„Der Dichter ist tot – es lebe sein Symbol.“ Mit diesem widersprüchlichen Satz könnte man die Geschichte von Sándor Petőfis „zweitem Leben“ beginnen: eine Erzählung, die weniger mit Poesie als mit kollektiver Erinnerungspolitik zu tun hat und dabei zum Fundament der modernen ungarischen Identitätsbildung wurde.
Petőfi – Der Dichter als öffentliche Figur
Die genauen Umstände von Petőfis Tod sind bis heute ungeklärt. Die letzte verlässliche Quelle stammt vom 31. Juli 1849 – dem Tag der Schlacht bei Segesvár. Danach verliert sich jede Spur. Der offizielle Standpunkt lautete: gefallen. Seine Leiche wurde nie gefunden. Und von diesem Moment an sprach nicht mehr der Dichter – sondern diejenigen, die über ihn zu sprechen begannen.
Der Tod als editorischer Akt
Petőfis Verschwinden wurde sofort politisch verwertbar. Für die habsburgische Restauration war das „Verschwundensein“ wesentlich nützlicher als ein Märtyrertod. Die österreichische Zensur bemühte sich, seinen Namen aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen – oder ihn zumindest auf das literarische Feld zu beschränken. Gleichzeitig begannen Emigranten, Lehrer und einfache Beamte, das Bild Petőfis als Symbolfigur zu rekonstruieren.
Zwischen 1850 und 1867 kursierten Dutzende handschriftlicher „Erinnerungen“: ehemalige Soldaten, Bauern, Studenten berichteten, wann und wo sie Petőfi zuletzt gesehen haben wollten. Die Berichte widersprachen sich, aber sie hatten eine klare Funktion: Sie ließen Hoffnung zu. Hoffnung, dass der Dichter überlebt habe – und damit auch die Sache, für die er kämpfte.
Die Stimme des Volkes
Diese Erzählungen entwickelten sich zu einer Art volkstümlicher Gegenpropaganda. Wenn der Dichter nicht tot war, dann war auch die Revolution nicht gescheitert – so die implizite Botschaft. In Volksliedern, Schenkenballaden und Kinderversen tauchte Petőfi immer wieder auf: „Man sah ihn an der Theiß, sein langer Schnurrbart wehte im Wind“ – so ein Reim aus dem Jahr 1852.
Die offizielle Literaturszene hingegen blieb vorsichtig. János Arany etwa schrieb 1851 das Gedicht Ich lege die Laute nieder, das auf einen „verstummten Freund“ anspielt – ohne Namen, aber mit klarer Anspielung. Die Leser verstanden, die Zensur schwieg. Es war eine Form des literarischen Schweigens mit Aussagekraft.
Offizieller Tod – offizielle Rolle
Nach dem Ausgleich von 1867 wurde Petőfi zunehmend zum Staatsdichter stilisiert. Um die Jahrhundertwende war er längst kein Rebell mehr, sondern ein Monument. Statuen, Gedenktafeln, Straßenumbenennungen folgten Schlag auf Schlag. Der Versuch von 1909, eine Leiche aus einem russischen Kriegsgefangenenlager bei Székelykeresztúr als „Petőfi“ zu identifizieren, zeigt die gesellschaftliche Sehnsucht nach der Wiederkunft der Ikone.
Im Horthy-System wurde Petőfi zur idealisierten Stimme des „ungarischen Volksgeistes“. Der revolutionäre Republikaner trat in den Hintergrund, an seine Stelle trat der Lehrer der Muttersprache, der „Seher“ nationaler Größe. Die Gedichte wurden Dekoration, die Poesie Lehrstoff.
Die sozialistische Relektüre
Während der kommunistischen Ära wurde Petőfi erneut aktualisiert – nun in marxistischer Auslegung. Der Dichter wurde zum Revolutionär, der Freiheitskampf zur Klassenauseinandersetzung, „Auf, Ungarn!“ zur Parole. Petőfi wurde in den Kanon der Arbeiterbewegung aufgenommen, seine Zitate zierten Plakate und Festzüge.
1956, während der ungarischen Revolution, wurde der sogenannte Petőfi-Kreis zum Zentrum intellektuellen Widerstands. Seine einst im Schulbuch versenkten Verse tauchten auf den Straßen wieder auf: „Wir werden keine Sklaven sein!“ – diesmal nicht als Literatur, sondern als Aufforderung.
Der postmoderne Petőfi
Nach dem Systemwechsel zerfiel auch der Petőfi-Mythos erneut. Für manche blieb er nationale Ikone, für andere ein radikaler Einzelgänger mit bürgerrechtlichem Ethos. Die Literaturwissenschaft bemühte sich, ihn aus dem politischen Schatten zurück in den poetischen Kontext zu holen – als Autor mit Entwicklung, Widersprüchen, Brüchen.
Doch eine Frage bleibt seit 1849 unbeantwortet: Wem gehört Petőfi eigentlich? Der Literatur? Der Nation? Der Macht? Der Revolte? Oder jedem, der sich seiner Stimme bedienen möchte?
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