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„Orbán begeht einen historischen Fehler“ – Zelenskyj kritisiert Ungarns Kurs und enttarnt Spionagenetz - Interview

In einem bedeutenden Interview mit Válasz Online erhebt der ukrainische Präsident schwere Vorwürfe gegen Viktor Orbán. Die Rede ist von Propaganda, geheimdienstlicher Einmischung in Transkarpatien – und einer Politik, die Putins Zielen in die Hände spielt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskyj hat sich nach über 1.200 Tagen Krieg erstmals gegenüber einem ungarischen Medium geäußert – und dabei in einer Deutlichkeit gesprochen, die keinen diplomatischen Spielraum lässt. Orbáns Politik sei „anti-ukrainisch“ und „anti-europäisch“, seine Regierung habe ein militärisches Spionagenetz auf ukrainischem Boden unterhalten. Die Vorwürfe wiegen schwer – nicht nur für Budapest, sondern auch für Brüssel.

Ein Präsident spricht Klartext

Es war nicht nur ein Interview. Was Válasz Online am 7. Juni 2025 veröffentlichte, war ein außenpolitischer Paukenschlag: Zum ersten Mal seit Beginn der großflächigen Invasion durch Russland spricht Wolodymyr Selenskyj exklusiv mit einem ungarischen Medium – und nutzt die Gelegenheit, um Viktor Orbán offen anzugreifen.

„Viktors Politik ist leider anti-ukrainisch. Und anti-europäisch. Er nutzt den Krieg in der Ukraine für seinen eigenen Wahlkampf. Das ist unehrlich.“

So die wörtliche Aussage des ukrainischen Präsidenten. Er äußert nicht nur Unverständnis über die diplomatische Nähe Orbáns zu Moskau, sondern wirft ihm zudem eine bewusste Verzerrung der Realität gegenüber der ungarischen Öffentlichkeit vor. Eine direkte Konsequenz sieht er in der wachsenden Feindseligkeit der ungarischen Gesellschaft gegenüber der Ukraine – eine Radikalisierung, die sich laut Selenskyj aus der Propaganda speist, mit der die Regierung in Budapest den Krieg nutzt, um innenpolitisch zu punkten.

Die Ungarische Minderheit im Zarkarpattia Oblast
Die Ungarische Minderheit im Zarkarpattia Oblast. Grafik: Wikipedia

Plakatpolitik als Provokation

Besonders deutlich wurde Selenskyj beim Thema Wahlkampagne: In Budapest hängen derzeit großflächige Plakate mit seinem Gesicht – versehen mit dem Spruch: „Sie würden die Ukraine in die EU aufnehmen – aber wir würden den Preis zahlen!“

„Ich habe ihm keine Erlaubnis gegeben, mein Bild für seinen Wahlkampf zu nutzen. Ich bin der Präsident eines anderen Landes. Es ist nicht richtig, mich für ungarische Innenpolitik zu verwenden.“

Dass dies geschieht, während in Kiew Wohnhäuser von russischen Raketen getroffen werden, während an der Grenze zur EU täglich Menschen sterben, hält Zelenskyj für eine moralische Entgleisung – und einen „historischen Fehler“.

Der tieferliegende Skandal: Spionage in Transkarpatien

Im Zentrum des Interviews steht allerdings ein Thema, das bisher weitgehend hinter verschlossenen Türen behandelt wurde: Die Affäre um mutmaßliche ungarische Spione in Transkarpatien. Die Vorwürfe Selenskyjs gegenüber dem ungarischen Militärgeheimdienst KNBSZ sind brisant:

  • Seit 2021 habe der Dienst ein Netz in der Westukraine aufgebaut,
  • im März 2025 fand der letzte nachweisliche Informationsfluss statt,
  • es ging unter anderem um Standorte ukrainischer Flugabwehrsysteme (S‑300),
  • und um die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber einer hypothetischen ungarischen „Friedensmission“.

„Wir haben alles in unserem Besitz – Fotos, Videos, Zahlungsnachweise. Die Liste der Fragen auf den Mobiltelefonen der Agenten ist eindeutig.“

Die ukrainische Führung hat eigenen Angaben zufolge zuvor mehrfach derartige Vorfälle still behandelt, um die bilateralen Beziehungen nicht zu gefährden. Doch diesmal sei der Schritt in die Öffentlichkeit bewusst gewählt worden – als politische Botschaft.

Einflusspolitik unter dem Deckmantel des Minderheitenschutzes?

Die Region Transkarpatien mit ihrer rund 150.000 Personen umfassenden ungarischen Minderheit steht seit Jahren im Fokus budapester Außenpolitik. Kritiker sprechen von einer „Passportisierung“: illegal ausgestellte ungarische Staatsbürgerschaften, unkontrollierte Förderprogramme, und – wie nun offenbar – geheimdienstliche Operationen auf fremdem Boden. Laut Kiew wurde diese Politik seit Kriegsbeginn keineswegs eingestellt – sondern professionalisiert.

Dass Kiew die Affäre nun eskaliert, ist auch als Warnung an Brüssel zu verstehen. Denn während Budapest beteuert, lediglich kulturelle Beziehungen zu fördern, wertet die Ukraine die ungarische Einflussnahme zunehmend als hybride Intervention.

NATO und EU unter Zugzwang

In seinem Gespräch betont Selenskyj mehrfach, dass die internationale Gemeinschaft – und damit auch Ungarn – die Pflicht habe, den russischen Angriffskrieg nicht indirekt zu legitimieren:

„Wenn jemand denkt, dass ihn der Krieg nicht betrifft, weil er gute Beziehungen zu Putin pflegt, täuscht er sich. Frieden wird es nur durch Stärke geben.“

Selenskyj fordert von Europa und den USA nicht nur Sanktionen, sondern auch die Rückkehr zu einer prinzipiengeleiteten Außenpolitik. Orbán hingegen wolle die Zeit „aussitzen“ – in der Hoffnung, dass mit einem neuen US-Präsidenten auch ein neuer Kurs gegenüber Moskau möglich sei. Dieses Kalkül hält Selenskyj für gefährlich – und letztlich naiv:

„Er glaubt, er kann durch Öl- und Gasdeals gewinnen. Aber ich bin überzeugt: Er wird verlieren.“

Fazit – Kein Spielraum mehr für Taktieren

Selenskyjs Worte markieren einen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Kiew und Budapest. Was einst als diplomatische Verstimmung galt, ist nun zur offenen Konfrontation geworden – mit Vorwürfen von Wahlkampfanmaßung, Fehlinformation, Spionage. Die Zeiten der stillen Noten sind vorbei.

Ungarns Regierung wird sich entscheiden müssen: Will sie als konstruktiver EU‑Partner auftreten – oder weiter als Sonderfall am östlichen Rand der Union agieren? Die Ukraine ihrerseits hat unmissverständlich klargestellt, dass sie bereit ist, die Öffentlichkeit zu nutzen, um sich zu verteidigen – auch gegen Partner, die zu viel Verständnis für Moskau zeigen.

Zeitleiste der mutmaßlichen Spionage

DatumEreignis
Frühjahr 2021Beginn des mutmaßlichen Aufbaus eines geheimdienstlichen Netzwerks durch den ungarischen Militärnachrichtendienst KNBSZ in Transkarpatien, laut Angaben des ukrainischen SBU.
2022Russische Invasion der Ukraine; KNBSZ-Aktivitäten verlaufen im Verborgenen weiter. Gleichzeitig dokumentiert die Ukraine verstärkte Passportisierung ethnischer Ungarn in der Region.
Frühjahr 2023Berichte ukrainischer Regionalverwaltungen über koordinierte „kulturelle Programme“ aus Budapest mit politischem Subtext – keine offizielle Reaktion aus Kiew oder Brüssel.
Sommer 2024Erste Hinweise auf gezielte Ausforschung militärischer Infrastruktur durch verdeckte Quellen in Transkarpatien.
März 2025Letzter dokumentierter Datentransfer eines KNBSZ-Agenten an ungarische Kontaktpersonen – laut SBU ging es u.a. um Standorte ukrainischer Luftabwehrsysteme (S-300).
Mai 2025Öffentliche Bekanntmachung des Spionagefalls durch den ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU. Festnahmen, Verhöre, Beweissicherung.
Juni 2025Präsident Selenskyj bestätigt im Interview mit Válasz Online den Umfang und die Brisanz der Operation: „Wir haben alles in unserem Besitz.“ Androhung weiterer Veröffentlichungen.

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