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EU sucht Wege um nationales Vetorecht - Europapolitik

Brüssel/Budapest. Die Europäische Union rückt von einem lange unangetasteten Prinzip ab: dem Vetorecht der Mitgliedstaaten. Nicht durch Vertragsänderungen, sondern durch politische Praxis. Auslöser ist der Ukrainekrieg und die Erfahrung, dass einzelne Regierungen Entscheidungen systematisch blockieren können. Der jüngste Europäische Rat markiert keinen formalen Bruch, aber eine erkennbare Verschiebung.

Konkret geht es um die Finanzierung der Ukraine in den Jahren 2026 und 2027. Um die zugesagten rund 90 Milliarden Euro abzusichern, entschieden sich 24 Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Schuldenaufnahme im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit. Ungarn beteiligte sich nicht, ebenso wenig die Slowakei und Tschechien. Die Konstruktion liegt außerhalb des regulären EU-Haushalts, ist rechtlich vorgesehen und kommt ohne Einstimmigkeit aus. Formal ist niemand ausgeschlossen, politisch ist das Signal eindeutig.

Ein ähnliches Muster zeigt sich beim Umgang mit eingefrorenen russischen Vermögenswerten. Deren Sicherung wurde nicht mehr ausschließlich über das Sanktionsregime verlängert, das Einstimmigkeit verlangt, sondern auf Artikel 122 AEUV gestützt. Dieser erlaubt Mehrheitsentscheidungen in Krisensituationen. Juristisch ist das angreifbar, politisch jedoch bewusst gewählt. Die Union nutzt vorhandene Spielräume, statt Blockaden zu akzeptieren.

Ungarn als systemischer Blockierer

Im Zentrum dieser Entwicklung steht Ungarn. Nach Erhebungen des Politikwissenschaftlers Michal Ovádek wurden seit 2011 insgesamt 46 Vetos eingelegt, davon 19 durch Budapest. Betroffen waren vor allem außen- und sicherheitspolitische Fragen, häufig mit Bezug zur Ukraine. Die EU reagiert zunehmend, indem sie Erklärungen im Namen der EU-26 verabschiedet. Rechtlich ändert das nichts, politisch markiert es Isolation.

Auch neue Gesetzesinitiativen werden gezielt so entworfen, dass sie nicht mehr der Einstimmigkeit unterliegen. Der REPowerEU-Fahrplan, der den Ausstieg aus russischen fossilen Energieträgern bis 2027 regelt, ist dafür beispielhaft. Anders als frühere Öl- und Gassanktionen wird er als Energie- und Binnenmarktpolitik definiert. Die zentralen Rechtsakte sollen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Ungarn und die Slowakei haben angekündigt, dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen.

Der ungarische Völkerrechtler Tamás Lattmann sieht darin kein neues Vorgehen. Maßnahmen, die als Sanktionen nicht durchsetzbar wären, würden seit Jahren in andere Politikfelder verschoben, in denen die EU über weitergehende Kompetenzen verfügt. Rechtlich bewegt sich die Union damit in Grenzbereichen, politisch tritt sie entschlossener auf als früher.

Erosion der Einstimmigkeit

Parallel gewinnt das Konzept eines „Europa der Willigen“ an Gewicht. Staaten, die vorangehen wollen, tun dies gemeinsam, ohne auf alle zu warten. Dieses Prinzip ist der EU nicht fremd – Schengen und Eurozone beruhen darauf. Neu ist, dass es offen auf sicherheits- und geopolitische Kernfragen angewendet wird, einschließlich der Ukraine-Unterstützung.

Besonders heikel bleibt die Frage der Erweiterung. Der Beitrittsprozess erfordert weiterhin Einstimmigkeit. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán verhinderte im Dezember 2023 ein offenes Veto gegen den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine nur, indem er den Raum verließ. Seither blockiert Budapest die Eröffnung der Verhandlungskapitel. Vorschläge, die Verfahren zu ändern oder zu beschleunigen, scheiterten bislang. Die Kommission verweist auf die technische Bereitschaft der Ukraine – politisch bleibt der Prozess festgefahren.

Die Umgehungsstrategie birgt Risiken. Klagen vor dem EuGH könnten Erfolg haben, wenn auch erst nach Jahren. Zudem sehen kleinere Mitgliedstaaten im Vetorecht einen Schutz vor der Dominanz größerer Länder. Die schleichende Erosion könnte neue Spannungen in der EU erzeugen.

Spieltheoretisch verschiebt ein Vetorecht die Macht zugunsten von risikobereiten Playern mit unorthodoxen Strategien. Ungarn nutzt dieses Instrument konsequent: mit innenpolitischem populistischem Nutzen und wachsender Frustration bei den Partnern. Die Antwort der EU ist keine offene Konfrontation, sondern rechtliche Improvisation. Das Vetorecht bleibt formal bestehen, verliert an praktischer Wirkung.

Quellen: Euronews, Mti.hu
Photo: Orban und Fico beim EU-Gipfel in Brüssel, APA

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