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(c) Pester Lloyd / 2008 STADTLEBEN
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Ein Bezirk mit vielen Facetten

Das Nebeneinander von Alt und Neu in der Ferencváros

Bei einem Spaziergang durch die Ferencváros (Franzenstadt), die ihren Namen 1792 im Rahmen der Inthronisierung von Ferenc I. bekam, fällt man von einem Extrem ins andere.

Da ist zum einen der bezaubernde, innerstädtische Teil zwischen dem kleinen (Vámház körút) und dem großen Ring (Ferenc körút), der von geschlossenen, drei- bis fünfstöckigen Mietshäusern aus der Zeit um die Jahrhundertwende geprägt ist. Auch das einstige Zollhaus, das heute die Universität für Wirtschaftswissenschaften ist, die zentrale Markthalle und das Museum der Handwerkskunst befinden sich hier.

Die Ráday utca in Ferencváros, heute Fußgängerzone und Szeneviertel
Foto: Pester Lloyd

Zum anderen gibt es in der Ferencváros jedoch auch bedrückende Straßen, wie die Mester und Haller utca mit ihren heruntergekommenen Häusern, schwer beschädigten Straßen und beschmierten oder abbröckelnden Fassaden. Nachts möchte man in den kleinen Nebenstraßen nicht alleine unterwegs sein. Auch bei Tageslicht wirkt hier alles dunkel, grau und verstaubt. Man muss aufpassen, wo man hintritt, um nicht in einem Loch zu versinken oder in Hundekot zu landen, was einem natürlich auch an vielen anderen Orten der Hauptstadt passieren kann.

Ganz anders sieht es jedoch wieder an Plätzen aus, die mit hochmodernen, herausgeputzten Bauten, wie der Palast der Künste oder das gegenüber gelegene Nationaltheater, protzen. Wenn man mit der 2er Straßenbahn den geradegezogenen, langen Weg an der Donau gen IX. Bezirk entlang fährt, stimmen einen die zu rechter Hand gelegenen, neuen, fortschrittlichen, jedoch teilweise verlassen wirkenden Appartementblocks auf den sogenannten „Milleniumpark” ein. Dort angekommen fühlt man sich in eine andere Welt versetzt und kommt aus dem Staunen nicht heraus.

Zwischen diesen Extremen befindet sich die Ráday utca, die einen mit alten, renovierten, aber auch modernen, futuristischen Gebäuden erwartet. Voll mit kleinen Geschäften, Bistros, Cafés und Restaurants bildet sie eine Vergnügungsmeile für Jung und Alt. Doch auch die Selbstverwaltung des Bezirks, das Goethe-Institut und eine Kirche sind in der Straße anzutreffen, sodass die verkehrsberuhigte Ráday utca insgesamt ein abwechslungsreiches und abgerundetes Bild abgibt. Der Vizebürgermeister des Bezirks, Tamás Bánsághi, nannte die Ráday utca bei der Vital Cities Konferenz die „repräsentative Hauptstraße” der Ferencváros. Zwar müssten das Parkproblem noch gelöst und die Fußgänger- und Radfahrerzone erweitert werden, doch insgesamt sei die Revitalisierung der 1,5 Kilometer langen Straße gut gelungen, so Bánsághi.

Die Geschichte

Entstanden ist der Stadtteil Anfang des 18. Jahrhunderts, 1733 hatte er ganze 1.864 Bewohner (heute sind es etwa 65.000, ihre Zahl nimmt jedoch drastisch ab, 1990 lebten hier noch 78.000 Einwohner). Damals bestand der Großteil des Bezirks aus Weiden, Blumen- und Gemüsegärten, woran auch heute noch Straßennamen wie Liliom (Lilie), Viola oder Bokréta (Blumenstrauß) erinnern. Zu dieser Zeit war die Hauptstraße die damals noch Soroksári genannte Ráday utca, die heute zwar den gleichen Ruhm wiedergewonnen hat, aber ein ganz anderes Gesicht als damals zeigt. Im 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts standen hier in erster Linie nur einfache Familienhäuser mit Garten, das Bild des Bezirks wurde von Gehöften und Wassermühlen bestimmt. Die Ferencváros wurde aber zu dieser Zeit mehrmals von Naturkatastrophen heimgesucht: 1716 wütete hier das Feuer, 1795 und 1838 wurde der Stadtteil von Hochwasser verwüstet.

Bei der zweiten, größeren Überschwemmung 1838 blieben von den 529 Häusern des Stadtteils nur 19 stehen, was vor allem der Tatsache zu verdanken war, dass damals die Häuser noch aus Lehm gebaut wurden. Nach dieser Katastrophe wurde ein Damm errichtet und von nun an baute man Häuser aus Ziegelstein. Die ältesten Gebäude des Bezirks wurden alle nach 1838 gebaut, nur zwei ältere Gebäude stehen auch heute noch: die reformierte Kirche am Kálvin tér und das Eckhaus unter Nummer der 9, ebenfalls am Kálvin tér, der ehemalige Gasthof „Zwei Löwen“.

Die Revitalisierung

Vor 15 Jahren begann die Stadtverwaltung mit der ganzheitlichen Revitalisierung des Bezirks. Zwischen 1990 und 1998 wurden 4,5 Milliarden Ft zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt. An der Ráday utca kann man die Erfolge sehen. Doch der Prozess zur Verschönerung und Belebung des Bezirks ist noch längst nicht abgeschlossen – falls er das überhaupt jemals sein wird. Das jetzige Hauptaugenmerk der Stadtverwaltung liegt auf einem circa 70 Hektar großen Gebiet, zwischen Üllôi út, Ferenc körút, Mester und Haller utca. Baufällige, alte Häuser, bei denen sich zum Beispiel die Toiletten noch im Flur befanden, und heruntergekommene Mietskasernen wurden in der Vergangenheit abgerissen. Die Baulücken werden in drei bis vier Jahren mit dem heutigen Standard entsprechenden Wohnhäusern gefüllt. Das hängt jedoch stark vom Immobilienmarkt ab. An den Ausschreibungen der Stadtverwaltung beteiligen sich Immobilienentwickler und Privatinvestoren, die den größten Teil des Geldes zum Projekt beisteuern. Die Selbstverwaltung stellt ebenfalls Geld zur Verfügung, der Staat jedoch bezahlt nichts. Die Bewohner der abgerissenen Häuser werden vorübergehend in anderen, extra für diesen Zweck vom Bezirk gekauften Wohnungen untergebracht. Nach Einweihung in die Bauvorhaben und Änderungen können sie sich entscheiden, ob sie zurück in ihr alt-neues Heim ziehen oder lieber die Übergangswohnung behalten wollen. Egal wie die Bewohner sich entscheiden, die Wohnqualität ist allemal besser als zuvor. Jedoch ist mit erhöhten Mietpreisen für die neuen, komfortableren und meist größeren Wohnungen zu rechnen.

Auch die Renovierung verfallener Häuserblöcke, die nicht abgerissen werden können, gehört zum Projekt der Revitalisierung. Die Stadtverwaltung möchte auf jeden Fall das alte Gesicht des Bezirks aufrechterhalten, man will keine „Stadt in der Stadt“ aufbauen, sondern durch Renovierungen dazu beitragen, dass die Ferencváros ihren unverwechselbaren Charakter behält. Da die Auffrischung jedoch sehr teuer und für Investoren in der Regel unrentabel ist, geht diese nur schleppend voran. Die Stadtverwaltung des IX. Bezirks hofft jedoch, dass die Renovierung innerhalb der nächsten zehn Jahre beendet sein wird.

Alles in allem hat die Ferencváros schöne und hässliche, alte und neue, moderne und originale Ecken zu bieten. Es bleibt zu hoffen, dass die Revitalisierung weiterhin mit Erfolgen gekrönt sein wird, die die Bewohner und das Auge des Betrachters beglücken werden. Doch Vorsicht sei geboten, denn das Motto „Aus Alt mach Neu“ ist nicht immer erstrebenswert.

Bettina Biester / Katrin Wolschke

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