Neue Recherchen von Bloomberg verdichten Hinweise auf Orbáns strategischen Blick zum Sándor-Palast – und werfen ein neues Licht auf die Verfassungsänderung, über die wir gestern berichteten.
Budapest. Ministerpräsident Viktor Orbán erwägt laut Bloomberg, nach der Wahl in das Präsidentenamt zu wechseln und dessen Kompetenzen massiv auszubauen. Damit erhielte er ein Machtzentrum jenseits parlamentarischer Mehrheiten. Die gestern verabschiedete Gesetzesänderung, die dem Parlament die Enthebung des Staatsoberhaupts faktisch entzieht und diese Entscheidung dem von Peter Polt geführten Verfassungsgericht überträgt, erscheint vor diesem Hintergrund nicht mehr als technisches Detail – sondern als vorbereitende Statik eines möglichen Systemwechsels.
Seit Wochen kursieren in Budapest Gerüchte, nun werden sie durch Bloomberg erstmals in einen kohärenten Rahmen gestellt. Demnach prüft Orbán ernsthaft, den bislang repräsentativen Präsidentenposten in ein machtpolitisches Schaltzentrum zu verwandeln – notfalls vor den Wahlen, solange Fidesz noch über eine verfassungsändernde Mehrheit verfügt.
Auslöser der Debatte war Orbáns kryptische Bemerkung nach seinem Treffen mit Donald Trump im November, die Einführung eines Präsidialsystems liege „immer auf dem Tisch“. Die Absetzung des Präsidenten ist künftig nur nach Bestätigung durch das Verfassungsgericht möglich – ein Gericht, das seit Dezember von Peter Polt geführt wird, Orbáns treuestem Weggefährten im Staatsapparat.
Ein Rettungsring für den fall dass sich die Machtverhältnisse verschieben. Fidesz steht laut mehreren Umfragen vor der realen Möglichkeit, im April 2026 erstmals seit 2010 die Mehrheit zu verlieren. Péter Magyars Tisza-Partei hat sich als ernstzunehmende Alternative etabliert, und das System Orbán reagiert nervös: Die Rotation von Amtsträgern, die Installation neuer Loyalisten auf Schlüsselposten und die Festlegung langer Amtszeiten erlauben es, institutionelle Schwerpunkte über die eigene Regierungszeit hinaus festzuschreiben.
Drohende Wahlniederlage
Bloomberg beschreibt nun ein mögliches Endspiel dieses Prozesses: Orbán könnte – sei es nach einer Wahlniederlage, sei es zur Vorbereitung eines geordneten Rückzugs – ins Präsidentenamt wechseln, während ein Vertrauter wie János Lázár das Tagesgeschäft eines formell parlamentarischen Regierungssystems übernimmt. In einem umgebauten Präsidialsystem könnte Orbán Vetomacht ausüben, die Außenpolitik bestimmen und eine oppositionelle Regierung blockieren. Das Verfassungsgericht würde, wie das neue Gesetz zeigt, die letzte juristische Absicherung liefern.
Die Zeitschiene ist eng. Soll der Präsident künftig mehr sein als ein Protokollträger, müssten die Regeln noch vor dem Wahltermin geändert werden. Dazu müsste der amtierende Präsident Tamás Sulyok – selbst ein Fidesz-naher Funktionsträger, der erst 2024 ins Amt gehoben wurde – vorzeitig zurücktreten. Für Sulyok wäre dies politisch riskant, doch für die Parteiführung nicht untypisch: Loyalität ist die Währung des Systems.
Die Tisza-Partei hält dieses Szenario für möglich, wenn auch nicht für wahrscheinlich. Auch ihre Quellen sprechen von „möglichen verfassungsrechtlichen Überraschungen“ und verweisen auf Vergleiche mit Russland und der Türkei, wo Staatspräsident und Regierungschef ihre Rollen mehrfach tauschten, um verfassungsrechtliche Begrenzungen zu umgehen.
Hinzu kommt die internationale Lage, die Orbán auffallend günstig bewertet. In Europa ist die Aufmerksamkeit erschöpft, Washington bewegt sich in einem geopolitischen Zwielicht, und Trump erklärte Orbán bereits zum „great leader“. Die EU hat sich selbst entwaffnet: Die Blockade von Fördermitteln gegenüber Budapest brachte kaum Wirkung, stattdessen hat sich Orbán seit 2022 weiter nach Moskau und Peking orientiert.
Präsidialsystem Orbán
Ein verfassungsrechtlich aufgewertetes Präsidentenamt würde diesen Kurs fixieren – selbst wenn eine neue Regierung im Parlament eine andere Politik verfolgen möchte.
Die Entscheidung über die Amtsenthebung des Präsidenten wird von der politischen Arena in ein Organ verlagert, das seit Jahren im Sinne der Regierung operiert. Das angebliche Ziel, „rechtliche Verwirrung“ zu vermeiden ist, wie die Semantik nahelegt, ein Vorwand.
Ein Präsidialsystem nach Orbáns Vorstellungen wäre nicht die Fortsetzung des bisherigen Modells, sondern dessen Überhöhung: Eine Präsidentschaft, die autoritätssichernde Funktionen bündelt, außenpolitische Signale setzt und innenpolitische Bremskraft entfaltet.
Die Frage ist daher nicht mehr, ob Fidesz demnächst Veränderungen plant – sondern wie tief sie greifen sollen. In Budapest ist zu hören, die Regierung habe die Umfragen gelesen und die Risiken erkannt. Ein System, das über eine Wahl hinweg konserviert werden soll, braucht eine neue Spitze, nicht nur eine neue Strategie. Orbán scheint dafür bereit.
Quellen: Bloomberg, MTI.hu
Photo: Viktor Orbán via Facebook





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