(c) Pester Lloyd / 39 - 2009
KULTUR 25.09.2009 _______________________________________________________
Puszta und Gummistiefel
Unterwegs im Volkskundemuseum Budapest
Mit 193.000 Exponaten gehört die Dauerausstellung des Volkskundemuseums über die Kulturen und Völker der Ungarn zu den größten ihrer Art. Auch
eine Reminiszenz an die entfernten Verwandten in Finnland lässt sich dort besichtigen. Von Puszta-Romantik über finnische Gummistiefel bis zu
Autoreifen darf sich der Besucher staunend fragen, was das alles miteinander zu tun hat.
Das Gebäude beeindruckt: ein gigantischer
Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert des historisierenden Eklektizismus, der Renaissance-, Barock- und Klassizismuselemente miteinander vereint, ohne rot zu werden. Die
prachtvollen Säulenstatuen, das edle Weiß und viel Gold lassen den Besucher zunächst die Ausstellung vergessen. Im Jahre 1957 ist an dieser Stelle dem Führer des ungarischen
Widerstands gegen die sowjetische Besatzung und den hauseigenen Stalinismus, Imre Nagy, der Prozess gemacht worden. Die Lage am Kossuth Platz, gegenüber dem riesigen
Parlament, betont zudem die offizielle Bedeutung, die man dieser Einrichtung beimisst.
Puszta reloaded: Ländliches Leben und Arbeiten
Vor der Ausstellung für das ungarische Volk befindet sich ein Schild in englischer
Sprache. Eine Entschuldigung. Dem Museum sei es nicht möglich, die gesamte ungarische Kultur darzustellen. Ob nun aus technischen oder finanziellen Gründen
oder weil der Reichtum dieser Kultur niemals Platz in einem noch so großen Haus finden kann, bleibt vorerst offen. Das Museum wurde 1973 eröffnet und diente
daher vor allem der Identitätsinterpretation nach realsozialistischen Vorstellungen. So steht das harte Los des einfachen Volkes im Zentrum der
Exponate und Arrangements, die wissenschaftliche Betrachtung von Herkunft, Einflüssen und Habitus, also die eigentliche Volkskunde war der Ideologie
Untertan. Das ländliche Leben des 18., 19. und 20. Jahrhunderts wird thematisiert, handwerkliche Techniken wie Stickereien und Keramik dominieren.
Schön anzusehen sind in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen ausgestellten Trachten. Neben magyarischen sind auch die Kleider der nicht
magyarischen Bevölkerungsteile zu bewundern (Sachsen, Schwaben, Slowaken).
An einigen Stellen stehen die liebevoll platzierten
Exponate, die vom Fischerboot bis zur Schmiede des 17. Jahrhunderts reichen, einfach nur für sich. Bei anderen Ausstellungsstücken wird mit Effekten nachgeholfen: Wandfüllende Bilder z.B.
von Graurinderherden schaffen die Illusion, der Besucher würde mit den für ihre Wildheit berüchtigten Puszta-Pferdehirten durch die ungarische Tiefebene reiten. Fotos von ländlichen
Großfamilien, Pista Bácsi (der ungarische Michel) beim Mittagessen auf dem Feld und viele andere bemerkenswerte Aufnahmen geben einen direkten und lebensnahen Einblick ins Dorfleben
Anfang des 20. Jahrhunderts.
Ikea und der Mythos der Finno-Ugristik
Die Ausstellung „Was denken wir über die Finnen – Finnland, eine ungarische
Perspektive“ beginnt mit der traditionellen Suche nach Gemeinsamkeiten von Ungarn und Finnen. Volksgruppen beider Länder wanderten vor über 1000 Jahren
gemeinsam aus dem asiatischen Uralgebirge aus. Die finno-ugrischen Völker sollten sich in der Folgezeit mehrfach spalten. Die letzten großen übrig
gebliebenen Gemeinschaften, die sich bis heute der finno-ugrischen Sprachen bedienen, sind die heutigen Finnen und Ungarn, wobei die Übereinstimmungen
ihrer gegenwärtigen Sprachen (ganz zu schweigen von sonstigen fehlenden kulturellen Gemeinsamkeiten) nur marginal sind. Dennoch wird gleich zu Beginn
der Ausstellung der historische Zusammenhang verdeutlicht.
Die ungarische Rechte, voran die Partei Jobbik, wünscht eine Umschreibung
der Geschichte und auch der Geschichtsbücher. Das Finno-ugrische sei nur ein unwissenschaftliches Konstrukt der Habsburger, um im Vielvölkerkerker ja
keine nationale Identität aufkommen zu lassen. In Wirklichkeit, so Jobbik, stammten die Ungarn von den Skythen ab, und zwar von der Hun-Abteilung.
Das war ein Reitervolk aus dem 1. Jahrtausend vor Christus, von denen es keine schriftlichen Überlieferungen gibt, die eine iranische Sprache benutzten und
irgendwann im Süden Russlands abtauchten. Als Beweis für eine Art Landnahme tausend Jahre vor der offizielle Version zieht man dreipfeilige
Pfeilspitzenfunde im heutigen Ungarn an, die man den Skythen zuschreibt. Doch nichts genaues weiß man nicht und von Hun-Skythen hat noch kein
Wissenschaftler etwas gehört. Dreispitzige Pfeilspitzen benutzten indes ungefähr zwei dutzend Völkerschaften.
Was folgt sind Exponate, die zeigen sollen, was die Ungarn von den Finnen
denken. Neben dem traditionellen Leben in der finnischen Wildnis und der Jagd wird vor allem die Postmoderne thematisiert. Fotos von finnischen Familien und
das hübsche, eher schlichte ausgestellte Geschirr lassen Ikea-Atmosphäre aufkommen. Und trotzdem sollen hier die großen Fragen beantwortet werden:
Inwiefern hängen Tradition und Postmoderne zusammen. Wieso sind die Finnen für die Ungarn bis heute so wichtig? Was ist typisch finnisch?
Hervorzuheben wäre in diesem Zusammenhang
vielleicht noch die postmoderne Jugendkultur des Pagan Metals, die in den letzten zehn Jahren immer populärer geworden ist. Pagan basiert auf den heidnischen Ursprüngen der europäischen
Völker und belebt somit sowohl in Finnland als auch in Ungarn das Bewusstsein für eine gemeinsame Vergangenheit. Möchte der Besucher alle großen und kleinen Gedanken der
Ausstellung verstehen, so ist er gehalten viel zu lesen. Die Exponate verlieren im Verlauf der Ausstellung leider an Aussagekraft, so können gegen Ende nagelneue Gummistiefel, modernes
Werkzeug für Baumfäller und selbst Autoreifen bestaunt werden. Diese stellen zwar keine Augenweide dar, sind jedoch in den beistehenden Texten plausibel ins
Gesamtkonzept der Ausstellung eingebettet. Auch wenn sich prächtig über Sinn und Unsinn einer isolierten Volkskunde im europäischen Raum zweifeln lässt, sogar für die Ungarn.
Néprajzi Múzeum – Volkskundemuseum Budapest 1055 Budapest, Kossuth Lajos tér 12.
Di – So 10 bis 18 Uhr Tel.: 0036/1/4732-440 Fax: 0036/1/4732-441 E-mail: info@neprajz.hu Homepage: www.neprajz.hu Erwachsene 800,- HUF (62-70 J. 400,- HUF) Schüler 6-26 J. 400,- HUF, Rentner haben freien Eintritt!
Tibor Wilhelm Benedek
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