Wie Orbán die Raumfahrt zur patriotischen Projektionsfläche macht – und damit von irdischen Problemen ablenkt
Budapest. Der Auftritt des ungarischen Premiers bei einer Liveschaltung zur ISS mit Astronaut Tibor Kapu zeigt weniger wissenschaftliche Neugier als politische Inszenierung. Während Ungarn mit wirtschaftlicher Schwäche und außenpolitischer Isolation kämpft, verlagert Orbán die Bühne ins All.

Orbáns jüngster Auftritt im HUNIVERZUM-Besucherzentrum erinnerte an eine Mischung aus Patriotenshow und Werbefilm. Per Videoschalte sprach der Premier mit Tibor Kapu, dem ungarischen Teilnehmer der privat organisierten Axiom-4-Mission auf der Internationalen Raumstation ISS. Was als technischer Dialog begann, wurde rasch zur staatsmedialen Inszenierung. Kapu sprach von der Ehre, „die ungarischen Menschen zu erreichen“, Orbán antwortete mit Pathos: „Du zeigst unseren Kindern die guten Versuchungen.“ Es war kein Gespräch mit pädagogischem Mehrwert, sondern eine Szene aus dem Drehbuch populistischer Identitätsbildung.
Die Raumfahrt ist – so viel Realität muss sein – ein globales Unterfangen. Kapu ist Teil einer Crew, die von einem US-Privatunternehmen koordiniert wird und neben ihm auch indische und polnische Astronauten umfasst. Die Experimente, die er an Bord durchführen soll, konzentrieren sich vor allem auf die Messung ionisierender Strahlung und botanische Studien. Doch in der Darstellung des staatlichen Senders M1 wird der Beitrag zur internationalen Forschung zur nationalen Heldentat überhöht. Wo Wissenschaft Sachlichkeit verlangt, setzt die Regierung auf Emotionalisierung.
Orbán Zitate | Realität |
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„Ungarn tritt in die Raumfahrtindustrie ein“ | Kapu nimmt an einem kommerziellen, internationalen Flug teil |
„Sechsfacher Gewinn für jeden Forint“ | Keine belastbaren Wirtschaftsdaten zum Return on Investment verfügbar |
„Der wichtigste Erfolg: das Erreichen der ungarischen Menschen“ | Wissenschaft ist realpolitisch tatsächlich egal |
Dabei kommt die mediale Überhöhung nicht zufällig. Der Raumflug dient als symbolisches Gegengewicht zur desolaten Lage auf dem Boden. Die ungarische Wirtschaft zeigt weiterhin strukturelle Schwächen: Wachstumsprognosen wurden jüngst gesenkt, die Reallöhne stagnieren trotz nomineller Erhöhungen. Zugleich verstärkt sich die Kritik aus Brüssel: Im Streit um Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit drohen weitere Kürzungen von EU-Mitteln. Außenpolitisch isoliert sich Budapest zunehmend, nicht nur gegenüber Kiew, sondern auch im Verhältnis zu Polen und den baltischen Staaten.

In dieser Gemengelage eignet sich der Orbit bestens zur Ablenkung. Die Aussicht auf das große Ganze, das „Sehen der Erde von außen“, wie es Orbán poetisch formuliert, ersetzt die Auseinandersetzung mit konkreten Missständen. Es fehlt Orbán nicht an Chuzpe sich folgerichtig auch als irdischen Astronauten zu sehen: Er habe durch seine Funktion einen Überblick über Ungarn und Europa. Man schwebt gemeinsam auf höheren Sphären. In einem Facebook-Video nach dem Gespräch sagte der Premier: „Ich habe mit einem großen Mann gesprochen“. Die eigentliche Botschaft aber galt ihm selbst. Die Politik sucht den Nimbus der Größe in 400 Kilometern Höhe.
Die ungarische Raumfahrt war stets ein Randthema, nun wird sie zur Symbol nationaler Selbstbeweihräucherung. Es dominieren Begriffe wie „Stolz“, „Ehre“ und „Zukunft“. Der Premier übernimmt die Rolle des Erklärers, das Staatsfernsehen liefert die Bilder.
Kapu selbst scheint das Spiel mitzuspielen. Ob aus Überzeugung oder Loyalität, bleibt unklar. Jedenfalls ist sein Satz – „kleine Länder haben die größten Träume“ – bereits als Slogan in Regierungskanälen aufgetaucht. Dass Ungarn von diesen Träumen aktuell weit entfernt ist, lässt sich nur schwer ins All kommunizieren. Auf der Erde hingegen bleibt die Wirklichkeit hartnäckig.
Photos, Zitate: MTI.hu, Wikipedia
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