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Mutmaßliche ungarische Drohnen über der Ukraine verschärfen ungarisch-ukrainische Krise weiter

Eine Grenzverletzung, Spionagenetzwerke und rhetorische Eskalation – Budapest und Kyiv stehen sich feindlich gegenüber

Budapest/Kyiv. Nach Vorwürfen ukrainischer Streitkräfte, ungarische Drohnen hätten ukrainischen Luftraum überquert, reagiert Ungarn mit kategorischem Dementi und harscher Rhetorik. Der Konflikt über die ungarische Minderheit in Transkarpatien fungiert dabei als dauerhafter Nährboden für gegenseitige Vorwürfe – eine Entwicklung mit sicherheitspolitischem Gewicht.

Flugroute in der Grauzone

Am 25. September veröffentlichte die ukrainische Generalstabführung eine Karte mit mutmaßlichen Flugrouten von Drohnen, die aus Richtung Ungarn in ukrainisches Grenzgebiet eingedrungen seien. Präsident Volodymyr Zelensky erklärte:

„Ukrainische Kräfte registrierten Drohnenverletzungen des Luftraums – sie sind wahrscheinlich ungarischen Ursprungs.“

Er forderte eine umfassende Überprüfung und betonte, beim nächsten Vorfall müsse „angemessen reagiert“ werden. Was genau damit gemeint ist, bleibt unklar. Mutmaßlich sind damit militärische Maßnahmen wie das Abschießen bzw Abfangen der Dronen gemeint. Eine deutliche Eskalation der Bilateralen Beziehungen.

Die kolportierte Flugroute ungarischer Drohnen über der Ukraine/Transkarpatien. Photo: Screenshot eines Postings der Streitkräfte der Ukraine, Facebook.

Ungarns Verteidigungsministerium wies diese Vorwürfe zurück: Die Streitkräfte hätten keine entsprechenden Aufträge erhalten, und die Übung Adaptive Hussars 2025 sei mit dem Vorfall nicht verbunden.

Außenminister Péter Szijjártó kommentierte gegenüber Zelensky gewohnt brachial:

„Er beginnt sich in seiner antimagyarischen Besessenheit Dinge einzubilden.“

Kyiv reagierte mit empörten Gegenerklärungen:Andrij Sybiha warf Ungarn „moralische Dekadenz“, „Doppelspiel in Europa“ und indirekte Kooperation mit dem Kreml vor.

Ob die Drohnen tatsächlich ungarisch waren, ist unklar, aber wahrscheinlich. Die ukrainischen Flugrouten liefern Hinweise – aber keinen defintiven Beweis. Ungarn liefert bislang nur ein kategorisches Dementi. Beide Seiten operieren in einer Informationsgrauzone, eine unabhängige Überprüfung ist außerhalb der Möglichkeiten des Pester Lloyd und anderer Medien – zumal die Informationen zumeist vom Militär stammen.

Der Spionagering

Ein zentraler zusätzlicher Konfliktpunkt ist der Vorwurf eines ungarischen Spionagenetzwerks in der Ukraine. Im Mai 2025 verkündete die ukrainische Sicherheitsbehörde SBU, sie habe ein Netzwerk enttarnt, das Informationen über militärische Defensivsysteme und öffentliche Stimmung in der Oblast Transkarpatien gesammelt habe.

Demnach wurden zwei ukrainische Staatsangehörige verhaftet, die angeblich unter Leitung eines ungarischen Nachrichtendienstoffiziers agierten. Einer der Verdächtigen stamme aus Berehove (mit bedeutender ungarischsprachiger Bevölkerung).

Die SBU behauptet, das Netzwerk habe geplant, sich zu erweitern und auch Daten aus Frontregionen zu sammeln.

Ungarn reagierte mit der Ausweisung von zwei ukrainischen Diplomaten und bezeichnete die Vorwürfe als Propaganda.

In Folge wies die Ukraine spiegelgleich zwei ungarische Diplomaten aus. Der Zwist um Spionage eskalierte damit zu einer diplomatischen Gegenmaßnahme auf beiden Seiten.

Dieser Spionagekomplex ist insofern relevant, weil er belegt, dass der Konflikt nicht nur rhetorisch, sondern auch mit verdeckten Operationen geführt wird – und weil er eng mit dem Kernstreit über Transkarpatien verknüpft ist.

Chronologie

DatumEreignis
2017Ukraine verabschiedet Bildungsgesetz mit restriktiven Minderheitenregelungen – Proteste aus Budapest werden laut.
2019Ungarn blockiert NATO‑Ukraine-Sitzung via Veto, um Druck im Minderheitenstreit auszuüben.
Mai 2025Ukraine enttarnt mutmaßlichen ungarischen Spionagering in Transkarpatien, verhängt Ausweisungen.
Juli 2025Tod des ungarischstämmigen József Sebestyén nach mutmaßlicher Zwangsrekrutierung (die Umstände bleiben strittig).
August 2025Ungarn erklärt Drohnenkommandant Robert Brovdi zum „unerwünschten Ausländer“.
September 2025Ukraine verbietet drei ungarischen Militärs die Einreise. Anschließend Vorwürfe über Drohnenflüge aus ungarischem Gebiet.

Der Fall Sebestyén

Der Tod des 45-jährigen József Sebestyén aus Transkarpatien gilt als starker emotionaler Treiber in der ungarischen Politik. Ungarn beansprucht, er sei im Rahmen einer unrechtmäßigen Zwangsrekrutierung von ukrainischen Militärangehörigen schwer misshandelt worden.

Das ukrainische Militär bestreitet jedwede Gewaltanwendung in diesem Fall. Laut offizieller Autopsie sei eine Lungenembolie die Todesursache gewesen, und es seien keine eindeutigen Hinweise auf äußere Gewalt gefunden worden.

Ein von ungarischer Seite geäußerter Verdacht, der pathologische Gutachter sei durch die ukrainischen Behörden beeinflusst worden, bleibt rein spekulativ und bislang unbelegt.

Der Fall wird politisch hochstilisiert und eignet sich hervorragend als Symbol für die kolportierte Bedrohung ungarischer Minderheiten. Objektiv bleibt er eine offene Wunde mit ungedeckten Hypothesen – beidseitig.

Szijjártó als rhetorisches Rammbock

Außenminister Szijjártó bleibt der zentrale Akteur diplomatischer Provokation. Mit seiner aggressiven Rhetorik inszeniert er Ungarn stets als Opfer: sei es im Fall des kolportierten Drohnenüberflugs, des Todes von Sebestyén oder der Spionagevorwürfe.

Sein Stil ist folgenden Mustern verpflichtet:

  • Personalisierung: Er richtet Angriffe direkt an Zelensky – etwa mit Formulierungen wie „beginnt, Dinge einzubilden“.
  • Moralische Überhöhung: Ungarn wird als Hüter einer unterdrückten Minderheit dargestellt, häufig im Gegensatz zu einem repressiven Kyiv.
  • Verschwörungsszenarien: Er zieht Parallelen zu Einflussnahme durch Dritte (etwa der EU) und warnt vor „antiungarischer Propaganda“.
  • Instrumentalisierung internationaler Foren: Durch Blockaden in der EU oder öffentliche Forderungen nach Reaktionen versucht Budapest, maximale Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Während Szijjártó punktuell Argumente vorlegt – insbesondere zum Minderheitenschutz – gelingt es ihm kaum, eine konsistente Strategie der Deeskalation zu bieten. Die ständigen rhetorischen Überhöhungen erschweren Ausgleichsversuche.

Aspekte des Konflikts bleiben unscharf oder einseitig dokumentiert:

  • Die mutmaßlichen Drohnenflüge lassen sich bislang durch keine unabhängige Instanz verifizieren.
  • Die Spionagevorwürfe beruhen primär auf ukrainischen Angaben; Gegenbeweise oder Gegenuntersuchungen aus ungarischer Sicht sind öffentlich kaum bekannt.
  • Der Fall Sebestyén ist politisch hochgeladen; Eine unabhängige Untersuchung ausstehend.
  • Beide Seiten neigen zu überladenen Formulierungen – was die nüchterne Analyse stark erschwert.

Der Konflikt hat eine neue Eskalationsstufe erreicht, in der Diplomatie wenig Raum hat.

Erhöhte Risiken einer Militärkonfrontation

Dass Zelensky mit dem Hinweis auf mögliche „geeignete Reaktionen“ droht ist sehr markant – in einem Nachbarstaat mit OTAN-Status. Die Frage ist weniger, ob eine militärische Reaktion tatsächlich stattfinden würde, sondern unter welcher politischen Bedingung sie als gerechtfertigt angesehen würde.

Nicht zuletzt wegen der anhaltenden Angriffe auf die für Ungarn äußerst wichtige Druzhba-Pipeline sind die Beziehungen auch militärisch relevant.

Ungarn wiederum hält an seiner Strategie fest: Die Grenzen zwischen Minderheitenschutz, nationaler Souveränität und geostrategischer Positionierung werden bewusst verwischt. Die (Anmerkung: bestrittene) Allianz mit Russland, die Blockadehaltung in der EU und die rhetorische Zuspitzung sind Teil einer Gesamtstrategie.

Für die ungarische Minderheit in Transkarpatien bleibt die Lage prekär: Sie wird instrumentalisiert, verklärt und zugleich politisch zwischen die Fronten geschoben. Ohne unabhängige Monitoringmechanismen und ohne diplomatischen Eisbrecher droht eine Situation, in der ein weiterer Zwischenfall, ob mit Drohnen oder Spionage, genug Potenzial besitzt, eine Kettenreaktion auszulösen die nicht im Interesse Ungarns oder der Ukraine sein kann.

Quellen: MTI.hu, Index.hu, Reuters, Kyiv Post, SBU-Verlautbarungen, Financial Times, Kyiv Independent
Photos: Ukrainische Streitkräfte (Screenshot Facebook)

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