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Ungarn ist sicherstes Land Europas – laut Fidesz, nicht laut Statistik

Budapest. Wer dieser Tage ungarischen Regierungsvertretern zuhört, könnte glauben, Ungarn sei ein Ort, an dem man getrost die Haustür offenlassen kann. Kein Verbrechen, keine Gefahr, nur friedliche Bürger in einem Land, das offenbar selbst von der Kriminalität vergessen wurde. So ähnlich jedenfalls verkündete es Bence Rétvári, Staatssekretär im Innenministerium, bei einem Pressetermin in Tapolca.

Mit Verweis auf eine Ipsos-Umfrage behauptete Rétvári in einer MTI.hu Aussendung, Ungarn sei das „sicherste Land Europas“ – weil nur sieben Prozent der ungarischen Bevölkerung angäben, sich vor Kriminalität zu fürchten. In Schweden seien es 57 Prozent, in Frankreich 36 Prozent. Was wie eine tolle Erfolgsmeldung klingt, ist bei näherer Betrachtung eine subjektive Meinungserhebung keine Kriminalitätsstatistik

Wahrnehmung = Realität

Die von Rétvári zitierte Umfrage entstammt der Reihe „What Worries the World“, einer regelmäßig publizierten Studie des Instituts Ipsos. Dort werden Bürger aus mehr als 20 Staaten gefragt, welche gesellschaftlichen Themen ihnen derzeit Sorgen bereiten. In Ungarn liegt Kriminalität dabei regelmäßig weit hinten.

Nur: Diese Zahlen messen keine objektive Sicherheit, sondern subjektives Empfinden – also, was man für gefährlich hält, nicht was tatsächlich geschieht. In einem medial gleichgeschalteten Umfeld mit begrenzten öffentlichen Diskursen kann dieser Unterschied besonders groß ausfallen. Ein Staat wird nicht dadurch sicher, dass die Menschen glauben, es gebe keine Verbrechen.

Statistik

Der Global Peace Index 2024, eine internationale Erhebung zur gesellschaftlichen Sicherheit, listet Ungarn auf Platz 32 von 163 Ländern: hinter Staaten wie Österreich (5), Portugal (7), Tschechien (12) oder Slowenien (8). Auch die Kriminalstatistiken zeigen ein gemischtes Bild. Die Zahl der registrierten Straftaten in Ungarn ist seit 2010 deutlich gesunken – von rund 447.000 auf etwa 154.000 jährlich. Das klingt beeindruckend, doch Änderungen im Strafrecht, sinkende Anzeigebereitschaft und politische Einflussnahme auf Ermittlungen relativieren den Befund. Ohne Kontext bleibt die Zahl wenig aussagekräftig. Bei vorsätzlichen Tötungen liegt Ungarn mit etwa 0,88 Fällen pro 100.000 Einwohner im europäischen Mittelfeld. Raubdelikte sind selten, rund 5,5 pro 100.000 Einwohner, was auf eine niedrige Alltagskriminalität hinweist. Gleichzeitig aber wird Gewalt gegen Frauen kaum verfolgt, obwohl sie strukturell verbreitet ist: Rund 86 Prozent der Opfer in Fällen häuslicher Gewalt sind Frauen.

Zäune und Meinungsbilder

Die Regierung Orbán pflegt seit Jahren ein Sicherheitsnarrativ, das einfache Botschaften liefert: Grenze dicht, Kriminalität niedrig, Land sicher. Der Grenzzaun zu Serbien, verstärkte Polizeipräsenz, neue Strafgesetze – das sind die öffentlichkeitswirksamen Pfeiler einer symbolpolitischen Sicherheit. Dass damit auch Einschüchterung, Überwachung und selektive Strafverfolgung einhergehen, kommt in der Regierungskommunikation Orbáns regelmäßig unterdie Räder.

Auch Korruption und organisierte Kriminalität erscheinen in den offiziellen Erzählungen kaum. Dabei liegt Ungarn in internationalen Rankings zur Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung regelmäßig auf den hinteren Plätzen innerhalb der EU. Straftaten im Bereich Umweltkriminalität oder in wirtschaftspolitischen Kontexten werden selten verfolgt, wenn sie mit regierungsnahen Strukturen verknüpft sind.

Rétvári sieht den Erfolg der ungarischen Sicherheitspolitik auch daran, dass sich immer mehr Deutsche und Niederländer in der Donauknie-Region oder am Balaton ansiedeln. Ob das Ausdruck subjektiver Sicherheit oder einfach günstiger Lebenshaltungskosten ist, bleibt dabei ebenso offen wie die Frage, ob es sich um einen langfristigen Trend oder um selektive Beispiele handelt.

Ein relativ sicheres Land

Ungarn ist in vielen sicherheitsrelevanten Bereichen besser aufgestellt als andere Staaten in Mittelosteuropa. Das ist unbestritten. Daraus lässt sich weder eine Spitzenposition noch ein Sonderstatus ableiten; die reale Sicherheitslage ist komplexer als die PR-Erzählung der Regierung.

Die Fidesz-Führung nutzt selektive Umfrageergebnisse basierend auf Meinungsbildern statt nüchternen Kriminalitätsstatistken, verzichtet auf umfassende Vergleiche und inszeniert das Land als sicheren Hafen in einer unsicheren Welt. Nicht jedes sichere Gefühl aber ist ein Beweis für ein sicheres Land. Ein ausgewogener Blick auf die tatsächliche Kriminalitätslage bleibt dringend geboten.

Quellen: MTI.hu, Ipsos „What Worries the World“ (September 2024), Global Peace Index 2024, Institute for Economics and Peace, Transparency International, Corruption Perception Index, Wikipedia
Photo: Ipsos Logo, Unbekannt, http://www.ipsos.de/downloads/Ipsos_Busfolder.pdf

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