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(c) Pester Lloyd / 31 - 2009 POLITIK 27.07.2009
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Brieffeindschaft

Die Anzeichen für vorgezogene Neuwahlen in Ungarn mehren sich wieder

Erst schrieb der Ministerpräsident den Parteien und bat um weitere Unterstützung für seine Politik. Dann philosophierte der Oppositionschef in "seiner" Zeitung. Beide schrieben herzhaft aneinander vorbei. Der feindselige Stillstand in Ungarn ruft nach Auflösung. Das Fernduell wird als Zeichen betrachtet, dass die Zusammenarbeit der in Minderheit regierenden MSZP mit dem SZDSZ, also dem Ex-Koalitionspartner und jetztigen Mehrheitsgarant (einmal wieder) vor dem baldigen Aus stehen könnte.

Sitzen oft nah beieinander, aber schreiben sich lieber als zu reden.
Fidesz-Chef Viktor Orbán (noch hinten), Regierungschef gordon Bajnai (noch vorne).

Vor allem die Töne, die der neue Chef der Liberalen (SZDSZ), Attila Retkes, nach seiner Wahl anschlug und die seine Partei fast vernichteten, lassen bei den Konservativen die Hoffnung auf baldige Neuwahlen wieder aufleben. Im Wege stehen diesen praktisch nur noch die sturen Fraktionsmitglieder des SZDSZ, geführt von Ex-Wirtschaftsminister János Koka, der seinem Parteichef offen widerspricht und einen Rücktritt von seiner Funktion ablehnt.

Bajnais Ruf nach Unterstützung - Taktik?

Ministerpräsident Gordon Bajnai spricht, betont sachbezogen, in seinem Brief an alle Parlamentsfraktionen davon, dass die "chronische, strukturelle Krise" Ungarns noch längst nicht überwunden ist und nur durch weitere konsequente Umbau-, Spar und Investitionsmaßnahmen beherrschbar wird. Er listet viele Kellerleichen auf, die zu bergen sind: die Entschlackung staatlicher Ämter, der öffentliche Verkehr, zahlreiche administrative Überschneidungen bei den lokalen und regionalen Verwaltungen und der generelle Abbau bürokratischer Hürden. Zentrales Thema sei allerdings die weitere Stabilisierung der Staatsfinanzen, wozu er für Anfang Herbst die Unterstützung möglichst aller Parlamentsparteien zur Aufstellung eines krisenkonformen Budgets für 2010 benötige.

Man kann dieses Schreiben, dass etwas zu umgehend von MSZP-Chefin Lendvai unterstützt wurde, als den Hilferuf eines an Sachlösungen interessierten "Expertenpremiers" interpretieren, genauso gut aber auch als Schützenhilfe für die taumelnden Sozialisten (Bajnai ist ein alter Weggefährte aber parteilos), die beim Scheitern der Quasikoalition mit dem Finger auf die anderen Parteien zeigenund sie der Sabotage am Land bezichtigen könnten. Das ist zwar angesichts der schwachen Stellung einer politisch ruinierten Partei nur Leuchtspurmunition, doch andere Waffen hat die MSZP derzeit nicht zu bieten.

SZDSZ: Wir unterstützen weiter, aber immer weniger

Die Erklärung, die Retkes am Sonntag als Reaktion auf Bajnas Brief abgab, (der im übrigen ja nicht an ihn, sondern an seinen verfeindeten Fraktionschef gerichtet war) ist nicht nur schwammig, sondern letztlich ein Nachweis politischer Unfähigkeit. Rettkes sagte allen Ernstes, dass die Freien Demokraten die Antikrisenmaßnahmen der Regierung weiter unterstützen werden, sonst aber "keine weitere" Unterstützung zu erwarten sei. "Wir stimmen darin überein, dass weder die Krise noch das Antikrisenmanagement schon vorüber sind. Hierbei können Sie sich auch zukünftig auf die Freien Demokraten zählen. Doch schon die vorige Parteiführung war nicht bereit, weitere Maßnahmen zu unterstützen und die derzeitige Führung wird noch weniger Unterstützung versprechen." Wundert man sich da, wenn die Ungarn meinen, diese Partei braucht keiner mehr? Der eigentlich angesprochene, János Koka, ging, wohlweislich nur auf einige fachliche Details ein und kommentierte die Reaktion "seines" Parteichefs nicht weiter. (siehe auch: SZDSZ zerbricht - Massenaustritte und "Schlammschlacht" bei den Liberalen in Ungarn)

Orbán: Neues Zeitalter der ungarischen Rechten

Der Fidesz-Chef und wahrscheinlich nächste Ministerpräsident des Landes, Viktor Orbán, ging es in einem fast zweiseitigen Schreiben an die Leser der Rechtspostille "Magyar Nemzet" hymnisch an. Die Rechte (als die sich Konservative in Ungarn recht offen bezeichnen) sei ohne Gegner auf dem "politischen Schlachtfeld". Eine Wortwahl, die viel über das Politikverständnis in Ungarn aussagt. Orbán würdigte nochmal die Siege der Parteien rechts der Mitte "in ganz Europa" und meint, dass die "derzeitige Krise des Neoliberalismus eine Krise der modernen Linken ist".

Ganz im Duktus einer Regierungserklärung fährt er fort: "Die moderne Rechte kann der Bannerträger des regulierten Marktes sein (...), sie wird die einfache Wahrheit verkünden, dass wir nicht tolerieren werden, dass Einer auf Kosten des Ruins des Anderen reich werden kann. Weder im Dorf noch auf dem globalen Markt." Was jetzt nötig sei, ist klar und Orbán wiederholt es zum tausendsten Male: "ein Ende der Gyurcsany-Bajnai-Ära". Die Verantwortlichen für "die Schäden" müssten zur Verantwortung gezogen werden. "...Herstellung der öffentlichen Ordnung, Wiederherstellung der Arbeitsehre, Wachstum, Unternehmergeist." (...) "Die Familie und die Nation bedeuten sowohl große Verantwortung wie große Möglichkeiten für ein neues Zeitalter der ungarischen Rechten."

Péter Szijjarto, eine Art Stabschef beim Fidesz, meinte auf Bajnais Schreiben, die beste Krisenlösung wäre, dem Volk die Möglichkeit zu geben, eine Entscheidung über die Zukunft und "Ungarns Erneuerung" zu treffen. Ungehalten auf Szijjartos Standardantwort reagierte István Nyakó, Sprecher des MSZP, auch mit einer Standardantwort. In Zeiten der Krise müsse das Land zusammenhalten, die an Politik Beteiligten müssten zusammenarbeiten, doch der einzige Partner, den Fidesz hat, seien die Rechtsradikalen von Jobbik, mit denen das Fidesz in vielen Lokalparlamenten kooperiere.

Die Mehrheit der Ungarn wünscht sich baldige Neuwahlen. Die Verabschiedung des von Bajnai vorgezogenen Staatshaushaltes für 2010 auf September/Oktober könnte der Startschuss dafür sein. Viktor Orbán und seine Partei können dann, so hoffen auch jene, die den Fidesz nicht unterstützen, den salbungsvollen Worten endlich heilende Taten folgen lassen. Wenn sie können.

M.S.

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