Budapest. Auf der Donauinsel von Óbuda bebt noch bis heute, zum 11. August die „Island of Freedom“. Die 31. Ausgabe des Sziget Festivals versammelt wieder Hunderttausende. Post Malone, Charli XCX, Shawn Mendes, Kid Cudi oder Armin van Buuren haben abermals für großen Zustrom gesorgt. Die Bühne ist in diesem Jahr zugleich Resonanzraum einer wachsenden politischen Stimmungslage die der ungarischen Regierung wenig gefallen dürfte.
Mikrokosmos des Zeitgeists Ungarns
Erstmals seit Jahren zeigt sich Sziget in einem komplett überarbeiteten Layout: thematische „Districts“ statt reiner Bühnenblöcke, ein ausgebauter Delta District mit hochgerüsteter BOLT Night Stage für elektronische Hochkaräter wie Amelie Lens oder Boris Brejcha. Die Main Stage und Revolut Stage bieten ein internationales Pop- und Rock-Line-up von Empire of the Sun bis Justice, dazu Indie-Granden wie The Last Dinner Party oder Sevdaliza.
Doch zwischen Lichteffekten und Bassläufen hat sich ein anderes Leitmotiv etabliert: „Mocskos Fidesz, mocskos Fidesz“ – „Schmutziges Fidesz“ skandieren Gruppen im Publikum, teils noch bevor der erste Akkord erklingt. Was 2023 mit offen regierungskritischen Acts wie Krubi oder Carson Coma begann, ist inzwischen Mainstream. Auch Künstler mit großem Massenappeal, wie Rapper Majka, greifen das Thema auf. Sein im Januar veröffentlichter Song „Csurran-cseppen“ über einen fiktiven Diktator in „Bindzsisztan“ erreichte binnen sechs Monaten 25 Millionen Aufrufe – und damit auch jene Landstriche, die bislang wenig mit regierungskritischer Popkultur in Berührung kamen.
Von der Bühne in den Alltag
Majkas satirische Spitzen trafen einen Nerv. Azariah, Superstar der Gen Z und dreifacher Puskás-Stadion-Füller, hielt sich lange aus der Politik heraus – bis zum Missbrauchsskandal 2024. Seither äußert er sich deutlicher, zuletzt mit scharfer Kritik an Fidesz-Wählern und einer als „ziemlich niedrig“ bezeichneten Plakatkampagne, die den ukrainischen Präsidenten Selenskyj mit Oppositionsführer Péter Magyar gleichsetzte.
Soziologen wie Andrea Szabó sehen darin weniger eine Revolution als eine Momentaufnahme des Zeitgeists: eine Generation, geprägt von Lehrerprotesten, erodierten Sozialleistungen und Wohnungsnot, deren Werte kaum mehr mit jenen der Regierung vereinbar sind. Laut jüngsten Median-Umfragen würden nur noch 16 Prozent der Unter-30-Jährigen Fidesz wählen, während 53 Prozent Tisza bevorzugen.
Gegenreaktionen und Zensurversuche
Die Regierung reagiert teils ungeschickt. Kritische Liedzeilen werden aus TV-Übertragungen geschnitten, Konzerte kurzfristig abgesagt. Der Fall der irischen Rapgruppe Kneecap – deren Einreise kurz vor ihrem geplanten Sziget-Auftritt verboten wurde – lieferte den Musikern ein willkommenes PR-Narrativ als „zum Schweigen gebrachte Radikale“. Kneecap stand zuletzt wegen offenen Aufrufen zur Gewalt gegen die israelische Armee in der Kritik und wurde von zahlreichen Festivals ausgeschlossen. Orbán kommt die Sache recht: Kneecap ist ein gutes Whatabout und lenkt von der massiven Kritik seitens ungarischer KünstlerInnen ab.
Pro-Regierungs-Medien etikettieren oppositionelle KünstlerInnen ohnehin als illoyal oder undankbar. Gleichzeitig sucht Fidesz die Nähe zu Figuren wie Rapper Dopeman, dessen gewaltverherrlichende Texte kaum zu den propagierten Familienwerten passen, und kündigt „digitale Kampfklubs“ an, um die Deutungshoheit im Netz zurückzuerobern. Müde Versuche hipp zu bleiben.
Kunst ist politisch
Das Sziget bleibt ein Kraftzentrum kultureller Selbstbehauptung. Seit 1993 wuchs das einstige Studententreffen „Diák Sziget“ zur größten Kulturveranstaltung Mitteleuropas. Über 1 000 Shows, 50 Bühnen und Rekorde von mehr als halben Million Besuchern sprechen für die internationale Strahlkraft.
In diesem Sommer aber spiegelt das Festival unvermutet deutlich die politische Bruchlinie im Land. Zwischen den Beats und Balladen verhandelt sich die Frage, wie viel Unabhängigkeit Kultur in einem polarisierten Umfeld bewahren kann. Sziget 2025 zeigt: Der Streit um Ungarns Zukunft findet auch im Takt der Musik statt – und diese Melodie klingt für die Mächtigen in Budapest dissonant.
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