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EU-Gerichtsgutachten: Ungarns LGBTQ+-Gesetze verstoßen gegen Unionsrecht

Generalanwältin stellt fundamentale Verstöße gegen Grundrechte fest – Urteil des EuGH könnte Orbáns Kulturkampf juristisch beenden

In einem bemerkenswert klaren Gutachten hat die Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof, Tamara Ćapeta, die LGBTQ+-Gesetzgebung Ungarns für unvereinbar mit dem Recht der Europäischen Union erklärt. Diese juristische Einschätzung betrifft insbesondere das umstrittene Gesetz von 2021, mit dem die ungarische Regierung unter Viktor Orbán die Darstellung von Homosexualität und Geschlechtsidentität in allen kinderzugänglichen Medien massiv einschränkt.

Die Einschätzung erfolgt zu einem laufenden Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission (Rechtssache C-769/22), das sich auf die Verletzung von Grundrechten und mehreren EU-Richtlinien stützt. Die abschließende Entscheidung des Gerichtshofs wird zwar erst in einigen Monaten erwartet, doch in der Praxis folgen die Richter dem Votum der Generalanwaltschaft in einer Vielzahl von Fällen.

Ideologischer Zugriff auf verfassungsstaatliche Normen

„Ungarn hat sich deutlich vom Modell einer konstitutionellen Demokratie entfernt“, heißt es in der offiziellen Mitteilung zum Gutachten. Die ungarischen Bestimmungen basierten auf der Prämisse, dass homosexuelle und nicht-cisgeschlechtliche Lebensweisen nicht denselben Wert oder Status wie heteronormative hätten. Damit werde ein zentrales Gleichheitsprinzip der Europäischen Grundrechtecharta untergraben.

Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes sind gleichgeschlechtliche Paare sowie trans* und nicht-binäre Personen weitgehend aus öffentlich zugänglichen Medien, Werbung und Bildungsinhalten verbannt. Queer-bezogene Bücher dürfen nicht offen verkauft werden, insbesondere nicht in der Nähe von Schulen oder Kirchen; in Fernsehen und Werbung ist entsprechende Repräsentation nur noch außerhalb von „Kinderschutzzeiten“ erlaubt – ein Konzept, das Budapest aus dem EU-Recht zu medialem Jugendschutz abgeleitet wissen will.

Systematische Eskalation unter Beobachtung

Die Entwicklungen seit 2021 lassen sich jedoch kaum als bloße medienpolitische Maßnahme auslegen. Erst im März 2025 beschloss das ungarische Parlament ein faktisches Verbot von Pride-Veranstaltungen und gab der Polizei neue Befugnisse zur biometrischen Überwachung, etwa durch Gesichtserkennung zur Identifikation von Teilnehmern und Organisator*innen.

Diese Maßnahmen stehen nun auch im Fokus eines zweiten, unionsrechtlich relevanten Konfliktfeldes: Die neuen Vorschriften könnten gegen die im Aufbau befindliche KI-Verordnung der EU verstoßen, die Echtzeit-Gesichtserkennung im öffentlichen Raum grundsätzlich verbieten soll.

Politische Konfrontation statt Dialog

Kulturminister Balázs Hankó kommentierte das Gutachten auf der Plattform X (vormals Twitter) mit dem Vorwurf, „sexuelle Propaganda“ solle „über dem Kinderschutz stehen“. Man werde sich weiter gegen den „Angriff aus Brüssel“ wehren, unabhängig davon, wie viele Staaten sich der Klage der Kommission angeschlossen hätten.

Tatsächlich steht die ungarische Regierung in diesem Verfahren nicht allein gegen die Kommission: 15 Mitgliedstaaten sowie das Europäische Parlament unterstützen die Klage. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hatte bereits 2021 klargestellt, man werde „alle Mittel“ nutzen, um die Rechte der EU-Bürger zu verteidigen – „egal wer Sie sind und wo Sie leben.“

Ein endgültiges Urteil des EuGH könnte für Budapest finanzielle Sanktionen und politischen Druck nach sich ziehen – und würde ein zentrales Element von Orbáns konservativ-nationaler Kulturpolitik juristisch zu Fall bringen.


Quelle: Mathieu Pollet, Politico, 5. Juni 2025; Gutachten in Rechtssache C-769/22, Europäischer Gerichtshof, veröffentlicht am 6. Juni 2025 unter curia.europa.eu

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