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(c) Pester Lloyd / 38 - 2009  POLITIK 15.09.2009
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Kommentar

Prügel fürs tapfere Schneiderlein

Die Budgetdebatte im Parlament beleidigt die Intelligenz des ungarischen Volkes - Neuer Parlamentspräsident gewählt

Diametral entgegengesetzt sind die Standpunkte der beiden großen Fraktionen nicht nur bezüglich des Budgets. Es geht im ungarischen Parlament aber längst nicht mehr um sachliche Auseinandersetzung, sei sie auch scharf. Medial wirksame Konfrontation, eine Art Dauervorwahlkampf ist alles, was man vom "hohen" Haus noch geboten bekommt. Einige Kostproben vom ersten Sitzungstag sollen daher genügen.

Wie geht man erhobenen Hauptes ohne zu stolpern?
Ungarns Premier Bajnai nach seiner Eröffnungsrede. Foto: fidesz.hu

Ungarns Elend spiegelt sich auch in der hohlen Rhetorik seiner Volksrepräsentanten. Was heute bezüglich der ersten Debatte der Herbstsessionen im Parlament über die Bühne ging, ist nichts weiter als eine sture, mechanische Aneinanderreihung von Parolen und Phrasen. Ministerpräsident Gordon Bajnai gab einmal mehr das fleißige Bienchen und sprach von einem "maßgeschneiderten und verantwortlichen" Budget. Dass das tapfere Schneiderlin dabei mit der Hälfte des Stoffes auskommen musste und daher vorne fehlt, was hinten zu kurz ist, musste er nicht sagen, denn die ganze Welt weiß das längst.

Bajnai riecht schon den süßen Duft des Wachstums

Der sich gern als neutraler Technokrat, als erster Diener des Staates gebende Bajnai machte jedoch den Fehler, dass er behauptete, der Staatshaushalt 2010 trage schon den süßen Duft des Wachstums ins sich. Er hätte es sich wohl leichter gemacht, wenn er schlicht erklärt hätte, dass der IWF und die EU die Feder führten, vom Defizitziel über die Steuerreformen bis hin zur Subventionsstreichung. Mehr Geld ist nicht da und selbst dieses wenige ist nicht einmal sicher. Ungarn ist momentan nicht Herr der eigenen Kasse. Basta. So aber weckte er den Eindruck, als ob die Ungarn nur noch durch das Jahr 2010 durchtauchen müssten und dann ist wieder alles in Ordnung. Seine Aussage, das Budget könnte der "letzte Krisenhaushalt" Ungarns sein, ist auf eigenen Prognosen also letztlich auf wandernden Sanddünen gebaut. Der Opposition gab er damit eine weitere Vorlage, obwohl die auch ohne ausgekommen wäre.

Auch zwei herausragende Sparpunkte im Haushaltsentwurf belasten Bajnais Glaubwürdigkeit in Bezug auf seine stets betonte Unabhängigkeit von den Sozialisten. Da sind einmal die Milliardenstreichungen bei der Staatsbahn MÁV (ca. 80 Mrd. HUF). Die Bahn hat einen Chef, der zum Fidesz gehört. Den hat zwar Bajnai selbst eingesetzt, um dem Unternehmen, in Voraussicht des nächstjährigen Wahlergebnisses, Stabilität zu gewähren, wie er sagt. Ausbaden muss der Neue die Sache aber doch. Und zum Zweiten die massiven Kürzungen bei den kommunalen Selbstverwaltungen. Diese werden zwar auch von einigen Aufgaben entbunden, drohen nun aber trotzdem in die finanzielle Klemme zu kommen, auch wenn sie durch Misswirtschaft und Korruption meistens selbst provoziert wurde. Die meisten Kommunen sind mittlerweile in Händen des Fidesz, denen es so leicht gemacht wird, den Budgetentwurf als Wahlkampfhilfe für die MSZP zu brandmarken, auch wenn Bajnai das wirklich nicht beabsichtigt hat.

Unter Aufsicht seines Chefs: Navracsics (li.) hat leicht reden, aber wenig zu sagen.
Fotos: fidesz.hu

Fidesz: das gefährlichste Budget seit 20 Jahren

Was Viktor Orbán zum Budget zu sagen hat, ist das gleiche was er der ganzen Regierung predigt und auch der Linken in ganz Europa schon prophezeit hat. Rückzug auf der ganzen Linie. Sein Standpunkt ist so konsequent wie faktenlos (wir berichteten hier über seinen Auftritt am Wochenende). Der Fidesz wird sicher nach der Wahl einen pathetischen Kassensturz veranstalten und das Budget köpfen. Wie sie es besser machen wollen, behält man für sich, schon allein, weil man es selbst nicht weiß. Zu seiner Kassandra-Rede vom Wochenende vor Parteianhängern fügte er im Parlament am Monatg noch hinzu, dass dieser "Haushalt, der gefährlichste der letzten 20 Jahre ist". Die Krise wird durch diesen verschärft und Lotto mit der Zukunft gespielt.

Der Fraktionschef des Fidesz, Tibor Navracsics sekundierte in der üblichen Weise und behauptet, dass Bajnai "jeden nur denkbaren Schritt unternommen hat um Ungarn krank und instabil zu machen." Einem Regierungschef die Kompetenz abzusprechen, ist natürlich Standardvokabular aller Oppositionsparteien, nicht nur in Ungarn. Ihm aber zu unterstellen, er tue alles um das Land zu Grunde zu richten, ist eigentlich starker Tobak. In Ungarn ist das völlig an der Tagesordnung. Der Fidesz verkauft permanent die These einer sozialistisch-globalistischen Weltverschwörung, die sie stoppen werden. Die rechte Flanke fügt dann noch das jüdisch hinzu und fertig ist der politische Brei, der von vielen derzeit gelöffelt wird. Navracsics´ Leier sang noch weiter von internationaler Blamage, Vorgaukelung vermeintlicher Stabilität, brachte aber selbst keine klaren Gegenvorschläge ein.

Ob die zuletzt leicht sinkende Zustimmung für Fidesz auch damit zusammenhängt, dass die intelligenteren unter den konservativ eingestellten Ungarn allmählich genug haben von den immer gleichen hohlen Tiraden, ist nicht sicher. Es könnte auch einfach ein Urlaubstief sein. Fakt ist, dass wir unsere Leser vor weiteren Worthülsen der Herbstpalaver im Parlament weitgehend verschonen werden und uns auf die messbaren Beschlüsse und Ergebnisse beschränken. Natürlich werden wir auch sachdienlichen Hinweisen zu konkreten Programmen der Opposition nachgehen, vor Überraschungen ist man ja nie sicher, schon gar nicht in Ungarn.

Neuer Parlamentspräsident - ein Hausmeister mit Krawatte

Immerhin ein nennenswertes, wenn auch nur formales Ergebnis hat der erste Sitzungstag doch gebracht. Das Parlament hat einen neuen Präsidenten. Der MSZP-Politiker Béla Katona folgt seiner Parteikollegin Katalin Szili in dieser Funktion nach, Szili wird sich der Parteiarbeit widmen. 319 Ja-Stimmen bei 22 Nein-Stimmen genügten, trotz der Wahlabsenz der meisten Fideszleute. Katona gab in bedeutungstreuer Anwesenheit des Staatspräsidenten an, er wolle trotz des sich abzeichnenden scharfen Wahlkampfes das Funktionieren des Parlamentes sicherstellen. Viel mehr als ein Hausmeister wird er aber bei der Gemengelage nicht ausrichten können, auch wenn er Krawatte trägt.

ms.

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