Budapest. Mit einer brachialen Generalabrechnung reagiert Ministerpräsident Viktor Orbán auf die Affäre um mutmaßlichen Schutz von Kindesmisshandlungen durch zwei Regierungsmitglieder im sogenannten „Szőlő utca“-Fall. In einem inszenierten Interview beim regierungstreuen Podcast Fight Hour spricht Orbán von einem „Blutlügen“-Angriff auf den Staat, konstruiert eine Verschwörung ausländischer Geheimdienste und droht mit rechtlichen Konsequenzen gegen Medien und Opposition.
Was steckt hinter dem „Szőlő utca“-Skandal?
Im Zentrum des Skandals steht ein mutmaßlicher Kindesmissbrauchsfall in einem staatlichen Kinderheim in der Szőlő utca in Budapest, bei dem zwei Regierungsmitglieder beschuldigt worden sein sollen, an Straftaten beteiligt gewesen zu sein oder diese gedeckt zu haben. Die Details sind bislang unklar, öffentlich gemacht wurden die Vorwürfe durch investigative Quellen und oppositionelle Politiker, unter anderem Péter Magyar, Ex-Staatsbeamter und Gründer der TISZA-Partei, sowie Klára Dobrev (DK).
Die Regierung reagierte zunächst ausweichend – bis nun Orbán selbst das Ruder übernahm von einem orchestrierten Staatsstreich spricht.
„Blutlüge“ und „geopolitische Intrige“
Orbán bezeichnete die Vorwürfe wörtlich als Blutlüge, ein historisch hochbelasteter Begriff mit antisemitischer Konnotation, den er in den Kontext einer „Attacke auf den Staat“ einordnete. Vizepremier Zsolt Semjén habe „richtig gehandelt“, indem er den Fall öffentlich gemacht und sich den Vorwürfen gestellt habe.
„Wenn Regierungsmitglieder einer solch schweren Straftat beschuldigt werden und sich die Vorwürfe bestätigen sollten, muss die gesamte Regierung zurücktreten“, sagte Orbán – um gleich darauf zu betonen, dass die Anschuldigungen erlogen seien und strafrechtlich verfolgt würden.
In einer Mischung aus Selbstviktimisierung und autoritärem Kontrollanspruch unterstellte Orbán ein koordiniertes Vorgehen der Opposition, westlicher Medien und ausländischer Dienste. Also keine neue Strategie. Insbesondere die Rolle von Péter Magyar sei „von Brüssel gesteuert“, die Kampagne erinnere an vergangene „fremdbestimmte Führer“ Ungarns. Ein Vergleich, bei dem Orbán schamlos Mihály Károlyi, Ferenc Szálasi und Mátyás Rákosi nannte.
Medien, Justiz, Opposition – Orbáns Feindbilder
Der Premierchef attackierte nicht nur Oppositionspolitiker scharf, sondern auch investigative Medien, die über den Fall berichtet hatten – sie hätten sich „wissentlich an Straftaten beteiligt“. Gleichzeitig mahnte er Gesetzesverschärfungen an, um Polizei und Behörden bei der Aufklärung „sensibler Fälle“ zu unterstützen, was Beobachter als geplante Einschränkung medienrechtlicher oder juristischer Standards deuten.
Ungefragt diffamierte er den unabhängigen Abgeordneten Ákos Hadházy als „armseligen Halbnarren“, ließ sich über die „verrückte Opposition“ aus und malte ein düsteres Bild einer entgrenzten digitalen Öffentlichkeit, die „von Wahnsinnigen“ dominiert werde.
„wir sind 70% damit fertig Ungarn wieder großartig (make Hungary Great Again) zu machen.“
Ukraine, Krieg, Energie – bekannter Rundumschlag
Orbáns außenpolitischer Exkurs wiederholte altbekannte Narrative: Der Krieg in der Ukraine sei „militärisch entschieden“, Russland habe gewonnen, der Westen wolle das Land nur unter sich aufteilen. Ungarn selbst sei nicht in Gefahr, russische Drohnen seien „keine Bedrohung“, die Energieversorgung aus Russland „gesichert“ und westliche Alternativen „unsicher und teuer“.
„Wer Öl und Gas teurer kauft, muss die Bevölkerung mehr belasten – das machen nur Narren oder Verräter“, so Orbán.
Sein Draht zu Donald Trump sei intakt – dieser habe „verstanden“, warum Ungarn an russischer Energie festhalte. Die Rolle der USA im Krieg sei rein interessengesteuert, und Europa müsse sich entscheiden, ob es mitreden oder verlieren wolle.
Größenwahn und Kontrollverlust
Orbáns Auftritt ist ein selten offenes Eingeständnis politischer Nervosität. Weniger als ein Jahr vor der Parlamentswahl 2026 deutet vieles darauf hin, dass sich die Machtbasis des Fidesz-Regimes erodiert. Die Popularität der neuen TISZA-Partei, zunehmender Druck internationaler Institutionen und ein nicht mehr kontrollierbarer öffentlicher Diskurs im Internet setzen die Regierung unter Zugzwang.
Wenn der Regierungschef im Stil eines Verschwörungstheoretikers öffentlich von einer „systemischen Attacke“ durch Opposition, Medien und Ausland spricht, kann man fast nur mehr ungläubig den Kopf schütteln. Noch einmal will Orbán den Spieß umdrehen, Deutungshoheit zurückgewinnen, den öffentlichen Diskurs vergiften.
Doch in der Sache bleibt der Skandal bestehen und die eigentlich zentrale Frage: Wer schützt in Orbáns Ungarn eigentlich die Schwächsten?
Quellen: MTI.hu
Photo: Facebookseite von Viktor Orbán
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