Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Spionage in Brüssel und politische Gegenoffensive aus Budapest

Während die EU-Kommission mutmaßliche Infiltrationen durch ungarische Agenten untersucht, startet Viktor Orbán eine Unterschriftenkampagne gegen angebliche Kriegspläne der EU. Der Fall rückt auch EU-Kommissar Olivér Várhelyi in den Fokus.

Brüssel/Budapest. Ein Spionageskandal belastet das Verhältnis zwischen der EU-Kommission und der ungarischen Regierung. Nach Recherchen mehrerer europäischer Medien soll ein ungarischer Geheimdienstmitarbeiter in Brüssel gezielt versucht haben, EU-Beamte zu rekrutieren und interne Informationen auszuhorchen. Die Kommission kündigte eine interne Untersuchung an. Premierminister Viktor Orbán reagiert mit einer innenpolitischen Kampagne, in der er sich bzw. Ungarn als Opfer politischer Angriffe aus Brüssel darstellt.

Agent im Diplomatenrang

Wie aus Recherchen des Standard, De Tijd, Direkt36 und des Spiegel hervorgeht, war ein ungarischer Agent über Jahre hinweg bei der ständigen Vertretung Ungarns in Brüssel tätig und versuchte systematisch, Informanten innerhalb der EU-Institutionen anzuwerben. Dabei bot er unter anderem finanzielle Anreize an und sprach offen über das Ziel, mehr Ungarn auf zentrale Posten zu bringen.

Die Aktivitäten fanden während der Amtszeit von Olivér Várhelyi als ungarischer EU-Botschafter statt. Várhelyi ist seit 2019 EU-Kommissar im Kabinett von Ursula von der Leyen. In seine Amtszeit als Diplomat fällt laut Medienberichten die aggressivste Phase der Rekrutierungsversuche. Er selbst äußerte sich bislang nicht zu den Vorwürfen.

Die EU-Kommission reagierte am Donnerstag mit der Ankündigung, eine interne Arbeitsgruppe einzurichten. Ein Sprecher erklärte: „Wir nehmen diese Berichte sehr ernst.“ Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sei informiert worden. Ein Sprecher der ungarischen Vertretung in Brüssel verweigerte eine Stellungnahme und verwies auf Äußerungen von Außenminister Péter Szijjártó, der gegenüber Index sagte, er habe „keine Kenntnis von einem solchen Fall“, aber halte die Anschuldigungen für „grundlos“.

Politische Ablenkung

Kurz nach Bekanntwerden der Ermittlungen versuchte Viktor Orbán, das Thema zu drehen. Am Samstag veröffentlichte er auf Facebook ein Video, in dem er eine Unterschriftenkampagne gegen die „Kriegspläne Brüssels“ ankündigte. Er behauptete, es gäbe ein EU-Strategiepapier, das darauf abziele, „dass Europa zahlt, die Ukraine kämpft und Russland erschöpft wird“.

„Statt einer Strategie bekamen wir nur Wunschdenken aus Brüssel“, sagte Orbán.

„Ich habe in Dänemark klar gemacht, dass wir daran keinen Anteil haben wollen. Seitdem läuft eine Kampagne gegen Ungarn. Ihr Arsenal ist breit: Spionagevorwürfe, Fake-News-Skandale und juristische Manöver.“
– Viktor Orbán

Man wolle Ungarn international wie innenpolitisch unter Druck setzen. „Wir können nicht tatenlos zusehen“, sagte Orbán weiter. „Deshalb starten wir heute eine Unterschriftenaktion gegen die Kriegspläne aus Brüssel. Wir werden in jeder Stadt und jedem Dorf präsent sein.“

Die Aktion soll als landesweite Mobilisierung verstanden werden. Der Begriff „Friedensliebe“ spielt dabei eine zentrale Rolle, auch wenn unklar bleibt, worauf sich Orbáns Vorwürfe gegen die EU konkret stützen. Ein offizielles „Kriegsprogramm“ existiert nicht. Orbán bezog sich auf eine in Kopenhagen diskutierte sicherheitspolitische Positionierung, in der die Unterstützung der Ukraine betont wurde.

Várhelyi im Zentrum

Die politische Brisanz des Falls steigt durch die Rolle Olivér Várhelyis. Er war als Botschafter der unmittelbare Vorgesetzte des beschuldigten Agenten. Dokumentiert ist, dass Várhelyi selbst in Gespräche über Personalplatzierungen und Strategien zur Einflussnahme eingebunden war. Dass er sich bislang nicht zur Sache äußert, trägt zur Unruhe bei. In sozialen Medien äußerte er sich kürzlich über mentale Gesundheit und US-Politik, ohne den Fall zu erwähnen.

Mehrere EU-Abgeordnete fordern inzwischen eine offizielle Stellungnahme. Auch in Österreich wird der Ruf nach Aufklärung laut. Die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Meri Disoski, sagte:

„Orbáns Regierung agiert illiberal und missachtet die Grundregeln der EU-Zusammenarbeit. Das Unterwandern unserer gemeinsamen Institutionen durch Ungarn ist ein politischer Skandal und ein bitterer Beleg, dass unsere europäischen Werte nicht nur von außen, sondern auch von innen bedroht sind.“

Misstrauen gegenüber einem Mitgliedsstaat

Die EU war in den vergangenen Jahren bereits Ziel von russischen und chinesischen Spionageversuchen. Dass nun ein Mitgliedsstaat im Verdacht steht, eigene Leute in den Institutionen zu platzieren, ist ein neuer Tiefpunkt. Noch sind die juristischen Konsequenzen offen. Diplomatische Immunität könnte eine direkte strafrechtliche Verfolgung erschweren.

Doch selbst wenn die Untersuchungen ohne rechtliche Folgen bleiben, ist der politische Schaden angerichtet. Die Glaubwürdigkeit Ungarns als verlässlicher Partner in Brüssel steht wie bereits in den letzten Jahren auf keiner stabilen Basis.

Orbáns Regierung nutzt diese Rolle bewusst, um innenpolitisch Stärke zu demonstrieren und europäische Kritik als ideologisch motivierte Kampagne umzudeuten. In Kombination mit gezielter Desinformation und aggressiver Rhetorik entsteht ein Bild von Konfrontation, das nur noch sehr wenig Raum für konstruktive Zusammenarbeit lässt.

Offene Fragen und wachsende Spannungen

Ob die Kommission den Fall vollständig aufklären kann, ist ungewiss. Klar ist hingegen, dass Orbáns Ungarn nicht mehr nur als Störenfried auftritt, sondern aktiv versucht, das institutionelle Gefüge der EU zu beeinflussen. Die Enthüllungen zeigen, wie ernsthaft diese Strategie verfolgt wird und wie weitreichend ihre Umsetzung bereits ist.

Die kommende Woche dürfte zeigen, ob Brüssel bereit ist, daraus Konsequenzen zu ziehen. Der politische Umgang mit einem Mitgliedsstaat, der Spionage betreibt und gleichzeitig die Legitimität europäischer Politik infrage stellt, wird zur Grundsatzfrage. Es droht eine weitere Eskalation der bereits eisigen Beziehungen zu anderen Mitgliedsstaaten.

Quellen: derStandard.at, MTI.hu
Photo: Olivér Várhelyi auf dem EU-Montenegro Intergovernmental Conference European Council Gipfel, 26. Juni 2024 © Belgian Presidency of the Council of the European Union / Julien Nizet

Gib den ersten Kommentar ab

    Schreibe einen Kommentar