziale Gewissen und die Stimme des Volkes gibt. So hätte man Zeit, einen wirklich geeigneten Kandidaten für 2013 oder 2014 aufzubauen.

Dass Botka nicht der große Reformer ist, merkt man schon daran, dass Lendvai ihn selber lanciert und als "neues Gesicht" anpreist. Sie sagte, er solle vor allem nicht kontroversiell sein, ein Schoßhündchen will sie also. Ansonsten geht bei ihr schon alles auf die Planung der Oppositionsarbeit. Dabei wird man nicht nur in all jenen Bereichen ansetzen, die sozialdemokratisches Terrain sein sollten und in denen die Erfolgsquote des Fidesz krisenbedingt am geringsten sein wird, sondern auch in von Populisten umlagerten Gewässern fischen. Nach Lendvai geht es vor allem um Positionierungen zu den Themen öffentliche Sicherheit und Sozialpolitik. Um all das zu koordinieren, will man eine "nationales Wahlkomittee" bestimmen, auch um weiteren Flügelstreit zu vermeiden.

Am besten brachte Vizeparteichef und Verteidigungsminsiter Imre Szekeres die rat- und hoffnungslose Lage der Sozialisten auf der Suche nach einer neuen Führungsfigur auf den Punkt. Im Kossuth-Radio sagte er: "Wir sollten jemanden finden, der demonstrieren kann, dass die MSZP eine glaubwürdige Linkspartei ist. Ich habe keine Ahnung, wer das sein könnte."

red.

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