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Der nützliche Tote – Orbáns Sommeroffensive gegen Brüssel, Kyjiw und die eigene Opposition


Zwischen Grenzschutz und Kulturkampf sucht die ungarische Regierung neue Angriffsflächen – nicht nur gegen Kyjiw, sondern auch gegen die EU selbst.

Budapest/Brüssel – Zwischen aufgeheizter Erinnerungspolitik und strategischer Empörung inszeniert die ungarische Regierung einen Sommer der Unruhe. Während andere EU-Staaten sich in diplomatische Routine retten, nutzt Viktor Orbán das Sommerloch für innenpolitische Mobilisierung und außenpolitische Konfrontation. Ziel: die EU – und die Ukraine gleich mit.

„Dieses Deutschland ist vorbei“

Den Anfang machte eine Rückkehr zur alten Litanei. In einem Videoformat der regierungsnahen Magyar Nemzet warnte Orbán vor dem Untergang Europas durch Migration. Wörtlich: „Wir sind verloren, wenn wir sie hereinlassen.“

An kulturkämpferischen Pathos mangelt es selbstverständlich nicht: Er erinnerte an 2015, als Deutschland „noch die stärkste Macht Europas war“, das habe sich mit der Flüchtlingsaufnahme geändert. Heute sei „ihre Identität erschüttert“, denn „dies ist jetzt auch ihr Deutschland“.

Es ist ein Zitat wie aus dem Archiv – und genau das ist der Punkt. Orbán liefert keine neue Analyse, sondern vertraut auf die Konstanz seiner Parolen. Migration, so die Linie, sei nicht nur ein Sicherheitsproblem, sondern eine kulturelle Katastrophe – ein unaufhaltsamer Niedergang, „aus dem es keinen Weg zurück gibt“.

Der tote Ungar von Transkarpatien

Der Fall Jozsef Sebestyén verleiht diesem Narrativ neue Schärfe. Der Mann, ungarischstämmiger Staatsbürger der Ukraine, sei im Zuge einer Zwangsrekrutierung „zu Tode geprügelt“ worden – so die Darstellung aus Budapest. „Das gesamte Karpatenbecken ist erschüttert“, sagte Orbán. Die Rede ist von „staatlich kontrollierter Gesetzlosigkeit“ in der Ukraine.

Dass bislang keine unabhängige Bestätigung für die konkreten Umstände des Todes vorliegt, spielt im Regierungssprech keine Rolle. Die Inszenierung steht: ein Märtyrer, Opfer eines enthemmten Staates, in dem – laut Orbán – „nichts mehr sicher“ sei. Das Narrativ kulminiert in einer Forderung, die auch als diplomatische Drohung gelesen werden kann: Die EU müsse „ukrainische Verantwortliche“ auf ihre Sanktionsliste setzen.

Wo sind die Soros-Organisationen?

Außenminister Péter Szijjártó, gewieft im Tonfall der moralischen Empörung, flankierte die Kampagne mit einem Auftritt in Brüssel. Dort sprach er von einer „brutalen Menschenjagd“ in der Ukraine – unter Berufung auf einen Bericht des Europarats, der wiederum größtenteils auf Aussagen ukrainischer Ombudsstellen basiert.

„Es ist ein Fakt, dass Menschen auf den Straßen der Ukraine sterben, weil sie nicht in den Krieg ziehen wollen“, sagte Szijjártó. Und dann der rhetorische Haken: „Wo sind die NGOs? Wo sind die angeblich unabhängigen Journalisten? Wo sind die Menschenrechtsorganisationen?“

Die Zielscheiben sind bekannt: internationale Medien, liberale Organisationen, Soros-nahe Stiftungen. Der Gegner ist vielköpfig – eine Hydra aus EU, Ukraine, Wokeism, Globalisierung, Migrantion, Kulturkampf. Vorgeblich komplex aber doch beschämend simpel.

Minderheitenpolitik als geopolitischer Hebel

Mit der erneuten Politisierung der ungarischen Minderheit in Transkarpatien setzt Budapest eine Strategie fort, die auf mehreren Ebenen wirkt: innenpolitisch emotionalisierend, europapolitisch blockierend. „Es ist Zeit, dass Brüssel endlich auch für die ungarischen Transkarpaten eintritt – und nicht nur für Selenskyj“, so Orbán.

Die Botschaft ist klar: Solange die Rechte der ungarischen Minderheit nicht garantiert seien, werde Ungarn jeden ukrainischen EU-Beitritt torpedieren. Dass Budapest diese Rechte immer wieder selbst neu definiert, ist Methode.

„Wer sich widersetzt, wird verfolgt“

Während außenpolitisch Moral gegen Moral gesetzt wird, eskaliert im Inneren die Repression. Sechs oppositionellen Abgeordneten droht der Verlust ihrer parlamentarischen Immunität – auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Der Vorwurf: Anstiftung bei regierungskritischen Demonstrationen.

„Es ist ein Einschüchterungsversuch“, sagt David Bedő von der Partei Momentum. „Ein Regime in seinen letzten Tagen greift zur Hexenjagd.“ Bedős Optimismus mag etwas verfrüht sein – bis zur Wahl im Frühjahr 2026 ist es noch eine Zeit hin. Das innenpolitische Klima akkumuliert sich weiter.

Das Sommerloch ist die Kultukampfbühne

Es ist kein Zufall, dass die mediale Offensive just in der Saure-Gurken-Zeit ihren Lauf nimmt. In der Stille des Juli hallen Botschaften besonders laut. Migration, Transkarpatien, westliche Doppelmoral – das ist der Stoff, aus dem Orbáns Erzählungen sind. Und sie funktionieren, solange niemand widerspricht.

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